Es war einmal ein Reich, in dem fast alle wohlmeinenden empfindsamen westlichen Städter besonders gern wohnten, eigentlich noch lieber als in ihren Altbauquartieren, die sie manchmal in viele sehr kleine Wohngemeinschaften aufteilen müssen, weil ihre Beschäftigungen mit der Gesellschaft oft nicht nach ihrem inneren Wert entlohnt werden.
In dem schönen Reich gab es im Grunde keine Statusprobleme. Jeder konnte dort seine Zelle bewohnen und mit etwas Fleiß und Glück allmählich ausbauen. Manchen behagte es dort so sehr, dass sie gar nicht mehr nach draußen gehen wollten. Dieses Reich nannte sich Twitter. So heißt es zwar immer noch. Aber das, was für sehr viele seiner Bewohner den größten Reiz ausmachte, nämlich die Gewissheit, einer umfassenden Gemeinschaft anzugehören, die sich zwar horizontal nicht ganz ungestört ausbreiten konnte – es gibt selbst bei Twitter Feinde – , die aber vertikal eine große Einheit bildete, von den unterbezahlten Verlagspraktikanten über normalentlohnte Journalisten, Mitarbeiter großer Organisationen und politische Mandatsträger bis zu Twitterchef Jack Dorsey, der über das gesamte Reich herrschte, dieser Reiz endete im April des Jahres 2022 von einem Tag auf den anderen.
Diejenigen, die in ihrer analogen Existenz nur über bescheidene Mittel verfügten und bis jetzt einen großen Trost daraus zogen, die oben skizzierte virtuelle Gemeinschaft zu bilden, erleben jetzt, dass jemand an die Spitze dieser Vertikale treten will, der reich ist wie Jeff Bezos, Bill Gates und Jack Dorsey, sogar noch etwas reicher, der aber gerade zur Meinungsfreiheit und anderen Katechismusfragen des Progressivpriestertums Ansichten vertritt, die kein empfindsamer Städter zwischen Seattle und Wien gutheißen kann. Mit Elon Musk möchte also kein anständiger Twitterreichsbewohner etwas zu tun haben. Andererseits will auch niemand von ihnen Twitter verlassen. Denn die einen, die der Plattform eine gewisse Bekanntheit verdanken, möchten ihr akkumuliertes Aufmerksamkeitskapital nicht einfach so liquidieren. Bei Twitter wohnen außerdem, siehe oben, nicht nur Gebührenmillionäre, die neben ihrer Zuarbeit fürs ZDF noch ein bisschen Reichweite brauchen. Die Plattform dient bisher vor allem als Opium fürs schlechtbezahlte Irgendwasmitmedien- und NGO-Unterlingsvolk. Wer zu dieser Gruppe gehört, kann es sich schon psychosozial gar nicht leisten, in seiner Friedrichshainer WG plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen zu werden.
Marschiert mit Elon Musk demnächst der Antiwokist persönlich in der Twitterzentrale ein, dann gilt deshalb für alle oben beschriebenen Reichsbewohner von Jan Böhmermann bis zum letzten Studierenden der Kritischen Rassentheorie der schöne Satz von Annie Lennox: „They could not live together / and they could not live apart“.
Das klingt nach Stoff für ein langes Drama in mehr als fünf Akten.
Im allerersten Akt ging es den Wohlmeinenden in den USA erst einmal um die Skandalisierung des Reichtums von Musk und seiner Entscheidung, ein bescheidenes Stück von 44 Milliarden Dollar davon für Twitter auszugeben. Der Bayerische Rundfunk, eine Anstalt, die wie etliche andere deutschen Medien die Stichworte aus den USA kopierte, erklärte seinem Publikum, was Elon Musk mit seinem Geld stattdessen hätte anstellen sollen. „Der reichste Troll der Welt will Twitter kaufen“, heißt es dort: „Laut Studien könnte man mit 14 Milliarden den Welthunger bis 2030 stillen.“ Ach auf anderen Kanälen, Twitter eingeschlossen, erklärten andere Wohlmeinende im Sing-Along-Stil den Unterschied zwischen moralischer und unmoralischer Verwendung von privatem Geld.
