Tichys Einblick
Röttgen und die FDP

Fake-Nuss: Koalitionsverhandlungen, die niemand führte

Norbert Röttgen möchte nicht mit der FDP koalieren. Etliche Medien garnieren diese Meldung mit Erzählungen von den geplatzten Jamaika-Koalitionsverhandlungen 2017. Nur: Die fanden nie statt.

In einem Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“ erklärte der Kandidat für den CDU-Vorsitz Norbert Röttgen, er wolle, sollte er an die Parteispitze gewählt werden, keine Koalition mit der FDP eingehen. Die Festlegung ist bemerkenswert; noch nie in der Geschichte der Christdemokraten gab es jemand an der Spitze, der eine Koalition mit den Freidemokraten generell ablehnte. Röttgen schließt eine Zusammenarbeit nur mit zwei Parteien aus: der AfD und der FDP. In dem Interview begründete er seine Position mit dem Vorwurf, die FDP habe sich 2017 einer Jamaika-Koalition verweigert.

„Kann ja sein“, so Röttgen, „dass die FDP jetzt auf einmal wieder auf die Idee gekommen ist, dass der Sinn von Politik auch darin bestehen könnte, zu gestalten, zu entscheiden und zu regieren. Doch die FDP hat ein historisches Versagen zu verantworten, indem sie sich nach zwei Großen Koalitionen einem neuen Anfang und der Regierungsverantwortung verweigert hat. Das werden die Wähler nicht vergessen.“

Bei Röttgen, der bekanntlich eine Landtagswahl und sein Ministeramt verlor, weil er sich 2012 weigerte, unabhängig vom Wahlausgang von Berlin nach Düsseldorf zu wechseln, sitzt der Begriff „historisches Versagen“ erstaunlich locker.
Bemerkenswert ist, wie mehrere Medien die Geschichte des vorgeblichen historischen Versagens der FDP 2017 und die der damaligen Verhandlungen erzählen. Der Spiegel gibt Röttgens Interviewaussage folgendermaßen wieder:

Screenprint: spiegel.de

„Die Liberalen hätten ‚ein historisches Versagen zu verantworten’ indem sie nach der Wahl von 2017 die Regierungsverantwortung verweigert hätten, sagte der Außenpolitiker und frühere Bundesumweltminister der ‚Augsburger Allgemeinen’. Er bezog sich damit auf den damaligen Ausstieg der FDP aus den Koalitionsverhandlungen mit der Union und den Grünen.“

Damit beschreibt das Blatt ein Ereignis, das nie stattgefunden hatte. Niemand führte 2017 Jamaika-Koalitionsverhandlungen. Aus ihnen konnte folglich niemand aussteigen. Was es damals gab, waren Sondierungsgespräche zwischen CSU, CDU, Grünen und FDP, also Gespräche mit dem Ziel, herauszufinden, ob die Gemeinsamkeit für die Aufnahme von Koalitionsgesprächen reichen würde. Die Spitzen aller vier Parteien erklärten zu Beginn der Sondierung, sie werde ergebnisoffen geführt. Niemand hatte sich zu anschließenden Koalitionsverhandlungen verpflichtet. Schon gar nicht zu einem Regierungsbündnis.

Der Sinn einer Sondierung besteht schließlich darin, zu prüfen, ob die Aushandlung eines Koalitionsvertrags überhaupt Sinn ergibt. Bekanntlich kam die FDP zu dem Schluss, das Vertrauen reiche nicht. Ihre Sondierungsbeauftragten hatten – nicht grundlos – den Eindruck gewonnen, dass Angela Merkel seinerzeit eigentlich nur mit den Grünen harmonierte, und die FDP, die sie zur Mehrheit notgedrungen brauchte, in wesentlichen Punkten ausmanövrieren wollte.

FDP-Chef Lindner fand unter diesen Bedingungen, es reiche eben nicht, und traf damit eine Feststellung, die sich grundsätzlich auch jeder der anderen Parteichefs für die Sondierung vorbehalten hatte.

Auch der Stern erzählt die gleiche alternative Geschichte wie der Spiegel: „Der CDU-Vorsitzkandidat Norbert Röttgen hat sich gegen eine Koalition mit der FDP nach der kommenden Bundestagswahl ausgesprochen. Die FDP habe ‚ein historisches Versagen zu verantworten’, indem sie nach der Wahl von 2017 die Regierungsverantwortung verweigert habe, sagte der Außenpolitiker und frühere Bundesumweltminister der „Augsburger Allgemeinen“ (Mittwochsausgabe). Er bezog sich damit auf den damaligen Ausstieg der FDP aus den Koalitionsverhandlungen mit der Union und den Grünen.“

Im Tagesspiegel heißt es: „Auch die Wähler würden das Scheitern der Verhandlungen über eine sogenannte Jamaika-Koalition vor drei Jahren nicht vergessen, betonte Röttgen.“
Einen Schritt weiter geht die WELT: „’Kann ja sein, dass die FDP jetzt auf einmal wieder auf die Idee gekommen ist, dass der Sinn von Politik auch darin bestehen könnte, zu gestalten, zu entscheiden und zu regieren’, sagte Röttgen. Doch auch die Wähler würden das Scheitern der Jamaikakoalition vor drei Jahren nicht vergessen.“

Bei ihr scheitern nicht nur Verhandlungen nachträglich, die es nie gab, sondern gleich eine ganze Koalition, die in Wirklichkeit nie zustande kam. Das ist ungefähr so, als würde ein Medium über die Ehescheidung von Leuten berichten, die schon nach einer kurzen Verlobungsphase festgestellt hatten, dass es nicht passt.

