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Tatort München: „Was guckst Du?“

Wieder einmal hebt ein Sonntagskrimi mit enormer Spannkraft Richtung Entrüstung und Aufklärung ab und landet als Bettvorleger. Auch wenn Autor und Regisseur Christoph Stark beteuert, er habe „kein moralisches Lehrstück, sondern einen spannenden und unterhaltsamen Tatort drehen wollen“ (ARD).

Screenprint: ARD / Tatort

Schon der Titel „Schau mich an“ liegt schief. Denn den Täterinnen geht es bei ihren schrecklichen Quälereien und Morden nicht um Aufmerksamkeit, Likes und Klicks im Internet, sondern um maximal grausame Blutrache an Mitmenschen, von denen sie sich schief angesehen, beleidigt oder herabgesetzt fühlten.

Darauf einen „Derrick“

Die Münchner Kommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec), Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) eilen zu einem Leichenfund, gruselig in der (gottlob trocken gelegten) Kanalisation der bayerischen Hauptstadt in Szene gesetzt. Da der Täter seinen Foltermord als Video ins Internet gestellt hat, wo es angeblich mehr als „100.000 Likes“ bekommen hat, stellen die Ermittler schnell eine Verbindung zu einem bereits früher unter ähnlichem Namen („Jeremy Dahmer“, nach dem US-Serienmörder) auffällig gewordenen Online-Tierquäler her. Den hatte eine mehr als 1000 Mitglieder zählende, internationale Tierschützer-Gruppe mittels Facebook und Google-Streetview in emsiger Kleinarbeit in Wien aufspüren können. Aber als die Behörden bei ihm anklopften, war er schon entwischt.

Der dortige Kollege Oberstleutnant Eisner (Harald Krassnitzer) gibt die entscheidenden Hinweise, auch zu der in München lebenden Lisa Berger (Aenne Schwarz), die dort in der Suchthilfe arbeitet und eine der treibenden Kräfte in der virtuellen Jagd auf J.D. war. Gefragt, warum die denn offenbar erst durch die Bilder der toten Hündchen im Netz ausgelöst wurde, entgegnet sie: „… sie dürfen alles machen, Waffen kaufen, Frauen und Kinder missbrauchen … nur eines nicht. Tiere quälen und töten. Das nimmt ihnen die Community wirklich übel.“nWarum sich „Jeremy Dahmer“ allerdings einerseits mit gefälschten Profilbildern als reich, schön und smart, mit „Freunden auf der ganzen Welt“ darstellen möchte, andererseits aber maskiert auf ekelige Weise kleine Mitlebewesen umbringt, bleibt mysteriös.

Mord macht Schule

Für manche erstaunlich – das abstoßende Mordvideo wird nicht nur zum „viralen“ Hit, sondern dient anderen zum Vorbild. Zum Beispiel dem jungen Schreinerlehrling Paul Reiser (Emil Vorbrugg), der in der Berufsschule gemobbt wird und mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Davon träumt, sich endlich an seinen Peinigerinnen in der Schule rächen zu können. Er kauft sich online eine Maske, wie JD sie trägt, zündet ein Hündchen an und filmt sich dabei.

Wieder hilft das Internet mit seiner großen Reichweite bei den Ermittlungen (Batic: „Unfassbar, was die Kids sich für einen Scheiß reinziehen und teilen“): Die Klassenkameraden stellen fest, dass Paul und der Maskierte die gleichen verschieden farbigen Schnürsenkel benutzen, geben der Polizei einen Hinweis. Aber bevor die ihn festnehmen kann, springt er vom Dach der Schule.

Mittlerweile führt die Kommissare die Tonaufnahme des Mordvideos (Trommeln der Fußball-Schlachtenbummler ist zu hören) in die Nachbarschaft des Stadions des Vereins TSV 1860, zu einer „Absteige für Zeitarbeiter“, die ein „paar Albanern“ gehört. Dort wurde das Foltervideo aufgenommen, die Leiche zerstückelt und das Hotelzimmer anschließend akribisch gereinigt.

Der verdächtige Mülltrennungsmuffel

Als die deutsch-chinesische Cellistin Jin-Jin Kaiwen Li-Gschwend ganz gegen die Gewohnheiten „einer Musikerin ihres Formats“ (Hammermann über sie) ihr Instrument nicht von der Reparatur abholt, wird schnell klar, dass sie die zerstückelte „Leiche asiatischen Phänotyps“ ist, die nun im Labor von Gerichtsmedizinerin Claudia Paulsen (Paulina Morisse) liegt. In dem Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnte, stoßen die Ermittler auf eine ganze Gruppe von Mietern, die auf Frau Li zum Beispiel wegen ihrer dauernden Übungen am Cello (Nachbarin) und ihrer abgehobenen Art (Hausmeister, gespielt von Gerhard Wittmann) einen Hass gehabt haben.