Das soll an dieser Stelle zu einer kleinen Abschweifung führen. Wie sehr oft bei Mitteilungen der umstrittenen Plattform ARD stimmt in der Behauptung des BR nicht einmal die Hälfte. Erstens stammt die Zahl der 14 Milliarden Dollar nicht aus Studien im Plural, sondern aus einer einzigen Berechnung nach nicht ganz deutlichen Kriterien, vorgenommen von Mitarbeitern der Cornell University und anderen Institutionen im Auftrag von Ceres2030, einer Organisation, die vom deutschen Entwicklungshilfeministerium und der Bill-und Melinda-Gates-Stiftung finanziert wird. In der Berechnung spielen Faktoren keine Rolle, die sich mit Geld nicht so einfach beseitigen lassen, etwa der Einsatz von Hunger als Waffe bei Kriegen und Bürgerkriegen in Afrika, beispielsweise in Äthiopien, oder Unterernährung durch kommunistische Misswirtschaft wie in Nordkorea. Abgesehen davon geht es in der Berechnung um 14 Milliarden Dollar zusätzlich pro Jahr bis 2030; da die Untersuchung aus dem Jahr 2020 stammt, handelt es sich also um 140 Milliarden Dollar zur Hungerbekämpfung, die bestehende Programme aufstocken sollen.
Insofern waren die Kommentare der feindseligen Twitternutzer etwas voreilig, dann könnte doch der öffentlich-rechtliche Rundfunk Deutschlands allein mit einer nur etwa achtzehnmonatigen Sendepause den Welthunger besiegen. Aber eine zehnjährige Funkstille und die Abführung der jährlichen 8 Milliarden Euro in einen großen Hungerbekämpfungstopf würde immerhin mehr als die Hälfte zur Problemlösung beitragen, vorausgesetzt, die Kalkulation für die Ceres2030 wäre stichhaltig. Das deutsche Entwicklungsministerium verfügte 2021 über einen Etat von 12,43 Milliarden Euro, wovon nach eigenen Angaben 874 Millionen Euro oder 7 Prozent in die Ernährungssicherung flossen. Ließe sich Hunger nur mit mehr Geld besiegen, könnten ARD, ZDF und Bundesregierung das Problem tatsächlich durch Umverteilung der Mittel ganz allein lösen. Außerdem beläuft sich das Vermögen von Bill und Melinda Gates – durch die Scheidung neu gewürfelt, aber prinzipiell noch vorhanden – schätzungsweise auf 139 Milliarden Dollar. Für Bill Gates, Jeff Bezos, George Soros und den öffentlich-rechtlichen Funk wurden bisher anders als im Fall Musk keine Berechnungen angestellt, wie sie ihr Geld für bessere Zwecke ausgeben könnten. Eine Zehnjahrespause für die Gebührenanstalten wäre übrigens ein interessantes Experiment. Manche sagen, ohne die zwangsfinanzierte Mischung aus geframten Nachrichten, Klima- und Coronaangstpsychosenförderung, Antisemitismus, Israelkritik, Tugendapellen und Berichten über die Körperöffnungen und ihre Zwecke besonders bei funk würde die Demokratie kollabieren.
Es käme auf das praktische Experiment an.
Aber zurück zu Elon Musk, der nun, da ihm Twitter demnächst ganz gehört, nach Ansicht der Wohlmeinenden die Demokratie genauso gefährdet wie eine Sendepause für Leute, die in Gelddingen dann doch nicht ganz so schlecht informiert sind wie bei anderen Themen.
Schon die bloße Ankündigung des Teslagründers, das Twitterreich zu übernehmen, führte zu einer schon seit Tagen anhaltenden Konvulsion, die den Erschütterungen nach der Wahl Donald Trumps 2016 ähnelt. Es macht sich ein handfestes Musk Derangement Syndrom breit. Kurz zusammengefasst lauten die Vorwürfe, Ängste, Visionen und Apokalypsen, ein kindlicher und etwas irrer Unternehmer würde in dem bisher sorgfältig kuratierten Gartenreich, in dem manche Pflänzchen bisher ausgerissen und andere in speziellen Gewächshäusern gewärmt werden, künftig Wildwuchs erlauben und tausend Meinungsblumen blühen lassen, ein Vorhaben, das bekanntlich direkt zu Trump und von dort aus in den Faschismus führt.
