Sie treiben in deutschen Thrillern seit 1931 („M“) ihr schreckliches Unwesen: Sittenstrolche, Kinderschänder, Lustmörder. Ob der Krimi von Clemens Meyer und Thomas Stuber allerdings so berühmt wird wie der Film von Fritz Lang oder der Streifen mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe von 1958, kann bezweifelt werden.
Einmal, weil Drehbuch und Regie im Gegensatz zu den beiden Vorgängern aus dem letzten Jahrhundert nicht darauf verzichten wollten, allerlei Sozialkritik einzubauen. So darf die Geschichte nicht ohne die Themen Religiösität (Familie Lehmann), Alkoholabhängigkeit (Koitzsch u.a.), Fettleibigkeit (verdächtiger Lehrer), Politik (rechter Mob), Obdachlosigkeit (Zeugen), Demenz und Pflegenotstand (im Seniorenheim) und nicht zuletzt dem Verweis auf die DDR-Vergangenheit auskommen.
Mathelehrer, Übergewicht, Kleingartenanlage – Nicht wenige werden auf „Aus“ gedrückt haben
Weil die Geschichte, ebenso wie die filmische Darstellung, wohl um ordentlich Wellen zu schlagen, weit über das Ziel hinaus schießt. Dem Rezensenten des SWR, Stefan Scheurer, geht es „nach den 90 Minuten sehr schlecht. Ich kann ihn nicht gut oder schlecht bewerten, zum ersten Mal geht mir das so. Heute gibt es keine Elche.“ Er vergibt keine Wertung, weil „das Thema mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern so drastisch und belastend dargestellt ist“.
N-tv spürt hier „starken Tobak“ und fragt: „Darf es am Sonntagabend so heftig zugehen?“, an dem eine „Bürgerwehr eine regelrechte Hetzjagd“ auf den Verdächtigen veranstaltet. Trotzdem gibt der Sender dem Polizeiruf 9 von 10 möglichen Punkten.
Auch die Berliner Morgenpost findet den Krimi „von der Tonalität radikal … Mittlerweile handeln erstaunlich viele Sonntagskrimis von Verbrechen an Kindern. Die gehen einem immer besonders nah, und es scheint, als hielte Stuber hier oft mit der Kamera extra länger drauf, wo der Zuschauer längst wegguckt.“
Im Hallenser Erziehungswesen ist, trotz gegenteiliger Berichte beim MDR Ende 2023 hier auf den ersten Blick alles in Ordnung: Schmucke Schulgebäude, kleine Klassen, und von Überforderung wegen zusätzlich zu Integrierenden ist nichts zu bemerken. Grundschullehrer Krein (Sascha Nathan) gibt sich in seiner 3. Klasse alle Mühe, den Kindern die „Angst vor den Zahlen“ zu nehmen. Von den Schülern, um die er sich rührend kümmert (gibt Nachhilfe) wird er wegen seiner Körperfülle schon mal aufgezogen. Besonders die kleinen Mädchen haben es ihm angetan, er hätte selbst gerne eine Tochter gehabt. Er spendiert ihnen auch mal ein Eis oder bringt die Kinder selbst nach Hause.
Plötzlich fällt ihm auf: Inka Werner (Merle Staacken) fehlt beim Unterricht. Eine große Suchaktion läuft an, hunderte Beamte schwärmen aus. Nach zwei Tagen schrecklicher Ungewissheit wird ihre Leiche in einer heruntergekommenen Datschen-Anlage entdeckt. Obdachlose, die sich dort herumtrieben, haben aber wegen ihres benebelten Zustands wenig gehört (eine Kinderstimme) und noch weniger gesehen.
Kommissar Henry Koitzsch (Peter Kurth) hat auch mit „König Alkohol“ zu kämpfen und verliert seinen Führerschein, muss sich beim Dienstherrn deshalb erniedrigenden Prüfritualen (Kugeln stapeln) unterziehen. Der Fall des ermordeten Kindes macht es nicht besser. Wenigstens will er seinem Kollegen Michael Lehmann (Peter Schneider), der selbst Kinder hat, die belastenden Ermittlungen ersparen, was der aber als Zurücksetzung versteht. Koitzsch wirft sich nun mit seinem ganzen Gewicht und der Erfahrung aus über 30 Jahren Dienst in die Ermittlungen im schmuddeligen Zwielicht des Pädophilen-Milieus. Obwohl auch Lehrer Krein in den Kreis der Verdächtigen rückt, hält Koitzsch ihn nicht für den Täter. Versucht, die Anfeindungen (mit Bomberjacken und Glatzköpfen), denen der beleibte und schrullige Lehrer des Opfers in seiner Plattenbausiedlung ausgesetzt ist, abzuwehren.
Von Unschulds- und Opferlämmern
Durch Lehmanns Spürsinn wird ein Geheimversteck Inkas unter Bodenbrettern entdeckt. Offenbar hat sie von jemandem Bargeld zugesteckt bekommen und sich vor dem Nach-Hause-gehen länger in der Kleingartenanlage aufgehalten. Beim Feiern des „Tags der Volkspolizei“ mit Rechtsmediziner (Andreas Leupold) und einem Ex-Kollegen (Andreas Schmidt-Schaller) erfährt Koitzsch, dass es zu Zeiten der DDR bereits eine ganze Tatserie gegeben habe, in denen zwei Jugendliche, die sich aus dem Kinderheim kannten, gemeinsam „auf Jagd gegangen“ wären und Menschen gequält hätten.
Zeitgleich ermittelt Kommissar Lehman in einer am Schulweg des ermordeten Mädchens gelegenen Seniorenresidenz. In einem lichten Moment berichtet eine an Demenz erkrankte Bewohnerin (Monika Lennartz), dass sie Inka mit zwei Jungs hat mitgehen sehen. Sie, die wisse, „dass man nicht mit den Jungen im Kornfeld spielt“, habe das Kind noch warnen wollen.
Ab diesem Moment strebt der Krimi eilig seiner so unwahrscheinlichen wie unerhörten Auflösung entgegen. Zwei pickelige Gymnasiasten (Wilhelm, gespielt von Jona Levin Nicolai, und Mike, gespielt von Florian Geißelmann) haben Inka wiederholt missbraucht und sie mit Geldgeschenken zum Schweigen gebracht. Bei einem weiteren Treffen wurde die Vergewaltigung zum Mord. Als die Polizei in der großen Pause mit Großaufgebot an der Schule vorfährt, reicht das aus, um den Jungen aus einfachen Verhältnissen völlig aus der Fassung und zur kopflosen Flucht zu bringen. Der aus „einer richtig guten Familie“ bleibt hingegen rotzfrech cool und versucht, seinen Kumpel Mike, der „verhaltensgestört sei“, anzuschwärzen.
Der unglückliche, kinderliebe Lehrer Krein, der selbst daran glaubte, dass man bestimme Dinge „doch nicht mache“, wird, bevor er nun entlastet werden kann, unter den Augen der Polizei von einer selbsternannten Bürgerwehr (Wortführer gespielt von Johannes Kienast) in seine Wohnung gehetzt und stürzt sich aus dem Fenster zu Tode.