Jedoch kann derjenige, der die Frau wirklich entführt und ermordet hat, Lukas Wagner (Sammy Scheuritzel), buchstäblich unter den Spürnasen der Polizei entkommen: Sein Handy hatte sich kurz im Netz des Mordhotels eingewählt, auch er war ein Nachbar von Frau Li. Als das Münchner SEK großspurig vor dem Mietshaus vorfährt, hat JD wie schon in Wien genügend Zeit, sich aus dem Staub zu machen. Batic und Leitmayr hängt er bei der anschließenden Verfolgung zu Fuß locker ab.

Auch Polizistensöhne sind nicht sicher

Nun kommt einiges über den in München geborenen Täter ans Tageslicht. Seine Mutter hat sich in dem Mietshaus nach der Scheidung prostituiert und war kürzlich an einem Schlaganfall verstorben. Seit seiner Flucht aus Wien, wo er beim Vater gewohnt hatte, war er wieder bei ihr eingezogen. Zwar war sein Vater in Wien Polizist gewesen, den scheint seine Behörde aber bald auch an die „dunkle Seite“ verloren zu haben: Er wurde wegen „verschiedener Vergehen, unter anderem Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz und Bildung einer kriminellen Vereinigung“ suspendiert und ist schließlich an Lungenkrebs gestorben. Lukas selbst rutschte danach ab, schmiss mit 12 die Schule, blieb ohne Abschluss, ohne Ausbildung, und tat dann nur noch das, wofür er wohl am ehesten Talent hatte: kriminell zu sein.

Die unwahrscheinliche Wandlung der vorbildlichen Zeugin Berger

„JD“ Wagner flüchtet sich zu dem Menschen, mit dem ihn noch am meisten verbindet, seiner „soulmate“ (Seelenverwandten), die alleine in einem Haus mit Garten lebt: Lisa Berger. Die Frau, die gerade noch überzeugend von den Bedrohungen durch das Internet und den schrecklichen Auswüchsen verdrehter Fantasien gepredigt hatte und damit auch Kalli Hammermann für sich einnehmen konnte, ist eigentlich die treibende Kraft hinter den mörderischen Exzessen des Jeremy Dahmer.

Nachdem sie ihn mit ihren Online-Ermittlungen entlarvt hatte, nahm sie sich seiner an und verführte ihn – auch – zum Mord an der verhassten Nachbarin Jin-Jin Li, die seine Mutter ihre Verachtung dafür, dass sie sich dort prostituierte, hatte spüren lassen. Aber damit nicht genug. Lisa Berger, die selbst als Kind vom Stiefvater missbraucht worden ist, geht nun auch auf die Jagd nach Opfern, betäubt die Kellnerin Franziska Schwarz (Pauline Fusban) aus dem Biergarten nebenan, die Lukas wie Jin-Jin „wie Dreck behandelt hat“ und führt sie ihm als frisches Opfer im eigenen Keller zu.

Gott und den Streuartikeln der Werbeindustrie sei Dank

Lukas, dem seine grässlichen Taten nun offenbar tatsächlich körperlich zu schaffen machen (klagt über Kopfweh, erzählt, dass sich auch der echte Jeffrey Dahmer beklagt habe, wie schwer es sei, jemanden umzubringen), bringt auch die Kellnerin vor laufender Kamera um. Lisa filmt. In der Chrom-Niete seiner Maske spiegelt sich aber ihr Bild, was Kalli Hammermann bei der nochmaligen Sichtung des Materials auffällt. Der zwar in den Augen seiner zwei Kollegen sehr gewachsene junge Kommissar („glaubt wohl, nach seiner Fortbildung die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben“ – Leitmayr über ihn) macht aber nun den entscheidenden Anfängerfehler und begibt sich ohne irgendeine Absicherung in das Haus der nun sehr verdächtigen Lisa, wo er auch prompt überwältigt und schon von ihr zum nächsten Folteropfer auserkoren wird.

Auf dem Transport zu einer malerisch im Wald gelegen Schänke, in der Lisa ihre Kindheit verbracht hatte, gelingt Kalli die Selbstbefreiung mittels eines orangefarbenen Werbe-Kugelschreibers der Gastwirtschaft (Anm: James Bond hätte den Kuli zur tödlichen Waffe gemacht), und er entkommt, nur um sich fatalerweise in genau diese Waldschänke zu flüchten. In Lukas gewinnen, auch durch die schlauen Einflüsterungen des jungen Polizisten, die Zweifel an Lisa die Oberhand. Er versucht, seine Anstifterin zu ersticken (sie überlebt und wird festgenommen) und lässt den Polizisten laufen, zu dem bald seine beiden graumelierten Kollegen stoßen, die wunderbarerweise eine geistige Verbindung von den Kugelschreibern zu der Waldschänke herstellen konnten.

Ob das SEK am Schluss noch die Gelegenheit zu einem Rettungsschuss auf den mit der Waffe in der Hand ertappten Mörder bekam, und wohin diese Kugel ging, erfährt der Zuschauer nicht mehr.

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