Tichys Einblick
Sex, Drugs & Rammstein

Ein amoralischer Sumpf kognitiver Dissonanz

Sex, Drogen und Rock & Roll wurden zelebriert. Augenzwinkernd werden wüste sexualisierte Szenen der Band Rammstein in den letzten Jahren von Medien immer wieder verklärt oder verherrlicht, weil sie aus linker Sicht „ironisch“ zu verstehen seien – und dann wird Backstage „möglicherweise doch nicht Mikado gespielt“, wie Harald Schmidt feststellt.

Wie man in letzter Zeit bereits öfter feststellen durfte, hat heutzutage nichts mehr mit etwas anderem zu tun und Grenzen sollen nicht existieren. Nur so ist es zu erklären, dass die mediale Öffentlichkeit, nachdem sie seit 60 Jahren Sex, Drogen und Rock & Roll zelebriert, plötzlich überrascht wirkt, dass bei den Feiern nach Rock-Konzerten tatsächlich Sex und Drogen im Spiel sind. Ein klassischer Fall von „Nein! Doch! Oh!“

Doch das ist erst der Beginn der kognitiven Dissonanz in der Berichterstattung über die Missbrauchsvorwürfe gegen Till Lindemann. Disclaimer: Nichts rechtfertigt oder entschuldigt Gewalt. Es ist die Aufgabe von Polizei und Gerichten, dies festzustellen. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Reaktionen interessanter als die Aktionen, die noch im Dunkeln der Aufklärung harren.

Der Fall Rammstein, so weit bekannt

Für diejenigen, die es noch nicht mitbekommen haben sollten: Mehrere junge Frauen, es melden sich immer mehr (manche Quellen sprechen von Dutzenden), berichteten, gezielt für sogenannte Aftershow-Parties der Band Rammstein rekrutiert worden zu sein. Die Russin Alena Makeeva, die sich selbst als „Casting-Direktorin“ für Rammstein bezeichnete, trat dabei an junge, attraktive Frauen in Clubs und im Internet heran und lud sie ein, nicht nur in der sogenannten „Reihe Null“, also direkt vor der Bühne, das Konzert zu erleben, sondern darüber hinaus auch noch an einer privaten Feier nach dem Konzert teilzunehmen. Das Versprechen, den Sänger der Band, Till Lindemann, persönlich kennenzulernen, dürfte dabei immer in der Luft gelegen haben.

Doch die Berichte der jungen Frauen, die sich nun an die Öffentlichkeit wenden, beschreiben ein Szenario, in dem ihnen ihre Handys abgenommen und sie in einen Raum geführt wurden, in dem außer Alkohol und Drogen nur zwei Sofas waren. Dort saßen aufgereiht andere „Kandidatinnen“, die Till Lindemann höchstpersönlich begutachtete und von denen eine „auserwählt“ wurde, um vor, während oder nach dem Konzert sexuelle Kontakte mit ihm zu haben. Mehrfach wurde insinuiert, dass womöglich KO-Tropfen zum Einsatz kamen, doch diese sind bekanntlich schwer nachweisbar.

Unbestritten scheint aber zu sein, dass es zu regelmäßigen sexuellen Kontakten zwischen jungen Frauen und Till Lindemann kam, wobei die Damen während und nach dem Vollzug häufig mehr oder weniger benommen (oder gar bewusstlos) waren. Die daraus resultierenden Vorwürfe stellen die Einvernehmlichkeit dieser sexuellen Kontakte in Frage; die dazugehörige Diskussion behandelt populäre Allgemeinplätze wie Machtmissbrauch, an denen sich ein breiteres politisches Themenfeld beackern lässt.

Die Befangenheit des linken Feuilletons

Bevor man sich dem im Detail widmet, muss betont werden, dass wie immer auch hier die Unschuldsvermutung gilt. Bemerkenswert ist allerdings, dass im Falle von Rammstein sich selbst die Süddeutsche Zeitung dazu aufrafft, eine separate Stellungnahme zu veröffentlichen, in der sie auf die mit der Unschuldsvermutung einhergehenden journalistischen Prinzipien verweist. Man erklärt die Vorwürfe zwar für plausibel, aber der Leser merkt: Es tut ihnen weh, dass sie doch wahr sein könnten.

