„Den eigenen Tod, den stirbt man nur.
Doch mit dem Tod der Anderen muss man leben.“
(Mascha Kaléko, „Verse für Zeitgenossen“, 1960)
Es klingelt an der Tür. Der Hausherr öffnet. Da stehen zwei Männer in Krankenpfleger-Uniformen. Es entsteht, hier leicht verkürzt, folgender Dialog:
Krankenpfleger:
„Können wir Ihre Leber haben?“
Hausherr:
„Ich benutze sie noch.“
Krankenpfleger (greift sich den Organspenderausweis des Hausherrn):
„Jetzt machen Sie uns doch bitte keine Schwierigkeiten.“
Hausherr (zeigt auf den Organspenderausweis):
„Da steht doch drauf: ‚im Falle des Todes‘.“
Krankenpfleger:
„Es hat noch nie jemand überlebt, dem wir die Leber herausgenommen haben.“
Typischer, absurder, tief schwarzer Humor der Komiker-Legenden von „Monthy Python“. Die Szene stammt aus ihrem Film „Der Sinn des Lebens“ („Teil 5: lebende Organverpflanzung“, 1983). Und wie immer bei den militant tabulosen Briten, ist das, was sie zeigen, grotesk überzeichnet.
Aber es ist die groteske Überzeichnung eines realen gesellschaftlichen Phänomens.
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Bei „Hart aber fair“ am Montagabend ist groteske Überzeichnung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht das pädagogische Sendeziel. Allerdings erreicht man im Leben bekanntlich nicht immer, was man will – und manchmal erreicht man stattdessen auch das, was man nicht will. Dazu kommen wir gleich noch.
Das ist die Ausgangslage: Es gibt in Deutschland nicht annähernd genügend Spenderorgane für die Patienten, die eine Transplantation brauchen. 9.400 Patienten stehen auf den Wartelisten für Organtransplantation. 2018 wurden nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation 955 Organspendern 3.113 Organe für Transplantationen entnommen und Patienten auf den Wartelisten transplantiert – das sind im Schnitt also etwa drei Organe pro Spender. Somit gibt es etwa zehnmal mehr Patienten als Spender, die Lücke bei den Organen beträgt etwa 1:3.
Eine überparteiliche Abgeordnetengruppe um Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat deshalb die sogenannte Widerspruchslösung auf den Gesetzesweg gebracht. Sie besagt im Kern, dass man im Todesfall automatisch Organspender wird – es sei denn, man hat zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen. Bisher ist es umgekehrt: Man spendet nicht – es sei denn, man erklärt ausdrücklich, dass man spenden will.
Spahn, so kann man sich das vorstellen, will die Werkseinstellungen des Bundesbürgers ändern: Bisher werden wir standardmäßig als Nicht-Organspender ausgeliefert, künftig sollen wir standardmäßig Organspender sein.
Der Vorstoß ist umstritten, Fragen wirft er reichlich auf: Hilft dieser neue Gesetzesvorschlag überhaupt, damit es bald mehr Spenderorgane gibt? Und selbst wenn: Wird nicht womöglich ein inakzeptabler moralischer Druck auf diejenigen ausgeübt, die eigentlich nicht spenden wollen?
Chantal Bausch ist Studentin der Betriebswirtschaft und 27 Jahre alt. Als sie zwölf war, entzündete sich ihr Herzmuskel. Mit 14 brauchte sie eine Transplantation – und bekam ein Spenderherz. Heute macht die junge Frau wieder Leistungssport, außerdem wirbt sie leidenschaftlich für mehr Organspenden. Spahns Vorschlag unterstützt sie – weil sich dadurch, sagt sie, Menschen mit dem Thema auseinandersetzen müssten, die das ansonsten nicht tun würden. Viele seien im Prinzip zur Organspende bereit und würden nur deshalb nicht tatsächlich zu Spendern, weil sie sich nie aufgerafft und einen Spenderausweis unterschrieben hätten.
Ihr Argument hier ist also eigentlich: Das Widerspruchsmodell macht automatisch aus all jenen Organspender, die bisher nur zu faul oder zu bequem oder zu sonst was waren, um einen Organspenderausweis zu unterschreiben. Spahn wird wenig später etwas aristokratischer formulieren, aber identisch argumentieren.
Werner Bartens ist promovierter Mediziner und tut das nicht, ganz und gar nicht sogar. Der Wissenschaftsjournalist der Süddeutschen Zeitung lehnt Organspenden grundsätzlich ab. Sein Hauptargument ist, dass Organspender nur hirntot, aber nicht wirklich tot seien. „Die Menschen, denen Organe entnommen werden, sind zu diesem Zeitpunkt de facto noch nicht tot, sondern befinden sich im Sterbeprozess: Das Herz schlägt noch, es existieren noch rudimentäre Hirnfunktionen.“ Die Diagnose „hirntot“ sei überhaupt nur entstanden, um Menschen Organe entnehmen zu dürfen.
Ulrike Sommer ist Schriftstellerin und lebt seit sechs Jahren mit einer Spenderniere von ihrem Mann. Sie sagt: „Es ist ein Geschenk, das ich nur von ihm annehmen konnte.“ Persönlich und insgesamt ist die Ehefrau von Ex-DGB-Chef Michael Sommer aber gegen Organspenden. Sie habe schon vor sehr langer Zeit für sich entschieden, weder selbst Organe zu spenden – noch Organspenden von Fremden anzunehmen: „Wenn ich nicht geben will, kann ich auch nicht nehmen.“
Es ist ein Satz, der die ganze Sendung über im Hintergrund mitschwingt.
