Der Kanzler im ARD-Sommerinterview: Brigitte-Talk statt Geopolitik
Marco Gallina
Der öffentlich-rechtliche Journalismus bleibt bei kritischen Fragen im Merkel-Modus. Wohl nicht, weil man Scholz dieselbe Sympathie wie Merkel entgegenbrächte. Jedoch aus dem Interesse heraus, nicht die eigene politische Position zu desavouieren.
Das ARD-Sommerinterview ist eine Institution des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und es ist in vergleichbarer Lage wie andere Institutionen der alternden Bundesrepublik. Ähnlich wie die SPD immer noch die beherrschende Stellung innerhalb von Vereinen, Presse und Stiftungen behalten hat, obwohl von der einst stolzen Volkspartei nur noch wenig übrig ist, behauptet sich das Sommerinterview als Anlaufstelle des bundesdeutschen Politzirkus‘ in der politischen Sommerpause.
Wie stark Anspruch und Realität auseinandergehen, zeigen die Quoten: nur noch 1,26 Millionen Zuschauer erreicht das Programm. In der Gruppe der Zuschauer unter 50 Jahren interessierten sich nur 250.000 Personen für die Worte des Bundeskanzlers. Die Relevanz des Formats leidet. Ähnlich wie sich der Trend verfestigt, dass womöglich bald nur noch Parteimitglieder Parteien wählen, schauen vielleicht bald nur noch Journalisten Journalisten zu.
Bei den Menschen unter 50 Jahren hatte Scholz weniger als 250 000 Zuschauer. Scholz zieht…
— ??? Mario ??? Thurnes ?????????? (@Rioramscht) July 4, 2022
Moderatorin Tina Hassel beginnt die Sendung mit einem locker-flockig daherkommenden Vergleich des amtierenden Bundeskanzlers mit dem JuSo-Lockenkopf der Vergangenheit. Wie gut sich die beiden Persönlichkeiten denn heute verstünden? Olaf Scholz versichert: beide eine bis heute das Thema „Gerechtigkeit“. In der Sozialdemokratie bedeutet Gerechtigkeit durchweg „soziale Gerechtigkeit“ – in Zeiten von Energiekrise, Inflation und Preissteigerung müsste Scholz also punkten können.
Die Interviewerin Hassel besticht durch ein einzigartiges Talent. Die Themen sind zwar richtig gewählt. Das Interview erscheint bei ihr wie eine mittelalterliche Belagerung samt passenden Belagerungswaffen – aber diese werden völlig nutzlos eingesetzt. Das Thema Preissteigerung nimmt den gebührenden Platz ein, doch kein einziger Aufschlag Hassels will überzeugen – womöglich, weil man die Burgmauern der Kanzlerfestung gar nicht einreißen will?
So fragt Hassel nach dem Preis von Butter und Erdbeeren im Supermarkt – die Scholz überraschend richtig beantwortet – oder weist auf 13,8 Millionen Menschen in Deutschland hin, die 2021 kein sicheres Auskommen hatten. Scholz kann jedoch immer wieder über Allgemeinplätze entkommen. Schon im Wahlkampf habe er für einen höheren Mindestlohn und ein garantiertes Rentenniveau geworben. Das vom Kanzler mehrmals vorgestellte Allheilmittel heißt „Konzertierte Aktion“. Und obwohl Scholz diese am Montag beginnenden Treffen aus Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften als Ausweg aufbaut, dämpft er zugleich die Erwartungen auf konkrete Ergebnisse. Dass sie stattfinden und einen öffentlichen Eindruck machen, ist ihm womöglich wichtiger.
