Tichys Einblick
Sonntagskrimi aus Rostock

„Es wird ernst“: Wenn der Polizeiruf ein Schrei nach Rache ist

Für jedes Adventskerzchen gibt es beim Sonntagskrimi aus Rostock einen SM-Klub, außerdem jede Menge Blut und Gewalt. Das gefällt nicht allen.

Screenprint: ARD / Nur Gespenster

Wieder einmal verhebt sich ein Krimi dabei, ein viel zu gewichtiges Thema dem Publikum mit dem Vorschlaghammer einzutrichtern. Regisseur Andreas Herzog drückt das geschraubt so aus: „eine Ebene … eine Aufmerksamkeit … schaffen, die es einem nicht erlaubt wegzuschauen … dass diese Dinge in jedermanns sozialem Umfeld passieren können. So was gibt es, und man sollte sich damit auseinandersetzen.“ Er jedenfalls ist der Meinung, das könne „so ein Film am Sonntagabend schon leisten und das kann man auch vom Zuschauer verlangen“.

Vater missbraucht Tochter (6 Jahre alt) und gibt sie an pädophilen Schönheitschirurgen weiter. Tochter wird deshalb drogen- und magersüchtig, bringt sich schließlich um. Mutter schaut weg, meint, dass sie sich nicht so haben solle, das wäre ihr ja auch passiert. Bruder wird Zeuge, fasst Jahre später perfiden Plan, die Täter und auch seine Mutter erst zu foltern und dann bestialisch umzubringen.

Regisseur Herzog findet, dass man sich da eigentlich noch zurückgehalten habe: „Eigentlich ahnt man mehr, als man sieht. Das Ganze findet in einer filmischen Überhöhung statt, weil man es sonst nicht aushalten kann. Ich finde, man muss dieses Thema emotional so brutal wie möglich erzählen, so brutal, wie es der Sendeplatz, also der Sonntagabend im deutschen Fernsehen, zulässt. Aber natürlich nicht auf eine Art und Weise, dass es Brutalität ist im Sinne von Splatter und Blut und so weiter. Deshalb haben wir diese Unschärfen und die Zeitlupen gewählt.“

Und auch Carsten Heidböhmer hat beim Stern eigentlich nur am Sendetermin etwas auszusetzen:„Kritikwürdig ist einzig der Ausstrahlungstermin. Eine Woche vor Heiligabend könnten viele Zuschauer auf der Suche nach etwas Besinnlicherem wegschalten – was schade wäre.“

Risiken und Nebenwirkungen für Otto Normalzuseher: Rostock wieder mal anders erleben

Die Warnhinweise im Vorspann spart sich die ARD, denn laut Drehbuchautorin Astrid Ströher hätte die dort gezeigte „kurze Erzählung in Bildern“ dem Zuschauer schon signalisieren müssen: „Das wird jetzt ein Film, der wehtut. Es wird ernst. Wir sagen nicht nur, hier sind Dinge passiert, von denen noch nicht klar ist, wie sie zusammenhängen, um dadurch Neugier zu entfachen, sondern lösen gleich eine Art Unbehagen aus, das dann im weiteren Verlauf auf verschiedenen Ebenen, auch durch die Musik, weitergeführt wird.“

Tiefgründiger Rahmen für ein „Rostock Chainsaw Massacre“?

Sie habe „die Zuschauerreaktionen auf dem Filmkunstfestival Schwerin erlebt. Nach dem Ende der Vorführung herrschte Totenstille im Raum. Die Leute waren sehr betroffen, und eine Frau fragte: „Warum sollen wir uns so was ansehen?“ Die Autorin meint, der Film „versuche, dem Zuschauer die Relevanz und Ernsthaftigkeit des Themas in einer emotionalen Tiefe nahezubringen, und das finde sie wichtig“.

Warum nur hat man bei diesem Polizeiruf dann den Eindruck, dass hauptsächlich die Brutalität der Morde dazu dient, Emotionen hervorzurufen? Die explizite Gewaltorgie in seinem Streifen scheint Kameramann Markus Kanter mit anderen Augen zu sehen, denn er meint, dass „Gewalt im Film stärker ist, wenn man sie nicht offensichtlich zeigt“. Es solle „ja keine voyeuristische Darbietung sein, wir wollen das Geheimnis der Geschichte und den inneren Schmerz spürbar machen“.

Trotz Kristall-Sonnenfänger am Fenster, VW-Käfer-Handel, Klavier im Wohnzimmer: ein Abgrund

Evelyn Sonntag (Judith Engel) lebt in der Rostocker Bilderbuchvorstadt, mit Ehemann Robert (Holger Daemgen), der augenscheinlich gutes Geld im Oldtimer-Handel verdient. Komplett wird die bürgerliche Idylle mit liebevoll dekoriertem EFH, wo man im Garten frühstückt und sich von Sohn Hendrik (Adrian Grünewald) selten ohne ein zart gehauchtes „hab’ dich lieb!“ verabschiedet. Evelyn berät andere Menschen bei ernsten Problemen als Mitarbeiterin der Telefonseelsorge – der Wink des Drehbuchs mit dem Zaunpfahl, dass sie da, was ihr eigenes Umfeld angeht, Defizite haben könnte. Die rebellische Tochter Jessica wurde nach ihrem rätselhaften Verschwinden vor 15 Jahren für tot erklärt – auf dem Friedhof gibt es ein süß geschmücktes Grab, aber ohne Leichnam. Evelyn fühlt trotzdem, dass die Tochter noch lebt, hat gemeinsame Gebete für deren Rückkehr veranstaltet.