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Mit Annalena Baerbock wird die Diskussion dann (partei)politisch. Das kann man der Grünen-Vorsitzenden schlecht vorwerfen, schließlich wird hier ja auch über ihre Politik debattiert (Baerbock hat ein alternatives Modell zur Spahn’schen Widerspruchslösung angekündigt). Vorwerfen muss man ihr aber, dass sie das ernsthafte und nachdenkliche Niveau der Sendung nachhaltig senkt.
„84 % sind für Organspenden – also fast alle Menschen in Deutschland,“ sagt sie. Die anderen 16 %, von denen möglicherweise nicht wenige sehr rationale Gründe für ihre abweichende Meinung haben, werden sich freuen, dergestalt aus dem Kreis der „Menschen in Deutschland“ hinaus definiert zu werden. Die Grüne nimmt Organspende-Gegner – wie den Mediziner Bartens oder Ulrike Sommer – lediglich zur Kenntnis, setzt sich aber mit keiner Silbe mit deren Argumenten auseinander.
Ein solches Argument, ein hellsichtiges dazu, kommt von einer Passantin, die für eines dieser berüchtigten Einspielfilmchen vom WDR-Kamerateam überfallen wurde: „Meine Bedenken sind einfach, dass vielleicht zu schnell Organe entnommen werden.“ Das wäre eine Diskussion wert gewesen. Hinter vorgehaltener Hand erzählen Krankenhausärzte durchaus, dass man vermutlich nicht in jedem Fall ausschließen könne, dass ein Hirntod wegen des Bedarfs an Spenderorganen auch womöglich mal ein klitzekleines Bisschen zu schnell festgestellt werden könnte.
Das kann man als Verschwörungstheorie und Unverschämtheit gegenüber den Ärzten abtun. Oder man befasst sich etwas intensiver mit dem Organspendeskandal 2012 und öffnet sich der Erkenntnis, dass Ärzte eben auch nicht immer nur die edelsten der Menschen sind.
Aber die Argumente der grundsätzlichen Organspende-Gegner, also von 16 % der Deutschen, kommen bei Baerbock nicht vor. Wenn die aber kühl ignoriert werden können, stellt sich doch irgendwie die Frage, weshalb wegen eines Problems, von dem (siehe oben) 9.400 Menschen betroffen sind, nun alle erwachsenen Bundesbürger eine Erklärung abgeben müssen?
Das findet indes auch Jens Spahn völlig normal: „Die Zahlen sind immer schlechter geworden.“ Es gebe zu wenig Organspender, das müsse doch geändert werden. Und überhaupt sei die Widerspruchslösung ja keine Organabgabepflicht – sondern die Pflicht, sich darüber Gedanken zu machen.
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Es fehlen Organe, also werden die Bürger zu Spendern gemacht (es sei denn, sie widersprechen ausdrücklich). Die Politiker am Tisch – Spahn, Baerbock, Michael Sommer – streiten über die Details der Umsetzung in die Tat, aber sie hinterfragen nicht den Ansatz dieser Idee. Aber wenn ein Mangel das wirklich rechtfertigt – was könnten wir dann künftig noch spenden müssen, pardon: sollen? Blut? Rückenmark? Eizellen für unfruchtbare Frauen? Altkleider?
Und wieso sollten mit derselben Begründung nicht noch andere Pflichten für andere Dinge eingeführt werden? Wahlpflicht? Oder irgendeine andere Pflicht in einem Bereich, in dem – scheinbar oder tatsächlich – ein Mangel herrscht?
Ist es wirklich Aufgabe von Politik, ein gesellschaftliches Umdenken zu erzwingen? Spahn bekennt sich zu einem klaren „ja“: „Ich sage das aus einem gesellschaftlich-moralischen Ansatz.“ Das ist der eine Punkt, den Moderator Plasberg leider komplett verschläft – er stellt die grundsätzliche Frage nicht: Ist es wirklich Aufgabe von Politik, dass sie sich mit Moralfragen befasst? Die Grünen haben damit angefangen, die CDU macht damit weiter – selbst ein vermeintlich Konservativer wie Jens Spahn.
Er ist, um es mit einem abgewandelten Zitat aus Goethes „Faust I“ von 1808 zu sagen, „ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft“.
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Das WDR-Kamerateam lotet dann noch einen journalistischen Abgrund aus: Man fragt Passanten „Wie stehen Sie zur Organspende?“ Und dann fragt man sie, ob sie einen Spenderausweis haben.
Das ist genau das Missverständnis, um das die ganze Sendung leider einen riesigen Bogen macht: Ich kann grundsätzlich für etwas sein, ohne es selbst konkret zu tun. Ich kann die Möglichkeit zur Organspende grundsätzlich gutheißen – und trotzdem selbst nicht Organspender sein wollen. Das ist eine der grundlegenden menschlichen Freiheiten – und sie ist nicht, auch nicht über eine sogenannte Widerspruchslösung, irgendwie durch den Staat zu vermitteln.
Außer Ulrike Sommer sagt das den ganzen Abend leider niemand.