Verblüffend ist eine solche Ankündigung deswegen, weil Hassel im Verlauf des Interviews eine Hartz-IV-Empfängerin, eine Rentnerin, und einen Facharbeiter vorstellt, deren Hauptargument darin liegt, dass sie nicht irgendwann 2023, sondern jetzt Hilfe bräuchten. Die Moderatorin hakt wenigstens einmal nach: wo bleibt das nächste Entastungspaket? Der Kanzler: Erst jetzt habe es ein 30-Milliarden-Paket gegeben, die Auswirkungen des Pakets müssten noch greifen, weitere Entlastungen seien nicht zu erwarten. Heißt, Scholz sieht dem Sommerurlaub entgegen und hat kein Interesse daran, sich von einer ARD-Moderatorin aufhalten zu lassen. Am Freitag ist die letzte Bundestagssitzung vor der Sommerpause. Das Parlament tritt erst wieder am 5. September zusammen.
Dass jemand noch an ein langfristiges Programm denkt, um den Großteil der Bevölkerung zu entlasten, bleibt Wunschdenken. Denn auch im Hauptstadtstudio sind die Betroffenen im Gespräch immer nur Geringverdiener oder Transferleistungsempfänger. Dass die Krise bis weit in den Mittelstand vorgedrungen ist, hat sich offenbar weder bis zu Scholz noch zu Hassel herumgesprochen. Für die woke ARD existieren Familien sowieso nicht.
Neuerlich gewinnt also Scholz, weil ihn niemand dort stellt, wo es wehtut. Später wird der Sozialdemokrat davon sprechen, dass die Energiepreise zum „sozialen Sprengstoff“ werden könnten. Er mache sich „große Sorgen“. Aber wie geht das dann damit zusammen, dass der Kanzler zugleich keinen Anlass sieht, weitere Entlastungen anzustreben? Hassel greift den Widerspruch nicht auf. Ebenso kann Scholz davon sprechen, dass die Bundesregierung „alles, was möglich ist“ tue, damit die Energieversorgung funktioniere. Aber wie passt das mit dem Ende der Kernkraft zum Jahresschluss zusammen?
Der öffentlich-rechtliche Journalismus bleibt bei solchen Fragen im Merkel-Modus. Vermutlich nicht, weil man Scholz dieselbe Sympathie wie Merkel entgegenbrächte. Jedoch aus dem offenkundigen Interesse heraus, nicht die eigene politische Position zu desavouieren. Der Elefant im Raum kommt nicht zur Sprache, nämlich, dass die Energiekrise nicht nur ein globales Phänomen ist, das bereits im Spätsommer 2021 begonnen hat, sondern auch spezifisch deutsche Komponenten in Sachen Energiewende beinhaltet.
Scholz kann kommentarlos über den mit Tempo vorangetriebenen Ausbau der Erneuerbaren fabulieren, ohne, dass jemand darauf hinweist, dass dieses Projekt nur mit der „Brückentechnologie“ Gas möglich war und ist. Unwidersprochen erscheint Putins Angriff auf die Ukraine als monokausale Erklärung des ganzen Übels.
In dem Zusammenhang sorgt eine Passage für gleich mehrere Fragen. Scholz sagt, er habe bereits im Dezember festgestellt, dass es keine Pläne im Fall eines russischen Gasstopps gegeben habe. Damit wälzt er die Verantwortung auf die Vorgängerregierung ab – der er mitsamt seiner Partei angehört hat. Die Lage auf den Energiemärkten war jedoch bereits seit September 2021 angespannt, insbesondere im Gas-Sektor. Warum hat aber Scholz dann nicht direkt etwas unternommen, statt auf Habecks Kotau vor den Scheichs im Frühjahr zu warten? Warum importierten wir Fracking-Gas, verzichten aber auf eigene Fracking-Förderung? Und: warum kommen wir vom Gas nicht los? Sie erraten es: Widersprüche, aber kein Nachhaken.
