Tichys Einblick
Medienschau

Der deutsche Journalismus erscheint überfordert mit der Zeitenwende

Längst ist die deutsche Öffentlichkeit von der notwendigen Inspektion der eigenen Verteidigungsbereitschaft auf das Terrain der gegenseitigen Schuldzuweisungen gewechselt. Und fast könnte man auf die Idee kommen, dass die jahrelang propagierte deutsche Friedfertigkeit vorgetäuscht war.

Zeitenwende in Osteuropa, in der Verteidigungspolitik und in der Seele mancher deutscher Politiker. Leider steht zu befürchten, dass man in Moskau trotz aller Rückschläge und Verluste spöttische Blicke auf Berlin richtet, wo man einst noch mächtige Gegner verortet hatte. Denn hier graut kein neuer Tag ohne ein vielstimmiges Gekrähe, hörbar mit den gewendeten Zeiten überfordert.

Liefern statt Leisten

Längst ist man von der eigentlich notwendigen Inspektion der eigenen Verteidigungsbereitschaft auf das viel angenehmere, weil bekannte Terrain der gegenseitigen Schuldzuweisungen, des Gezerres um Zahlen und Summen gewechselt. Es wird mit schweren Waffen jongliert, die man, so hat es den Anschein, zum eigenen Erstaunen plötzlich aus irgendwelchen staubigen Depots (hier zeigt die Rheinische Post-online eine Lagerhalle in Schleswig-Holstein) zaubert. Fast könnte man auf die Idee kommen, dass die jahrelang propagierte deutsche Friedfertigkeit nur vorgetäuscht war und heimlich Waffen gehamstert wurden. Dutzende Kettenfahrzeuge aus DDR-Beständen, Hunderte eingelagerte Panzer und Haubitzen werden wild sortiert, obschon Hunderte über Jahre fleißig verschrottet wurden (Bericht in der Welt 2014).

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Man hat den Eindruck, als wüsste selbst das Verteidigungsministerium nicht, wie viele einsatzfähige Waffensysteme die deutschen Streitkräfte noch auf der Hinterhand haben, geschweige denn, wer die dazugehörige Munition produziert oder wo die gelagert ist. Kombiniert wird das Waffengeklimper mit dem Bemühen, der staunenden Öffentlichkeit zu erklären, was denn die einzelnen Fundstücke trotz deren Alters noch in der Lage sind anzurichten. Kein Betrachter findet sich mehr in dem Dickicht aus täglich wechselnden Verlautbarungen und neuen Anträgen zurecht, wer nun was, wann, warum aus der Waffenkammer bekommen soll, bzw. eben nicht.
Watschenmann und Prügelmädchen

Das Hintergrundgeräusch zu dem lautstarken Gekrame in der militärischen Mottenkiste macht die Waschmaschine, in der sich die schmutzigen Sachen der Ära Merkel und Schröder drehen. Auf Gerd „Hol-mir-mal’n-Bier“ darf in voller Inbrunst eingedroschen werden, dass die Fetzen nur so fliegen. Endlich mal einer, der es wirklich verdient hat und auch noch meint, halsstarrig zu werden. Fast bekommt man Mitleid mit dem „Altkanzler“, der bald wohl so nicht mehr genannt werden darf und dem man nicht müde wird zu schwören, dass man ihm demnächst „Privilegien, Ruhegehalt, Zuwendungen, Annehmlichkeiten, Bezüge, Büros, Mitarbeiterstellen, Auszeichnungen, Ehrenmitgliedschaften… usw…usw.“ streichen werde. Aber, man lese und staune, auch Angela Merkel gerät zusehends in die Kritik. Selbst ihr Kanzlerinnenbüro traut sich FDP-Mann Kubicki ins Visier zu nehmen.

Sie habe „gewusst, wie Putin tickt“, schreibt der MDR. Und als „oberster Regierungschef die Verantwortung für diese Zeit gehabt … und diese nicht wirklich erfüllt … am Ende ist die Bilanz ihrer Ostpolitik eine reine Katastrophe.“ „Was hat sie uns hinterlassen?“ stimmt selbst die Zeit eine Klage an. Und der Tagespiegel stellt eine ganze Reihe provokanter Fragen: Wer hat doch gleich Deutschland 16 Jahre regiert? Wer hatte in der Bundesregierung über diese lange, lange Zeit die Richtlinienkompetenz inne? Für den Fall, dass es der eine oder die andere vergessen haben sollte: Angela Merkel hieß die Bundeskanzlerin. Wer war Kanzlerin, als Russland in Georgien Krieg führte (2008)? … als Russland die Krim annektierte (2014)? … als Nord Stream 2 zum privatwirtschaftlichen Projekt erklärt und ins Werk gesetzt wurde? Wer hat überhaupt Mal um Mal mit Russlands Präsident Wladimir Putin gesprochen und verhandelt, notfalls auf Russisch? Wer galt weltweit als die eigentliche Putin-Versteherin? Angela Merkel.