Googelt man die Süddeutsche und den Begriff „Unschuldsvermutung“, so finden sich weniger als ein halbes Dutzend Artikel seit 2010, die auf die Gültigkeit der Unschuldsvermutung verweisen, darunter Artikel über Gil Ofarim und Sebastian Edathy, in denen jeweils Anwälte zu dieser Frage zitiert wurden, sowie ein Beitrag über die im Zuge der „Reichsbürgerrazzia“ verhaftete ehemalige AfD-Abgeordnete Malsack-Winkemann, in dem die AfD auf die geltende Unschuldsvermutung verwies. Nun also die SZ in „eigener Sache“ für Till Lindemann.

Das darf auch nicht weiter verwundern, denn Rammstein zehrt seit jeher von der eingangs zitierten kognitiven Dissonanz. Die unverhohlen immer wieder mit faschistoider Ästhetik flirtende Gruppe bekommt im Deutschland der politischen Korrektheit seit Jahrzehnten einen Freifahrtschein, der nur durch die betont linke politische Positionierung Rammsteins zu erklären ist. Ironie solchen Ausmaßes kann nur dann durchgehen, wenn nominell kein Zweifel an der Rechtgläubigkeit (bzw. Linksgläubigkeit) der Beteiligten bestehen kann. Doch wie links muss man sein, um all jene Grenzüberschreitungen begehen zu dürfen, die Rammstein und Till Lindemann in ihrer Karriere auf dem Kerbholz haben? Und bevor der Leser protestiert, stellen Sie sich kurz nur eine der hier im Nachgang beschriebenen Szenen, zum Beispiel bei einem deutschen Schlagersänger in Lederhosen und dem Umgang der Medien mit ihm, vor.

Rammstein war sehr viele Jahre Liebling des linken Mainstreams, der scheinbar in der ironischen Überhöhung pseudo-germanischer Rock-Ästhetik ein Auslassventil für ein Bedürfnis befriedigt sieht, das er sich ansonsten abgewöhnt hat. Germanisch grunzen und grölen darf man nicht, das ist rechts, aber wenn man es „ironisch“ macht, dann ist es doch wieder in Ordnung. So zumindest der Eindruck eines Musikers, der zugegebenermaßen mit der Ästhetik der Hässlichkeit und der Gewalt nie wirklich etwas anfangen konnte.

Die Schlachtung der heiligen Kuh Rammstein mag wie ein Nebenschauplatz erscheinen, ist aber vielleicht der interessanteste Aspekt an der gesamten Affäre. Denn die strafrechtliche Untersuchung der Vorwürfe gegen Till Lindemann ist und bleibt letztlich Aufgabe der Justiz. Wohl aber lässt sich darüber debattieren, warum die Süddeutsche regelmäßig über Missbrauchsvorwürfe in der katholischen Kirche berichtet, dabei aber nie das Wort Unschuldsvermutung Eingang in die Artikel findet.

Der Zweck heiligt den Porno

Denn Unschuldsvermutung, das darf niemals vergessen werden, hat nichts mit der Sympathie zu tun, die man für einen Täter empfindet, oder der vermeintlichen Offensichtlichkeit. Sie ist ein juristischer Schutzmechanismus, der (politischen) Missbrauch des Rechts verhindern soll. Er sollte daher vor allem dem vermeintlichen Feind zustehen, da dieser eben nicht auf unsere Sympathie zählen kann.

Bei der Süddeutschen gilt die Unschuldsvermutung aber vor allem Freunden. Wie Rammstein eben. Im August 2019 noch sang man dort das Hohelied auf Rammstein, die „auch soft provozieren“ konnten, da zwei ihrer Bandmitglieder sich bei einem Auftritt in Moskau auf der Bühne küssten und damit Putin so richtig eins auswischten. Der Artikel aus dem dpa-Newskanal begann mit den Worten: „Sex geht immer bei Rammstein. Oder Gewalt. Gern auch in Kombination. Die Band aus Berlin ist bekannt für harte Texte und martialisches Auftreten.“ Sex und Gewalt, genau das, wovon nun junge Frauen in Scharen berichten.