So jedenfalls fasste der britische Komiker Andrew Doyle die Lage – wie er glaubte, ein bisschen pointiert – zusammen. Doyle parodiert seit Jahren unter dem Nom de plume Titania McGrath auf Twitter die wohlgesinnte progressive Priesterkaste, indem er seine Schöpfung McGrath einfach sagen lässt, was orthodoxkorrekte Twitterer meinen, plus ein paar zusätzliche Umdrehungen der parodistischen Schraube, wobei ihn die Twitterwirklichkeit allerdings immer öfter ein- und überholt.
Kaum hatte Doyle/McGrath sein ‘Meinungsfreiheit führt zu Faschismus’-Meme abgesetzt, da gab es auch schon einen völlig ernst gemeinten Tweet in dieser Richtung, in diesem Fall von Stephan Anpalagan, Autor im Neuen Deutschland und gelegentlich Gast im ARD-Presseclub.
Alles, was auf den ersten Blick wie eine Besonderheit von Twitter wirkt – beispielsweise, dass etliche schon ihre eigene Parodie tippen, bevor ein Satiriker zuschlagen kann – ist in Wirklichkeit keine Eigenheit von Twitter, sondern die einer Priesterkaste, die Twitter bisher als ihr Megaphon benutzt. Auf dieser Plattform zeigen sich alle Eigenschaften dieses Milieus eben nur hochkonzentriert, während sie sich im doch noch ziemlich großen analogen Rest der Gesellschaft manchmal so weit verdünnen, dass man sie für harmlos halten könnte. Das sind sie aber nicht. Nicht, solange diese Kaste nicht nur Twitter bewohnt, sondern auch von der Westküste der USA bis nach Mitteleuropa Universitäten, Redaktionen, Kulturinstitutionen und NGOs fest im Griff hält.
Die Süddeutsche bündelt unter der dem Imperativ „Finger weg, Elon“ die Argumente, mit denen auch besorgte Redakteure in den USA begründen, warum Musks Griff nach Twitter eine große Gefahr darstellt.
„Free Speech, das klingt doch super“, notiert der Redakteur des Münchner Blattes: „Aber was meint Musk damit genau? Soziale Medien werden von Fake News überschwemmt, die oft gegen Corona-Maßnahmen oder Migranten hetzen und Rechtspopulisten Wählerstimmen zutreiben. Unter öffentlichem Druck haben Twitter, Facebook und Co. begonnen, falsche und aufrührerische Posts zu löschen. Ohne ins Detail zu gehen, hat Musk Twitter dafür kritisiert, zu sehr einzugreifen und zu wenig freie Meinung zu erlauben.“
Die Süddeutsche hatte übrigens schon 2020 unter der Überschrift „Toleranz für die Intoleranz“ gegen den Appell für freie Debattenräume agitiert („obskurer Appell“). Das Milieu hält nicht erst seit Musk und Twitter die freie Debatte für hochproblematisch. Sie bevorzugt die hierarchische Debatte, in der die Priesterkaste schon die Debattenregeln festlegt, also bestimmt, wer überhaupt sprechberechtigt ist, welche Themen behandelt werden sollen, und vor allem, welche nicht oder höchstens in einer affektiven Einfärbung.
Der Punkt, an dem Musk möglicherweise entschieden hatte, entweder selbst eine Plattform zu gründen oder bei Twitter einzusteigen, liegt noch nicht lange zurück. Im Präsidentschaftswahlkampf 2020 veröffentlichte die New York Post eine Recherche über den Laptop Hunter Bidens, auf dem zahlreiche vertrauliche Nachrichten gespeichert waren, aus denen hervorging, dass der Sohn des demokratischen Kandidaten für erstaunlich viel Geld und ohne erkennbare Gegenleistung bei einer ukrainischen Gasfirma angestellt war. Die Führung von Twitter verhinderte damals, dass der Link zu dem NYP-Artikel oder Auszüge daraus gepostet werden konnten. Die Unterdrückungsmaßnahme dehnte sich sogar auf die Privatnachrichten der Twitternutzer aus; selbst auf diesem Weg konnte niemand einem anderen Mitglied des Netzwerks den inkriminierten Link schicken. Die Begründung von Twitter-Chef Jack Dorsey lautete, der Artikel über Biden Jr.s Geschäfte sei nicht nur Fake News, die angeblichen Informationen seien außerdem höchstwahrscheinlich ein Machwerk des russischen Geheimdienstes, der Biden verhindern und Trump im Amt halten wolle. Wochenlang ging eine entsprechende Kampagne über den „Laptop from Hell“ durch alle gegen Trump vereinten Medien, die damals auch noch die Geschichte von der Russian Collusion Trumps wieder und wieder aufkochten.