Neues Maischberger-Format
Bei Maischberger trifft ausgerechnet Waldi Hartmann zu Ukraine-Waffenlieferungen den Punkt
Die Süddeutsche Zeitung borgt sich reißerisch einen Spruch bei John Irving und fragt nach „Putins Schuld und Merkels Beitrag“. Ursula Weidenfeld entschuldigt bei t-online die Ex-Kanzlerin zwar zunächst damit, dass die „nach der Finanz-, Euro-, Migrations- nun die Corona-Krise auf dem Stundenplan“ gehabt habe, und das große energiepolitische Projekt der „Atomausstieg und der Ausbau der Erneuerbaren“ gewesen sei … alle weiteren Entscheidungen hätten da „wie eine Nebensache“ gewirkt. Trotzdem gibt sie, etwas gewunden, zu: „Ein ehemaliger Kanzler wird zu Recht kritisiert und beargwöhnt, wenn er sich als Lobbyist eines Landes verdingt, das bei seinen Nachbarn einmarschiert, Dissidenten skrupellos umbringt, Menschenrechte missachtet. Was aber ist mit politischen Fehlern, die aus einer zu optimistischen Einschätzung der Lage rühren? Sie sind noch schwieriger auszuhalten. Denn sie wirken nicht weniger verheerend.“ Doch der politische Selbstreinigungsmechanismus – Bestrafungen, Sanktionen, Parteibuchentzug – stünden für sie (hier ist wohl Angela Merkel gemeint) nicht zur Verfügung.
Logopädiestunden für Friedensbewegte

Die Deutschen sollen plötzlich wieder mit ihrem Militär „warm“ werden, aber bevor wieder wie selbstverständlich Kampfpanzer in deutschen Krimis auffahren können (Der „Alte“, Folge 86, Leopard stoppt Entführer), muss man erst mal wieder die Begriffe büffeln. Der Kölner Stadtanzeiger bemerkt belustigt, dass „die Bundeswehr bei ihren Panzern auf Tiernamen setze“ – der Schützenpanzer Marder zum Beispiel heiße wie „das Raubtier, das sich durch Gegenstände wie Kabel oder Dachisolierungen beißen kann“.

Werbung ja, aber bitte nicht wie 2011 als „Ballerspiel“ mit satter Rockmusik (n-tv) …Zitat aus dem Artikel über den damals vehement kritisierten Werbefilm: „In schnellen Schnitten marschieren schwerbewaffnete Soldaten durchs Bild. Harte Gitarrenriffs begleiten die Bilder – unterbrochen von Samples der deutschen Nationalhymne.“ Der Sender stellt deshalb erstmal vorsichtshalber nur eine ellenlange Fotoserie über das, was er den „Fuhrpark der Bundeswehr“ nennt, online. Deren Auftrag (Landes- und Bürgerschutz) sei ja „nicht ohne“. Der recht beliebte Wolf GL von Mercedes zum Beispiel biete der Truppe „Fahrspaß im Gelände“.

Und aus der runden Luke von MAN Transportlastwagen heraus lasse sich „friedlich winkend der Fahrtwind genießen“, aber man räumt ein, dass es in Afghanistan etwa „schmerzhafte Erfahrungen mit Minen, Hinterhalten und improvisierten Sprengeinrichtungen“ gegeben habe, wonach ein „demokratischer Dienstherr wegen der zentralen Rolle des Schutzes der Besatzung“ wohl habe nachrüsten müssen. Im schweren Transporter „Dingo“ zum Beispiel würden „eine Klimaanlage, GPS, Standheizung, Reifendruckregelanlage, ABS, Rückblickkamera, Navi und Aussensprechanlage“ warten … er passe „in Transportflugzeuge wie den A400 oder die Transall“ – schade nur, dass die Luftwaffe ihre letzten Transall 2021 außer Dienst gestellt hat.

