Tichys Einblick
MENTALES PREPPING

Wieder mal richtig Spannung mit „Tatort“ und andere Fernseh-Krimis erleben

Der Mörder ist immer ein Rechter, das Opfer eine Frau mit Migrationshintergrund, die Handlung politisch korrekte Erwachsenenbildung. Wer den heutigen Fernsehkrimis entgehen will, braucht dazu einen DVD-Spieler und Silberscheiben. Von Georg Etscheit

IMAGO / Kirchner-Media

Ein Männerchor feiert sein Stiftungsfest. In einem Gasthaus am Isarufer zwischen München und Grünwald schmettern die Herren „La Montanara“, den Klassiker deutscher Gesangsvereine. Es wird getanzt, gegessen und gebechert. In feuchtfröhlicher Stimmung wagt August Bark ein ausgelassenes Tänzchen mit Irene Eppler, der Freundin seines Sohnes und Tochter seines besten Freundes. In einem Umkleideraum wird er zudringlich, möchte sie küssen, vielleicht sogar vergewaltigen. Dabei stürzt sie so unglücklich, dass sie sich das Genick bricht. Eine furchtbare Tat, ein schreckliches Unglück, das Bark beinahe in den Freitod treibt.

So lautet, kurz zusammengefasst, die Inhaltsangabe der dritten Episode der ZDF-Krimiserie „Derrick“, ausgestrahlt im Dezember 1974, ein rabenschwarzes Kammerspiel, inszeniert von Helmut Käutner. Siegfried Lowitz, der ab 1977 als „Der Alte“ selbst zum Held einer erfolgreichen Krimiserie wird, spielt den zunächst nicht zu einem Geständnis bereiten Täter, dem die hartnäckigen Ermittler Derrick und Klein im Verlaufe einer langen Nacht auf die Schliche kommen. Derrick gelingt es in letzter Minute, Bark davon abzuhalten, sich von einer Brücke hoch über der Isar herabzustürzen: „Sie sind dem Mädchen etwas schuldig, Ihr Geständnis, aber nicht Ihren Tod.“ Das ist der Schlüsselsatz dieses Atem beraubenden und mit so einfachen Mitteln gestalteten Kriminalschauspiels.

Es ist kein Ausdruck von Gegenwartsverdrossenheit und Kulturpessimismus, wenn man konstatieren muss, dass im quotenfixierten Rambazamba-Fernsehen heutiger Machart Stücke von solcher Qualität und Eindringlichkeit nicht mehr denkbar sind. Natürlich handelt es sich auch bei der Derrick-Folge „Stiftungsfest“ um ein Unterhaltungsformat, jedoch Unterhaltung in einem ganz anderen Sinne, als sie etwa die Münsteraner Tatorte mit dem Komiker-Duo Börne und Thiel vorführen. Unterhaltung ist hier immer auch Erschütterung, Selbsterkenntnis, Katharsis.

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Der das dramatische Geschehen gebannt verfolgende Zuschauer erkennt, dass ein Unglück, wie es August Bark widerfährt, jedem drohen kann, der in einem Moment der Schwäche die Herrschaft über sich selbst verliert und womöglich Dinge tut, die nicht wiedergutzumachen sind. Das kann so etwas wie eine seelische Läuterung bewirken und bei aller Dramatik des Gezeigten ein positives Gefühl vermitteln, das dazu animiert, beim nächsten Mal den Kasten wieder anzuschalten – während die Krimis von heute mit ihrer hart und schnell geschnittenen Bilderflut und meist völlig verworrenen Handlungssträngen nur einen betäubenden und ablenkenden Effekt haben, ohne in irgendeiner Weise berühren zu können.

Fernsehen von einst war immer auch Seelenbildung nach Art guten Theaters, was man nicht zuletzt daran sieht, dass in Serien wie „Der Kommissar“, „Derrick“, „Der Alte“ und in vielen frühen „Tatort“-Folgen die Elite deutscher Bühnenkunst mitwirkte und neben hochklassigen Routiniers des Krimifachs auch Solitäre wie Wolfgang Staudte, Helmut Käutner und Wolfgang Petersen auf dem Regiestuhl saßen. Deswegen tut man gut daran, sich in Zeiten wie diesen einen schönen Vorrat alter Krimis zuzulegen, mentales Prepping, wie Krisenvorsorge heute heißt. Damit man ob der Flut der Live-Streams, Breaking News, der Brennpunkte, Kommentare und Sondersendungen nicht völlig irre wird an der Welt, den Menschen und den öffentlich-rechtlichen Medienhäusern, die leider nur noch selten aus dem Fundus von einst schöpfen. Und wenn, dann meist in Form länglicher Themenabende. Jüngst zeigte das Bayerische Fernsehen zum 100. Geburtstag Gustl Bayrhammers dankenswerterweise hintereinander gleich drei alte Tatorte mit dem grantelnden Münchner Kommissar-Original Veigl samt Dackel „Oswald“, was aber zu viel des Guten war. Warum kann man solche Trouvaillen eigentlich nicht regelmäßiger senden und in verträglicher Dosierung?