Mittlerweile stellte sich heraus, dass die Materialien von dem Biden Jr.-Laptop authentisch und der Bericht der New York Post darüber korrekt waren. Außerdem, dass es sich bei der vier Jahre lang durch etliche Leitmedien getriebenen Trump-Russland-Geschichte um ein Gebräu von Falschnachrichten, Behauptungen und Spekulationen handelte; die Spur des Interesses wie des Geldes führte hier zu einem Verein im Umfeld der damaligen demokratischen Kandidatin Hillary Clinton. Bei dem Lamento der Süddeutschen über die Gefahren, die Twitter damals praktisch in letzter Minute durch die Löschung „falscher und aufrührerischer Posts“ gebändigt hätte, handelt es sich um eine doppelte Verdrehung: Twitter unter Dorsey unterdrückte damals einen völlig zutreffenden Bericht, der dem Kandidaten Biden hätte gefährlich werden können. So, wie die aus zusammengefälschtem Material und Geraune zusammengerührte Trump-ist-Putins-Marionette-Story über den Katalysator Twitter überhaupt erst richtig heiß lief. Allein das begründet schon den Vorwurf der Wahlmanipulation. (Bidens Administration kündigte nur kurz nach Musks Twitter-Kaufofferte die Gründung eines staatlichen „Disinformation Gouvernance Board“, also einer Desinformationsbekämpfungsstelle an, die von Nina Jankovicz geleitet werden soll, einer Beamtin, die damals an der Laptop-aus-der-russischen-Geheimdiensthölle-Verschwörungsstory mitstrickte, und außerdem bekannte, der Gedanke an unbegrenzte freie Rede ließe sie „erschaudern“.)
Es ist kaum nötig zu erwähnen, dass auch sämtliche korrektgläubigen deutschen Journalisten seinerzeit das Laptop from hell-Narrativ nachplapperten und vorher die Trump-Putin-Verschwörungsgeschichte, und die dann allenfalls klein, weit hinten und hinter allerlei Sprachvorhängen verschleiert meldeten, als die eine Erzählung zusammenbrach, und die angebliche Fake News sich als richtig erwiesen hatte. Konsequenterweise erwähnt der Autor der Süddeutschen beides in seiner Agitation gegen Musk und die Gefahren der freien Rede noch nicht einmal am Rand.
Auch die immer sehr vage vorgetragene Erzählung, es sei im Januar 2021 aus Gründen des Demokratieschutzes wegen des sogenannten Sturms auf das Kapitol geboten gewesen, Trumps Twitter-Account zu löschen, hält keinem genaueren Blick stand. Abgesehen davon, dass damals die allermeisten, die in das Kapitol drängten, ganz regulär unter den Augen der Polizei durch die Tür ins Gebäude kamen, und der Vorgang in seinen Abläufen noch dringend aufgeklärt werden müsste – Twitter warf Trump in dem Moment von der Plattform, als er seine Anhänger dazu aufrief, friedlich zu bleiben und nach Hause zu gehen.
Die Führung des Kurznachrichtendienstes entfernte damals also mit der NYP-Geschichte keine Fake News, sondern unterdrückte eine zutreffende Nachricht. Sie verhütete auch keinen Putsch gegen demokratische Institutionen. Und sie ging bisher auch sonst mit der Verbreitung toxischer Ideologien und Gewaltdrohungen außerordentlich großzügig um, solange sie aus einer Richtung kamen, die das korrekte Hohenpriestertum nicht ausdrücklich als Feind markiert. Die afghanischen Taliban können bis heute auf Twitter aktiv sein, eine große Zahl von islamistischen Agitatoren genauso. Konkrete Gewalt- und Morddrohungen gegen die britische Autorin Joanne Rowling scherten die bisherige Twitterspitze nicht das Geringste (Rowlings Vergehen besteht darin zu behaupten, das Geschlecht beruhe auf biologischen Tatsachen).
