Tichys Einblick
Tatort auf Geisterfahrt

Die ARD hält im schrottreifen Paketlieferwagen voll drauf

Was tun, wenn einem partout nach Sozialdrama ist, aber da einfach zu wenige einschalten? Man gibt einfach einen Film in Auftrag, der zwar wie eine Kriminalgeschichte aussieht, und in die sozialpolitische Themen clever eingewoben sind. Dass dabei die Logik öfter mal flöten geht, ist Nebensache.

Screenprint: ARD / Tatort

Es ist eine Klemme, in der die öffentlich-rechtlichen Anstalten immer wieder stecken: Was tun, wenn einem partout nach Sozialdrama ist, aber da einfach zu wenige einschalten? Man gibt einfach einen Film in Auftrag, der zwar wie eine Kriminalgeschichte aussieht, und in die sozialpolitische Themen clever eingewoben sind. Da muss man auch nicht immer alles peinlich genau recherchieren und mit anstrengenden Interviews belegen, man diktiert einfach frisch von der Leber weg ins Drehbuch. Dass dabei die Logik öfter mal flöten geht, ist Nebensache.

Häusliche Gewalt und moderne Sklavenhalterei

Was schert es die ARD, dass das Thema häusliche Gewalt gerade unter ähnlicher Überschrift, nämlich bei „Tatort Zuhause“ und die Lage der „Paketsklaven“ der Online-Kaufhäuser grade im Weihnachts-Tatort Köln von allen Seiten beleuchtet wurde. Im aktuellen Sonntagskrimi aus Göttingen schickt man wieder einen arg ramponierten Lieferwagen mit einem übernächtigten, hemmungslos ausgebeuteten EU-Arbeitnehmer (Ilje Balan, gespielt von Adrian Djokic) los und lässt ihn diesmal in eine Gruppe Jugendliche krachen. Was zunächst wie ein Verkehrsunfall aussieht, könnte, so Kommissarin Anais Schmitz (Florence Kasumba) aber auch „Amok, Suizid oder Mord – das ganze Programm“ sein. Also sind sie und Kollegin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) erstmal zuständig und wie zufällig tun sich in nächster Nähe gleich menschliche Abgründe auf.

Paketfahrer: dem Konzern und der bequemlichen Kundschaft ausgeliefert

Eben noch hatte Ilje ein Paket ausgerechnet auf der Polizei-Geburtstagsfete des Chefs von Lindholm und Schmitz abgeliefert, hatte selbstlos die Schicht seines Vaters (Petre Balan, gespielt von Attila Georg Borlan), der mit Schmerzen in der Brust seine Fuhre nicht ausfahren konnte, auch noch übernommen (ist Paketbote in derselben Firma), da rast sein Wagen aus unerklärlichen Gründen in eine Gruppe junger Passanten. Vernehmen kann ihn die Polizei nicht, denn er ist ins Koma gefallen.

Der Tatort spart sich und dem Zuschauer die Untertitel für die nicht wenigen Dialoge in Rumänisch – für die Ermittlerin dolmetscht glücklicherweise die zufällig im richtigen Moment anwesende Ärztin mit Migrationshintergrund (Dr. Tereza Liebig, gespielt von Bibiana Beglau). Auch der Fahrtenschreiber kann die Wahrheit über den dramatischen Unfall nicht enthüllen, denn der sei heutzutage ja ein „Märchenschreiber“, den alle Fahrer sowieso manipulieren würden, um ihre vorschriftswidrigen Dienstzeiten zu verschleiern, so die Polizei.

Ohne die Härte so eines Fahrdienstes verharmlosen zu wollen: Christine Hartmann und Stefan Dähnert (Regie und Buch) drücken hier schon arg auf die filmische Tränendrüse. Nicht nur, dass der bedauernswerte Rumäne muslimischen Bekenntnisses hier für einen Moment in den Ruch gerät, einen islamistisch motivierten Terrorangriff gefahren zu haben, er saß nach einer bereits gefahrenen „Doppelschicht“ von 2 x 12 Stunden nun zusätzliche 12 Stunden für Papa am Steuer. Ohne Trinkgelder, nur mit dem ständigen Genöle seiner Kundschaft im Ohr („Warum bestelle ich denn eigentlich Express?“). Wach gehalten von kistenweise Energiedrinks, die den Fahrern ihr Chef Mischa Reichelt (Christoph Letkowski) spendiert, garniert von Päckchenweise Pillen. Iije, der den Großteil seines Lohns in die Heimat überweist, schläft, isst und verrichtet seine Notdurft in seinem Lieferwagen. Außerdem entledigt sich die Paketfirma (DDP, Deutscher Paketdienst) sämtlicher weiterer und sonstiger Risiken und Pflichten an die verniedlichend „Subis“ genannten Subunternehmer mit einem kompliziert auf Juristendeutsch verfassten Knebelvertrag, der sie auch noch zwingt, den einwandfreien technischen Zustand des Fahrzeugs sicherzustellen. Fürwahr ein Beelzebub an Menschenschinderei, wenn es denn im wirklichen Leben so zutrifft.