Der Dingo jedenfalls, so n-tv weiter im Plauderton, verwandle sich „für die Soldaten auf langen Patrouillenfahrten im Afghanistanalltag in so eine Art bewaffnetes Wohnmobil“. Für den Großteil der Truppe gebe es außerdem den „mit Abstand beliebtesten Radpanzer Fuchs … einen amphibischen, leicht gepanzerten Gefechtsfeld-Bus“. Wo n-tv meint, virtuell in einem Bildband die deutschen Arsenale zu paradieren, darf die SPD-Wehrbeauftragte Eva Högl bei t-online schildern, dass man jetzt „auch die mittleren und älteren Jahrgänge“ bis ins stattliche Alter von 65 „alle brauchen“ könne.

Die Beauftragte, so t-online, rechne im Interview „mit dem radikalen Pazifismus ab“. Ob denn die Jugend keine Lust mehr habe, für dieses oder ein verbündetes Land die Haut zu riskieren? Högl: Doch, die Jugend hat grundsätzlich eine hohe Motivation, sich für unser Land zu engagieren. Der Krieg in der Ukraine habe das „noch einmal verstärkt … seitdem wollen viel mehr Menschen in die Bundeswehr gehen und mithelfen, Frieden und Freiheit zu verteidigen … das Problem in den vergangenen Jahren sei nicht der mangelnde Respekt (vor der Bundeswehr), sondern Desinteresse“. Was sich aber laut der Beauftragten schon in der Corona-Pandemie und beim Hochwasser im vergangenen Sommer geändert habe, weil die Menschen gesehen haben, wie die Bundeswehr dort Amtshilfe leistete. Um die Jungen zu erreichen „braucht es eine peppige Jugendsprache, bei den Mittelalten muss man eher auf die Fähigkeiten abzielen“.

Pleiten, Pech und Pannen: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD), so t-online, sei umstritten, so sei sie am Morgen nach Kriegsbeginn in der Ukraine „als Erstes zur Maniküre gegangen“. Solcherlei Stilkritik lässt das ZDF Dr. Georg Löfflmann, Dozent für War Studies an der Universität Warwick, kurz und knapp fomulieren: „Ich liebe unsere konsequente und logische Politik. Wir sind von ‚die sind zu doof für den Marder‘ umgeschwenkt auf ‚hier radargeleitete Flugabwehrkanonenpanzer bitte schön‘.“

Aus #notmypresident wird #notmyCountry
Leben mit dem Krieg – kann Deutschland das?
Der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Johann Wadephul, sieht jedenfalls im Interview beim Deutschlandfunk keine Gründe, schon gar nicht den eines dann drohenden Atomschlags, der Ukraine die Lieferung bei der Industrie vorrätigen Panzern usw. vorzuenthalten, denn die Niederlande, Frankreich, die USA würden ja auch liefern. „Provozieren die jetzt einen Atomkrieg? … Wie kommen wir eigentlich zu der Vorstellung, dass gerade die Lieferung deutscher Waffen nun einen Atomkrieg provozieren soll?“ Er frage sich, „wie glaubwürdig unsere Abschreckung im Baltikum ist … Was machen wir denn, wenn die Russen in Estland, was weiß ich, zwei Quadratkilometer Birkenwald erobern? Sagen wir dann, oh, wir haben Angst vor dem Atomkrieg, das können wir nicht einschätzen? Das stellt im Kern unsere gesamte Abschreckung in Frage.“

Ulrich Reitz vom Focus stimmt mit der „schonunglos ehrlichen“ Außenministerin Baerbock einen Abgesang auf den „alten … SPD-“ Pazifismus an: Pazifistisch, das wäre, die linke Wange hinzuhalten. Pazifistisch wäre, friedensbewegt zu sagen, „lieber rot als tot“. Pazifistisch wäre, der Ukraine nahezulegen, vor den russischen Angriffskriegern zu kapitulieren. Pazifistisch wäre, „Frieden schaffen ohne Waffen“ zu fordern, wie die Friedensbewegung es rät, aus denen die Grünen hervorgingen. „Nichts davon kommt Baerbock in den Sinn.“ Jetzt, so Reitz, werde man, da es laut Außenministerin „keine Ausreden mehr gebe“, es riskieren, Waffen „wie diese ganzen ‚Tier‘-Panzer…“ zu liefern.

Für Reitz ist das, was für „empfindliche Gemüter, gern Ausrüstung genannt wird“ eigentlich eine Aufrüstung, und Europas Freiheit, das sei die Botschaft der Grünen, „wird nun auch in der Ukraine verteidigt. Mit Waffen. Und mit Gewalt.“ Auf die Frage, ob Deutschland mit den Waffenlieferungen an die Ukraine einen Atomkrieg riskiert, habe der grüne Vordenker Ralf Fücks so geantwortet: „Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn Putin gewinnt, ist Feuer unterm europäischen Dach.“

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