Und in Deutschland konnten natürlich auch viele Nutzer problemlos über Umerziehungsmaßnahmen gegen Ungeimpfte und den Einsatz von Waffen gegen Anti-Coronamaßnahmen-Demonstranten phantasieren. Da galt die freie Rede bemerkenswert unbeschränkt, und sie wurde von keinem Redakteur der Süddeutschen bemängelt.
Auch die übrigen Punkte, die der Schreiber in der Süddeutschen in seinem Warnaufsatz vor den Gefahren von Medieneignern mit politischen Ambitionen nennt, sagen mehr über das Weltbild der Korrekten aus als über den Tesla-Gründer oder andere Finstergestalten, die einen Einfluss auf Medien besitzen (wobei der Name Bill Gates in dem Text der Süddeutschen nicht fällt). Es handelt sich in der Aufzählung um die üblichen Stichpunkte, etwa, die Agitation Rupert Murdochs in dessen Blättern sei für den Brexit verantwortlich. In einer langen Reihe ähnlicher Artikel aus US- und deutschen Reaktionen heißt es, ein Musk-Twitter, auf dem nicht genügend gelöscht werde, brächte todsicher Trump zurück ins Weiße Haus. Und überhaupt hätten es die Ideen der Erwachten und moralisch Hochstehenden ohne strenge Regeln für das öffentliche Wort künftig schwer.
Diesen Alarmrufen liegt eine prizipielle Fehlwahrnehmung zugrunde. Zum Brexit kam es ursächlich nicht wegen Murdoch, sondern, weil der Brüsseler Apparat auf immer mehr Menschen unattraktiv wirkt, nicht nur im Vereinten Königreich. Trump gewann 2016 deshalb, weil seine Gegenkandidatin Hillary basket of deplorables Clinton hieß. Wenn Trump oder ein anderer Republikaner 2024 gewinnen sollte, dann liegt das nicht an Elon Musks Übernahme von Twitter, sondern an Joseph Biden und Kamala Harris. Wer hatte denn die Idee, eine talentlose Unsympathin aus identitätspolitischen Gründen zur Vizepräsidentin zu machen? Musk?
Und dass die erwachten Tugendplärrer auf einen wachsenden Unwillen in praktisch allen Milieus außer dem eigenen stoßen – das liegt an den Tugendplärrern selbst, und ihr Ruf nach einer Einschnürung des Meinungsspektrums verstärkt noch Tag für Tag den ungünstigen Eindruck, den sie auf andere machen. Ihre Wortmeldungen zu lesen, gerade auf Twitter, das ist ungefähr so, als müsste man unentwegt Gollums zuhören, die einem erklären, dass es sich bei ihnen erstens um edeldenkende Elben handelt, und zweitens, dass nur ihr stetiges Manipulieren, Verdrehen, Sprachregeln und Canceln Mittelerde noch vor dem Untergang retten kann. Progressive pfeifen sich das Lied tagaus tagein gegenseitig in die Ohren, dass es sich bei ihren Vorstellungen um gute und für alle hilfreiche Ideen handelt, dass ihre politischen Vertreter brillant und gewinnend wirken, und dass überall dort, wo sie in ihrer allerreinsten Form die analoge Welt regieren, etwa in Berlin, Venezuela und in den Cultural-Studies-Abteilungen westlicher Universitäten, blühende Gemeinwesen ihren Erfolg bezeugen. Weshalb es nur an den fake news, an toxischen Begriffen und gefährlichen Verführern liegen kann, wenn eine gar nicht so kleine Zahl von Beobachtern das anders sieht. Twitter dient den Benevolenten in allererster Linie dazu, den Glauben an ihre eigene Anziehungskraft aufrechtzuerhalten. Das fällt schwer genug. Da kann schon der leiseste libertäre Lufthauch Schlimmes anrichten.