Zu Hause am DVD-Spieler lässt sich das Programm besser steuern. Doch mehr als zwei Krimifolgen hintereinander sollte man nicht konsumieren, weil sonst das beste Pulver allzu schnell verschossen wäre. Den Rest des Abends lässt sich mit einem guten Buch bestreiten oder einer schönen Musik-CD. Und wenn man einmal „durch“ ist, kann man wieder von vorne anfangen, weil man längst vergessen hat, mit welchen Unholden sich die Kommissare Keller, Derrick oder Köster samt ihren jeweiligen Assistenten in Folge 41, 96 oder 168 herumschlagen mussten. Auf diese Weise lassen sich Monate, wenn nicht Jahre zubringen, ohne dass man ein einziges Mal gezwungen wäre, auf die aktuellen Angebote der Zwangsgebührenanstalten zurückgreifen zu müssen.

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Mit der Komplettbox von „Der Kommissar“, laut Aufdruck die „Mutter aller Krimi-Serien“, kommt man allein schon auf solide 92 Stunden gediegener Weltflucht. Mehr als dreimal so weit trägt einen die Gesamtedition von „Derrick“, der es von 1974 bis 1998 auf 281 Folgen mit einer Länge von jeweils ebenfalls einer Stunde brachte, während „Der Alte“ bis zum heutigen Tage mit weit über 400 Folgen als die am längsten laufende aller Krimiserien des deutschen Fernsehens gelten kann, wobei freilich nur die ersten hundert Episoden mit Siegfried Lowitz alias Erwin Köster zu den echten Klassikern gezählt werden können.

Je nachdem, wie weit man sich in die Gegenwart vorzutrauen wagt, addiert sich dazu eine unbestimmte Anzahl von „Tatorten“ in stattlicher Spielfilmlänge. Unbedingt zu empfehlen sind die Folgen mit Klaus Schwarzkopf alias Kommissar Finke aus Kiel, der es leider nur auf sieben Fälle brachte, alle in der Regie von Wolfgang Petersen („Das Boot“). Von ähnlicher Güte sind die zwanzig Fälle, die der Essener Kommissar Haferkamp zu lösen hatte, verkörpert von Hansjörg Felmy, der 1980 von dem schon deutlich Action affineren Götz George alias Schimanski abgelöst wurde. Empfehlenswerte sind auch Sondereditionen ausgewählter Tatort-Klassiker der 70er bis 90er Jahre, etwa mit Karin Anselm als Mainzer Ermittlerin Wiegand, der ersten Frau auf diesem Posten, oder dem beinahe autistischen Stuttgarter Kommissar Schreitle, gespielt von Horst Michael Neutze. All diese Krimis sind vor allem eins: ungemein authentische Milieustudien nah am Volk und der Landschaft, in der sie entstanden sind.

Sicher, die ersten Folgen von „Der Kommissar“ mit dem väterlichen Krimi-Patriarchen Erik Ode mögen, in schwarz-weiß gedreht, ziemlich gestrig wirken. Die Reihe begann im Jahre 1969 und zeigt ein noch ziemlich abgetakeltes München lange vor den ersten Gentrifizierungswellen. Die „grüne Minna“ macht noch Tatütata und die Ermittlungen spielen häufig in Gemeinschaftswohnungen, die von Kriegs bedingter Wohnungsnot zeugen. Zudem fällt auf, dass in den Wintern damals deutlich mehr Schnee lag als heutzutage. Natürlich ist Polizeiarbeit damals noch Männersache, wobei Kellers Sekretärin Rehbein(chen), gespielt von Helma Seitz, kein verhuschtes Heimchen ist, sondern zuweilen so etwas wie protoemanzipatorische Aufmüpfigkeit an den Tag legt. In der Rolle des feschen Jungspunds beginnt Fritz Wepper an der Seite von Erik Ode, Günther Schramm und Reinhard Glemnitz seine Endloskarriere als ewiger Assistent.