Die Bundesbürger bangen um die warme Wohnung im Winter, darum, ob sie noch täglich duschen dürfen, und ob Strom bald ein sparsam eingeschränkter Luxus ist – doch die drängendste Frage für Hassel sind persönliche Befindlichkeiten. Die ARD-Journalistin verschwendet Minuten, indem sie über die Arroganz von Olaf Scholz philosophiert; nicht die Nichtauskunft des Kanzlers über die an die Ukraine gewährten Sicherheitsgarantien, sondern der mangelnde Respekt vor der Journalistenkollegin der Deutschen Welle liegt ihr am Herzen. Person, Emotion und Stand gehen vor Inhalt. Auffällig: das Thema Ukraine ist im 30-minütigen Interview nur im Scheinwerferlicht, als es darum geht, wie Scholz die Bilder bei seinem Ukraine-Besuch verarbeitet habe und ob er darüber mit seiner Frau spreche. Brigitte-Talk schlägt Geopolitik.
Zuletzt: das leidige Corona-Thema. Hier gesteht Scholz eine „völlig veränderte Situation“ ein, angesichts der Impfung und der Bedrohungslage. Ja, in Deutschland seien sogar mehr Menschen geimpft als anderswo – Argumente, die vor einem Vierteljahr noch ins Reich der rechtspopulistischen Schaumschläger verbannt wurden. Schulschließungen solle es nicht mehr geben. Eine Gegenfrage, wie all das mit dem Panik-Modus des Gesundheitsministers Karl Lauterbach übereinstimmt, bleibt aus – wie immer.
Doch Scholz lässt sich Spielräume offen. Denn wenn der Kanzler sagt, dass man einen Lockdown, wie man ihn in den letzten Jahren hatte, nicht mehr brauche, dann schließt das einen „Lockdown-light“ nicht aus. Über eine Testpflicht an Schulen und Kitas müsse man „diskutieren“. Und die Maskenpflicht in Innenräumen? „Man muss davon ausgehen, dass die Maske in Herbst und Winter wieder eine größere Rolle spielt als jetzt“, sagt Scholz. Zuletzt macht Scholz Werbung für die Impfung. Er sei viermal geimpft und habe bisher kein Corona gehabt. „Es hilft wirklich“, betont Scholz. Er ermuntert alle Personen über 60, es ähnlich zu tun. Vielleicht, weil die Impfpflicht für Ältere ab Herbst sonst doch wieder auf dem Tableau steht?
Was zuletzt bleibt, ist die Warnung, dass die Krise, die wir erleben, „uns noch lange beschäftigen“ wird, wie der Kanzler sagt. Sie hat aber ebenso wenig ihren Ursprung im Ukraine-Krieg, wie sie ihr Ende mit einem Frieden in der Ukraine finden würde. Die im Spätsommer als kleine, vorübergehende, ja begrüßenswerte Entwicklung bezeichnete Inflation hat sich als gefräßiges Monster entpuppt, das man mit noch größeren Schulden füttert. Die Energiekrise soll mit jenen Methoden bekämpft werden, mit denen sie begonnen hat. Die offensichtlichste Entlastung des Bürgers durch billige Energie bleibt eine unerwünschte Idee: in Berlin gelten 9-Euro-Ticket, Tankrabatt und Kinderbonus als großer Erfolg, um Unter- und Mittelschicht zu entlasten. Dabei könnte der gut informierte Kanzler leicht berechnen, wie viel Erdbeeren und Butter wer sich unter diesen Voraussetzungen noch in der Woche leisten kann.
In der ersten Ölkrise fasste die französische Regierung den langfristigen Beschluss, sich von Öl und Gas unabhängig zu machen, indem man auf einen langfristigen Ausbau der Kernkraft setzte. Die deutsche Regierung träumte dagegen in einer Zeit des Wohlstands vom Umbau des Energiesektors – und machte sich von ausländischem Gas abhängig. In einer Zeit, in der ein sozialdemokratischer Kanzler mit einem grünen Einflüsterer und einem pseudoliberalen Anhang die Verteilung von Gutscheinen, zu versteuernden „Prämien“ und Chaos-Tickets als großen Wurf feiert, ist ein Ende der Krise noch lange nicht in Sicht.
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