Gegen Elon Musk lässt sich vielleicht das eine oder andere vorbringen, was seine Geschäftspraktiken angeht. Ja, tausendmal gehört: Er verdient sein Geld überwiegend nicht mit Autos, sondern dem Zertifikatehandel. Aber bei ihm lassen sich keine Doppelstandards entdecken. Er hatte, so weit ersichtlich, nie gefordert, seine Konkurrenten müssten zum Schweigen gebracht werden. Er spricht ziemlich offen über seine Vorhaben. Twitter diente ihm dank seiner Follower schon als Sprachrohr, als ihm noch kein einziges Prozent des Unternehmens gehörte. Wenn jemand offen für sich wirbt, gibt es dagegen nichts einzuwenden. Zumindest dann, wenn es sich um ein Sprachrohr handelt, das sich nicht durch Zwangsgebühren finanziert.
Was Musk mit Freedom of Speech meint, hat er übrigens schon definiert. Etwas redundant vielleicht auf den ersten Blick, aber verständlich.
Von ihm gibt es auch ein Schaubild zu seiner Position im politischen Spektrum, und wie er dorthin kam.
Gehen wir noch im Schnelldurchlauf die anderen Argumente durch, warum Musk seine Finger gefälligst von Twitter lassen soll.
„Noch in der vergangenen Woche hatte Musk Microsoft-Chef Bill Gates kritisiert, der mit einer Position seines Anlageportfolios auf einen fallenden Tesla-Kurs setzt“, meldet etwa die Tagesschau. „Dazu machte sich Musk über das Übergewicht von Gates in einem Bild lustig.“
Musk nennt Gates mehrgewichtig – ja da hört doch wohl alles auf. Sein nun wirklich völlig harmloses Spottbildchen sah übrigens so aus:
Außerdem zitiert die ARD noch ein paar Musk-Kritiker: „Entsprechend sind die Befürchtungen etwa bei Analyst Roger Kay von Endpoint Technologies: ‘Musk ist im Grunde genommen ein Autokrat. Seine Form des Libertarismus hat einen Einschlag von Rechtsaußen-Politik.‘ Kay verweist dabei auch auf die Freundschaft von Musk zu dem in Deutschland geborenen Technologie-Investor Peter Thiel, der als Unterstützer von Trump und anderen rechten Politikern bekannt ist.“
Was gibt es gegen den Rechtsaußen-Autokraten mit der irren Idee der freien Rede über diese Anklagepunkte hinaus noch zu sagen?
„Um die Ausrichtung von Twitter machen sich daher einige Beobachter Sorgen“, sorgt sich die Tagesschau: „Twitter hatte etwa in den vergangenen Jahren versucht, gegen die Verbreitung von Hassbotschaften und Falschinformationen vorzugehen – und nach der Erstürmung des US-Kapitols am 6. Januar 2021 den damaligen US-Präsidenten Donald Trump verbannt. Musk könnte einer solchen Form der Moderation von Inhalten ein Ende bereiten.“ Löschen und Sperren „Moderation von Inhalten“ zu nennen – dieses wording entspricht ziemlich genau dem, was Peter Sloterdijk einmal „Lügenäther“ nannte.
Die Tagesschau berichtet auch, einige Twitter-Nutzer hätten schon aus Angst über den künftigen Moderationsmangel ihren Abschied von der Plattform angekündigt. Leute, die ihren Abschied vom Twitterreich auf Twitter in Aussicht stellen (und dann natürlich bleiben, was sonst) gründen demnächst vermutlich eine eigene große Selbsthilfeorganisation.
Von etlichen erwachten Twittereinwohnern gab es auch umgehend einen Vorschlag, wie jetzt mit Musk umzugehen sei, dem Wolf, der wie in der Geschichte von den drei kleinen und übrigen grundsympathischen Schweinchen ihr Häuschen umzupusten droht. Natürlich canceln, was in diesem Fall heißt: enteignen.
Was zu einer zentralen Frage führt, die sich aus gutem Grund keiner der Erwachten stellt: Warum wandern sie nicht einfach aus dem Twitterreich aus, wenn es nicht mehr nach ihren geliebten Regeln funktionieren sollte, und gründen ihre eigene Plattform? An Geldmangel kann es kaum liegen. Nicht alle Mitglieder der Priesterkaste sind prekär auf akademischen Viertelstellen beschäftigt. Böhmermann etwa wird ein Millionenvermögen nachgesagt, erworben aus Rundfunkgebühren und durch ein Buch, das ausschließlich aus seinen Twitteräußerungen besteht.