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Schöpfer sämtlicher „Kommissar“-Folgen, wie auch später sämtlicher „Derrick“-Episoden war der legendäre Münchner Journalist und Drehbuchautor Herbert Reinecker. Mit seiner Nazi-Vergangenheit – er war unter anderem als Berichterstatter in einer Propagandakompagnie der Waffen-SS an diversen Kriegsschauplätzen – wäre er heute nicht mehr vermittelbar. Dass auch sein Hauptdarsteller Horst Tappert mit 19 Jahren in der Waffen-SS diente, löste fünf Jahre nach seinem Tod einen Skandal aus, der das ZDF bewog, Derrick-Folgen nicht mehr zu wiederholen. Das Verdikt gilt offenbar bis heute. Zum Glück nicht für DVDs.

Auch wenn sich die Grundkonstellationen von Reinecker-Krimis von Zeit zu Zeit wiederholen, kommt bei ihm selten Langweile auf. Gekonnt wird Verdächtigen-Material aufgebaut und abgearbeitet und von Folge zu Folge zwischen der nächst liegenden und entferntesten Täter-Variante variiert. Regelmäßig veredeln renommierte Mimen Reineckers Krimi-Kunsthandwerk, etwa Elisabeth Flickenschildt in Folge 61 („Der Geigenspieler“) oder Käthe Gold, die an der Seite von Gustav Gründgens in Goethes „Faust“ das Gretchen spielte, in Folge 69 („Ein Anteil am Leben“).

Das gesamte frühere Ensemble der mittlerweile im Zeichen grün-roter Kulturpolitik künstlerisch und darstellerisch heruntergewirtschafteten Münchner Kammerspiele gibt sich auch bei „Derrick“ ein Stelldichein: Rolf Boysen, Manfred Zapatka und der zerfurchte Thomas Holtzmann, um nur wenige Namen zu nennen. Nicht zu vergessen Heinz Bennent, der mit seiner prätentiösen Sprechweise laut Wikipedia „als einer der letzten , großen, international tätigen Charakterdarsteller des Theaters“ galt. Ein Riese er, auch neben Tappert, der über routiniertes Spiel selten herauskam, aber dennoch nicht nur zu Hause, sondern vor allem auch im Ausland zum Superstar avancierte.

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Das München, das der Oberinspektor Derrick und sein Assistent Harry Klein (Fritz Wepper) kriminalpolizeilich beackern, ist schon das der fetteren Jahre. Während Ode noch verfallene Hinterhöfe durchmisst, sind Derricks Ermittlungs-Terrain immer öfter die prächtigen Villen des Münchner Nobelvororts Grünwald, dessen Bewohner sich auffällig oft im Münchner Rotlichtmilieu tummeln – die bayerische Landeshauptstadt muss damals ein heißes Pflaster gewesen sein. Leider konzentriert sich die Handlung in späteren Derrick-Folgen zunehmend auf die Person des Protagonisten, womit sich eine Entwicklung andeutet, die mittlerweile die televisionäre Kriminalistik voll erfasst hat: das Privatleben der Ermittler wird wichtiger als die Aufklärung eines Verbrechens, zuweilen verlieben sich die Herren oder Damen Kommissare in Verdächtige oder werden schlimmstenfalls selbst zu Tätern.

Mit nachdenklichen, manchmal mürrischen Typen wie Köster, Finke oder Haferkamp, die selten über die Stränge schlugen, wäre heute kein Staat mehr zu machen. Aber gerade das macht sie für Weltflüchtige so anziehend. Sie lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, allenfalls einmal durch ihre Vorgesetzten wie den großartigen Henning Schlüter als Millinger in „Der Alte“, der am Berliner Ensemble schon unter Bertolt Brecht spielte und mit Luchino Visconti, Billy Wilder und Roman Polanski zusammenarbeitete. Sie gehen ihrer Arbeit nach, verhelfen am Ende der Gerechtigkeit zum Sieg und geben dabei tiefe Einblicke in menschliche Abgründe. Was will man mehr?

Ein früher Fall, den Siegfried Lowitz als Kommissar Köster zu lösen hatte, trägt den schlichten Titel „Ein unkomplizierter Fall“ (Kamera: Joseph Vilsmeier). Zu einer schwermütigen Sequenz aus Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“ sieht man ein wohlhabendes Paar, das um die tödlich verunglückte Tochter trauert, ein Paar, das sich selbst abgrundtief hasst. Der Ehemann, gespielt von Klausjürgen Wussow, sucht Trost im Alkohol und lässt sich in einem Nachtlokal mit einer Prostituierten ein, die er in einer Vision im Vollrausch stellvertretend für seine Frau erwürgt. Auch dies eine rabenschwarze Geschichte. Und zum Abspann erklingt Musik aus dem Finale von Alexander Skrjabins orgiastischer Sinfonie „Le Poèm de le extase“, die aufsteigend aus Phasen der Apathie und des leisen, immer heftigeren Drängens in einem Hymnus in gleißendem C-Dur kulminiert.

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