Nach so viel Skandal holt das Drehbuch aber nicht etwa Luft und lässt einen wohlmeinenden Gewerkschafter zu Hilfe eilen, sondern setzt noch einen drauf. Der „DDP“ und sein Subunternehmer Reichelt (er zu Lindholm, aber eigentlich an die Zuschauer: „Weil Leute wie sie dann ihre Päckchen nicht kriegen!“) wittern schnell, dass es nach dem Aufsehen erregenden Unfall Ärger geben, die skandalösen Arbeitsverhältnisse der prekären Subis auffliegen könnten. Zufällig arbeitet die Ehefrau von Mischa Reichelt, (Jutta, gespielt von Lea Willkowsky) in derselben Klinik wie Tereza, die Ehefrau von Polizeidirektor Gerd Liebig (Luc Feit), und kann ihr daher prima nachspionieren.

Das Ehepaar, das gerade noch vor aller Augen auf dem Polizei-Geburtstagsball im Lametta-Regen geschunkelt hat, ist in der Krise. Tereza Liebig wird von ihrem Mann verprügelt, obwohl er beteuert, dass sie für ihn der wichtigste Mensch auf der Welt sei. Sie macht zum Beweis Fotos von ihren blauen Flecken und versteckt sie in ihrem Krankenhausspind, vergisst aber eines im Drucker, wo es der hinterhältigen Kollegin in die Hände fällt. Damit erpresst Reichelt, selbst bis zum Hals in der Kreide bei DDP stehend, den Polizeidirektor, der daraufhin die Ermittlungen im Fall des verunglückten Paketbotentransporters an die Verkehrspolizei auslagert und damit faktisch blockiert. Er stellt, obwohl Lindholm ihn darum bittet, keinen Antrag auf Hausdurchsuchung bei der DDP, einem der, laut Polizeipräsidentin Wiebke Kreuzer (Wiebke Puls) „wichtigsten Arbeitgeber im Land“, um den sich auch der Ministerpräsident bemühe.

Der sympathische Chef schlägt seine Frau

Die Autoren Christine Hartmann und Stefan Dähnert machen, wie der Sender „n-tv“ schreibt, „in ihrem Drehbuch Tabula Rasa mit etablierten Autoritäten“. Dass der NDR das durchgewunken hat, tue dem Film gut: Natürlich nur, wenn man meint, auch ohne Autoritäten prima durchs Leben kommen zu können. Erst wird Polizeidirektor Gerd Liebig mit der gefühlvollen Eingangsszene auf seiner Geburtstagsfeier zum netten Chef stilisiert, den alle mögen, der „viel für sie getan habe“: kurz darauf fällt er durch die Nachforschungen von Charlotte Lindholm, die seine Frau und die Nachbarin zum Privatleben der Eheleute befragt und die Polizeipräsidentin über ihren Verdacht in Kenntnis setzt, ganz tief. Als Tereza im Begriff ist, ihn zu verlassen, stürzt sie bei einer Rangelei mit ihm von der Treppe und stirbt.

Mischa Reichelt gibt schließlich zu, seine Subis mit illegalen Aufputschmedikamenten für ihre mörderischen Schichten wach gehalten zu haben; Iije Balan ist wahrscheinlich wegen eines durch diese Medikamente ausgelösten Krampfanfalls ungebremst in die Studentengruppe gerast. Seine Beatmungsmaschine wird abgestellt, nachdem er für hirntot erklärt wurde.

Inmitten von Gefühlswallungen (Lindholm und Nick Schmitz, gespielt von Daniel Donskoy, haben Anais betrogen), Schmerz und Bestürzung beschließt Charlotte Lindholm, ihre Rückversetzung nach Hannover zu beantragen. Kein Wunder, immerhin ziehen in Göttingen nun alle über sie her (gesammelt): „du hast Freunde? … du hast kein Privatleben … Wahnvorstellungen … was an „er hatte es nicht im Blut“ hast du eigentlich nicht verstanden … sie haben ein Problem mit Hierarchie … und Teamfähigkeit …“ Außerdem wird nach Liebigs Suizidversuch und Suspendierung (aufgrund der Umstände des Todes seiner Frau) demnächst Anais ihre Chefin sein, und mit der kam sie schon immer nicht ganz klar.

Demnächst wird also im Tatort Hannover wieder Maria Furtwängler zu sehen sein, Florence Kasumba soll, wie der NDR hofft, zwar „darüber hinaus für andere Projekte erhalten bleiben“, aber es scheint, dass es die Schauspielerin nach einem letzten geplanten Tatort-Einsatz an der Seite von Kommissar Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) 2025 eher weg vom gehobenen Polizeidienst hin zu Superheldinnen-Rollen in Hollywood zieht.

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