Ja, wer hätte denn wissen können, dass …

Nun, jedermann. Als Till Lindemann 2020 einfach mal einen Porno drehte und diesen zum Musikvideo für sein Lied „Till the End“ erklärte, stieß das zwar in Russland – in dem Teile des Pornos gedreht wurden – auf große Empörung und führte dort selbst zur Verfolgung einiger der darin vorkommenden Russinnen durch nationalistische Gruppen, doch im Westen herrschte größtenteils achselzuckende Funkstille. Ein Blick in die Süddeutsche Zeitung offenbart wiederum, dass bereits 2010, als Rammstein für sein geschmackvoll getiteltes Lied „Pussy“ ebenfalls bereits einen Porno drehte, der Feuilleton der Alpenprawda eben diesen Porno zur „Unabhängigkeitserklärung von Rammstein“ verklärte. „Schmierige Pornografie, die doch zeigt, dass die Berliner in Regionen vorstoßen, die nie zuvor eine deutsche Band ergründet hat.“

Es ist wohl gar nicht so leicht für die Süddeutsche, jedes Mal exakt einschätzen zu können, ob Pornografie nun aus feministischer Perspektive frauenverachtend, patriarchal, gewalttätig, ausbeuterisch und natürlich sexistisch ist, oder ob sie – ebenfalls aus feministischer Perspektive – befreiend, selbstbestimmend, „empowernd“ und künstlerisch ist. Die einzig gültige Faustregel scheint zu sein: Gefällt mir die Weltanschauung der Nackten, dann gilt es als Kunst, ansonsten ist es Schund. Bislang galt es wohl als Teil des Gesamtkunstwerks Rammstein.

Das könnte sich nun schlagartig ändern, denn wenn sich angesichts der Anschuldigungen nicht länger die schützende Hand über die Lieblingskrawallos der Nation halten lässt, wird auch der verkappteste Leder-Masochist des Feuilletons schauen müssen, dass ihm nicht die Felle davon schwimmen.

Moralische Nüchternheit gegen progressive Naivität

Das führt zum Beispiel jener jungen Frauen, die womöglich tatsächlich unwissend in solch eine Situation hineinstolpern. Hier kommt man zum unweigerlichen Schluss, dass wir als Gesellschaft erzieherisch versagen, und zwar auf vielen Ebenen. Denn wer glaubt, nur weil man so sympathisch ist, in die erste Reihe zu einem Konzert einer Band eingeladen zu werden, deren Sänger während des Liedes „Pussy“ üblicherweise auf einem Riesengemächt reitet, und denkt, bei der Backstage-Feier lediglich anregende Gespräche über Hegels Phänomenologie des Geistes zu führen, der glaubt wirklich, dass nichts mit anderen Dingen zu tun habe. Harald Schmidt merkte jüngst an, dass bei Rammstein Backstage „nicht nur Mikado gespielt wird“.

Die Medienlandschaft kann sich so viel sie will über Rammstein und Till Lindemann entrüsten, aber das passt nicht dazu, dass in den Redaktionsstuben bis vor kurzem oder sogar bis heute der Mythos von Sex, Drugs und Rock & Roll glorifiziert und dann aber ganz überrascht und empört getan wird, wenn er aus dem Schwarz-Weiß-Film der frühen Rolling Stones in die Realität übertritt.

Uferlosigkeit mit gleichzeitiger Einhaltung ausgedachter Wohlfühl-Grenzen funktioniert nicht, das erkennen wir Tag für Tag an den vielen Brandherden unserer Gesellschaft. Wir erleben eine weitere Bankrotterklärung der progressiven Utopie und ihrer willfährigen medialen Handlanger, die absolute Schrankenlosigkeit einfordern und vorgeben, über deren Konsequenzen erstaunt zu sein, da nichts miteinander zu tun hat.

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