Dass es möglich ist, eine eigene twitterähnliche Plattform aufzubauen, zeigt gerade Gettr, das erst im Juni 2021 gegründet wurde, und heute immerhin mehr als fünf Millionen Nutzer zählt. Bei dem Gettr-Gründer Jason Miller handelt es sich um einen klassischen amerikanischen Konservativen und früheren Trump-Mitarbeiter, weswegen der neue Kurznachrichtendienst keine Alternative für diejenigen bietet, die sich bei Twitter jetzt angeblich so schlecht fühlen, dass sie schon mal ihren Ausreiseantrag twittern, gern auch mehrmals hintereinander.
Aber noch einmal, warum schaffen sie nicht selbst etwas Neues, das ganz und gar ihren Vorstellungen entspricht? Deshalb, weil die erleuchtete Priesterkaste in der gesamten westlichen Welt nie durch eigene Gründungen aufgefallen ist, sondern immer nur dadurch, bestehende Institutionen zu übernehmen, und das auch nicht wie Musk offen, nach Marktregeln und mit eigenen Mitteln, sondern ausnahmslos durch allmähliche Infiltration und finanziert durch andere, ob nun in Universitäten, Medien oder neuerdings auch ganz klassischen Unternehmen. Immer dringen sie in die Hülle von etwas Bestehendem ein. Nie bringen sie etwas Eigenes hervor. Das liegt nicht an fehlendem finanziellen, sondern an mangelndem Ideenkapital. Twitter war nicht immer das Stammlokal der Gutgesinnten, in dem bestimmte Bereiche der Realität einfach gelöscht werden. An den angelsächsischen Universitäten herrschten früher noch keine bleiernen Zeiten.
Die „New York Times“ war zwar nie, wofür sie sich selbst hielt; in „The Grey Lady Winked“, einem sehr empfehlenswerten, aber bisher nicht auf Deutsch vorliegenden historischen Abriss zählt Ashley Rindsberg auf, wie das Blatt im September 1939 einen polnischen Überfall auf Deutschland meldete, dem Judenmord in Europa nur eine kleine Meldung auf den hinteren Seiten widmete und Fidel Castro als charismatischen Liberalen beschrieb. Aber zur bis auf rare Ausnahmen unlesbaren Prawda von Wokistan wurde das Blatt erst sehr spät in seiner Geschichte.
Die einzige alternative Gründungsidee, die unter Progressiven gerade debattiert wird – besonders in hochkreativen Inkubatoren wie ARD und ZDF – läuft auf die Schaffung einer Art öffentlich-rechtlichen und mit Staatsgeld betriebenen EU-Internetplattform hinaus.
Ihnen fällt also nichts anderes ein, als die schon existierenden und durch einen zwangsweise eingetriebenen Zehnten finanzierte Agenturen des Gutgerechten durch den Kopierer zu jagen.
Die Angst um die eigene Deutungshoheit erklärt nur einen Teil des spuckenden und zuckenden Ressentiments, das die Erwachten beim Anblick von Musk erfasst. Ein guter Teil besteht auch aus Selbsthass. Denn der Mann aus Boca Chica, Texas, führt ihnen gerade vor, was ihnen im innersten Kern fehlt: die Fähigkeit zum Unternehmertum. Für ihre Schockreaktion genügt es schon, dass Musk mit ein paar Gehilfen vor ihren Toren steht. Sein Einmarsch hat noch gar nicht stattgefunden.
Musk ist nicht der eigentliche Grund für den Nervenzusammenbruch im Reich der Wohlmeinenden. Die Machtverhältnisse sind ganz einfach: Er kann sehr gut mit den Erleuchteten leben, die bisher ja auch zu seinen Autokunden gehörten. Er würde sie auch spielend als ein Milieu von vielen bei Twitter ertragen. Die Erleuchteten können umgekehrt nur in ihrem Reinstraum existieren, im Unterdruck ihres safe space.
Schon ein kleiner Riss in der Hülle genügt, um sie in Todesangst zu versetzen.