In dieses verträumt erscheinende Trio müssen das Team um die Kommissarinnen Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Melly Böwe (Lina Beckmann) nun eindringen, denn ein paar Haare Jessicas wurden am Tatort eines Mordes gefunden. Das Opfer, ein Schönheitschirurg in den Fünfzigern, war alleinstehend und den gefundenen Accessoires nach Fan von gewalttätigen Sexspielchen. Und obwohl der Arzt „ein richtig guter Mensch war, fast zu gut für diese Welt“ (Böwe über ihn), und Menschen in Krisengebieten umsonst operierte, war er offenbar auch Frauenfeind und hatte pädophile Neigungen, derentwegen er aus seinem Sadomasoklub geworfen wurde.

Laut Schauspielerin Lina Beckmann „sollte man noch mal betonen, weil diese Szene hier – zwar indirekt, aber dennoch – mit dem Missbrauchs-Thema in Verbindung gebracht wird … diese sexuelle Ausrichtung per se nicht anrüchig oder verdächtig ist … Sadomaso ist ja erst mal nur eine sexuelle Ausrichtung, und die ist weder negativ noch positiv zu betrachten.“

Eine Geschichte ohne Platz für einen Ponyhof

Viel Sorgfalt verwendet der Film auf die Darstellung des Best-agers Robert Sonntag, wie er sich emsig mit graumeliertem Vollbart um seine Oldtimer-Ausstellung kümmert und ganz auf der langen Trauer müder Vater macht, der sich umständlich und herzlich bei seiner Ehefrau zu entschuldigen weiß: „ich wollte mich nicht wie ein Arsch benehmen, Entschuldigung.“ Nicht viel später erhält er einen Drohanruf seiner scheinbar wieder aufgetauchten Tochter (anschließend wird klar, es war Henrik, der seine Stimme mittels KI verstellte) und wird beim Fluchtversuch mit seiner Yacht vom eigenen Sohn gefoltert und hinterrücks garrottiert.

Der Papa war das Monster, das seine eigene Tochter ins Unglück und in den Selbstmord gestürzt hat, seine Frau hat ihn gedeckt und entschuldigt ihn im Verhör mit den schrecklichen Worten „die sollte sich nicht so anstellen, das habe ich ja auch nicht“. Damit gibt sie einen Hinweis darauf, selbst – als Kind – missbraucht worden zu sein, und führt ihre gesamte angebliche Sorge um Jessica, jegliche, sämtliche Mutterliebe, Hege und Pflege des trauten Heims ad absurdum. Tatsächlich war Jessica mit Frankfurter Junkies ausgerissen, war dann „lange in Berlin“ und schließlich in Fehmarn, wo sie sich ihrem Bruder anvertraute und sich anschließend die Pulsadern öffnete.

Als ihr Rächer Henrik seine Mama in einen Hinterhalt auf den – mittlerweile verlassenen – Ponyhof aus glücklicheren Zeiten lockte und sie schon fast erdrosselt hatte, klickten ebenso überraschend wie gnädig die Handschellen.

Bei der Frequenz und dem Staccato, mit der in diesem Polizeiruf das englische (F)-Wort als Ausdruck plötzlichen Unwillens benutzt wird, war man für ein einzelnes, kurz angebundenes „Kacke“ fast dankbar. Empfindliche Nichtraucher werden beim Anblick der vielen in Tabakrauch gehüllten Szenen Hustenanfälle bekommen, Freunde des Krauts beim Anblick der Rostocker Szene: Die haust in einem zugemüllten Haus auf dem Gelände einer Abwrackwerft.

Progressiv, aber nicht attraktiv, ebenso wenig wie der Hinweis von Kommissarin König: „Kifft nicht zu viel, das macht blöd im Kopf“ (zu Jessicas Jugendfreundin Michelle, gespielt von Senita Huskic). Allerdings wird die kecke Polizistin nicht viel später durch ihren persönlichen Luke-Skywalker- und Darth-Vader-Moment („Ich bin Dein Vater!“) gestraft: Nicht nur begegnet sie ihrem verschollenen Erzeuger plötzlich und unerwartet, sondern sie schlägt ihn auch noch vor Passanten in einem Wutanfall nieder.

Der Wertung von Julian Vetten bei „n-tv“ kann man sich anschließen: „Klar, die Rostocker wollen weiter so abgründig und komplexbeladen wie möglich bleiben, aber in diesem Fall ist es leider zu viel des Schlechten.“

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