Vor mehr als drei Jahren kam eine grüne Regierungsbeteiligung deshalb nicht zustande, weil die FDP in der Vorrunde nicht bereit war, nur als Mehrheitsbeschaffer aufzutreten. Diesen Entschluss verziehen ihr die meisten Berliner Journalisten nie – auch später nicht, als sich die Liberalen so stark an die Zeitströmung anpassten, dass sich jeder fragen musste, warum der gleiche Christian Lindner damals nicht mitmachen wollte.

Viele Mitglieder des Hauptstadt-Pressekorps fühlten sich nach dem erfolglosen Ende der Sondierung auch persönlich gekränkt: sie hatten fest mit der Koalition gerechnet und ihren Lesern schon Kabinettslisten vorgestellt.

Die nicht nur in den Beiträgen zu Röttgens Interview immer wiederkehrende Satzbausteine von den „geplatzten Jamaika-Koalitionsverhandlungen“, der „Flucht der FDP aus Regierungsverantwortung“ und ähnlichen Wendungen bieten ein schönes Beispiel dafür, wie ein bestimmtes Narrativ von Politikern und Medien das tatsächliche Ereignis überschreibt und allmählich aus dem Gedächtnis verdrängt – zugunsten einer nachträglich konstruierten Geschichte. So, wie viele Journalisten mittlerweile das Bild des Dolchstoßes der FDP gegen die fast schon abgeschlossenen Koalitionsverhandlung verinnerlicht haben, finden sich auch viele, die fest davon überzeugt sind, 2018 habe es in Chemnitz eine auf Video festgehaltene Hetzjagd auf Ausländer gegeben  – während sie sich an den eigentlichen Anlass der Demonstrationen in der Stadt nur noch verschwommen erinnern können. Psychologen sprechen von false memory; an dieser falschen Erinnerung halten die Betroffenen oft auch dann fest, wenn ihnen Belege dafür präsentiert werden, dass sie ein Ereignis kontrafaktisch wiedergeben.

In Corona-Zeiten erreicht das Phänomen der kollektiven Gedächtnisüberschreibung im medial-politischen Komplex übrigens noch einmal eine ganz andere Bedeutung. An ihre eigene Erklärung von Anfang 2020 beispielsweise, dass Masken gegen die Virusverbreitung nichts nutzen, können sich heute die wenigsten Journalisten und Politiker noch entsinnen. Auch nicht an die Warnung, wer das Virus für gefährlicher als die Grippe halte, betreibe das Geschäft der Rechten.

Dafür erinnern sie sich heute synchron, schon sehr früh auf die Gefahr von Covid-19 aufmerksam gemacht zu haben.

Zu der Erzählung von den „geplatzten Koalitionsverhandlungen“ 2017 und dem unsicheren Kantonisten FDP gehört noch eine Pointe. Nach der Bundestagswahl 2013 hatte es eine rechnerische Mehrheit für Union und Grüne gegeben. Beide Seiten führten Sondierungsgespräche – an deren Ende die Grünen-Delegation die Aufnahme von Koalitionsgesprächen ablehnte. Cem Özdemir und Claudia Roth taten also damals das gleiche wie die FDP 2017. Allerdings mit dem Unterschied, dass niemand anschließend die Erzählung von gescheiterten Koalitionsgesprächen und den unzuverlässigen grünen Kantonisten in Umlauf brachte. Nach seinen eigenen Maßstäben müsste Röttgen heute auch eine Koalition mit den Grünen ausschließen.

Der Spiegel schrieb 2013 verständnisvoll über die Grünen: „Sie haben intensiv verhandelt – aber am Ende war ihnen das Wagnis doch zu groß: Die Grünen lehnen Koalitionsgespräche mit der Union ab.“

Damals lautete die Deutung bei den meisten Hauptstadtjournalisten: die Union sei den Grünen zu wenig entgegengekommen – CDU und CSU seien eben mental noch nicht weit genug gewesen.

Das passiert 2021 nicht noch einmal. Eine dritte Partei dürfte für das Bündnis anders als 2017 nicht gebraucht werden. Weder Sondierungen noch Verhandlungen für Schwarz-Grün werden sich ab September lange hinziehen – egal, wer in der kommenden Woche an die Spitze der CDU rückt.

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