Tichys Einblick
Ungewohnt offene Kritik

ÖRR-Journalisten wagen den Aufstand

„Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk“: So nennen Mitarbeiter von ARD, ZDF und Deutschlandfunk ihren Aufruf für eine umfangreiche Reform ihrer Anstalten. Es ist die bisher massivste Abrechnung mit dem ÖRR von innen.

picture alliance / dpa | Soeren Stache

„Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ nennen Mitarbeiter von ARD, ZDF und Deutschlandfunk ihren Aufruf für eine umfangreiche Reform ihrer Anstalten.

„Der öffentlich-rechtliche Journalismus treibt in meinen Augen – in früher nie vorstellbarem Ausmaß – einen Keil in die Gesellschaft: Weil er vorgibt, die ‚Wahrheit‘ zu kennen, und meint, sie missionarisch verbreiten zu müssen. Das kennt man von Religionen, die Kreuzzüge veranstaltet haben und deren Vertreter als ‚Märtyrer‘ Ungläubige wegbomben. (…) Ich kann nicht mehr.“ (Anonymous, Mitarbeiterin WDR)

Unerwartet deutlich gehen Mitarbeiter des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit ihren Arbeit- und Auftraggebern ins Gericht. Heute veröffentlichen sie ein „Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk“. Darin warnen sie: Der ÖRR als „wesentliche Säule unserer Demokratie und Kultur“, seine Grundsätze und sein Programmauftrag seien akut gefährdet.

„Mit Corona erlebte das ARD-System einen Bruch: (…) Die innere Redaktionsfreiheit und der Pluralismus wurden abgeschafft. Es hatte den Eindruck, als sei von oben eine Linie ausgegeben, an die sich jeder und alle zu halten hatten. In einer ARD-Anstalt hieß es sinngemäß: ‚Die Corona-Maßnahmen werden nicht angezweifelt.‘ Abweichler wurden abqualifiziert und abgestraft. Es handelte sich aber nicht um eine journalistische Linie, sondern um eine politische. Journalismus, wie er bis dahin in der ARD gepflegt wurde, störte dabei nur. Das unabhängige Medium ARD verwandelte sich in ein angepasstes Propagandainstrument der Corona-Exekutive. Recherchen oder ein Hinterfragen der Corona-Politik gab es nicht mehr. Keine journalistischen Standards mehr, wie Sorgfalt, Gleichheit oder Wahrhaftigkeit. Anstelle der Unabhängigkeit machte man sich zur Partei. Mit Beginn des Russland-Ukraine-Krieges wurde diese Haltung nahtlos auf die Kriegspolitik Deutschlands übertragen.“ (Thomas Moser, freier Hörfunk-Journalist bei mehreren ARD-Anstalten)

„Wir beobachten fehlende Ausgewogenheit im Programm und eine zunehmende Diskrepanz zwischen Programmauftrag und Umsetzung“, schreiben die Erstunterzeichner. Deshalb „möchten wir unsere Stimme und Expertise in die Debatte um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einbringen“. TE dokumentiert das komplette Manifest: Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

„Ich hätte es niemals für möglich gehalten, schäme mich aber zutiefst dafür, dass viele Kollegen nach meiner Einschätzung ihrer Verantwortung nicht nachkommen. Denn die öffentlich-rechtlichen Medien haben eine enorme Macht. Und ich mache sie mitverantwortlich für die unsägliche Spaltung, die unsere Gesellschaft gerade erfährt.“ (Anonymous, Mitarbeiterin WDR)

Auf ihrer Internetseite (www.meinungsvielfalt.jetzt) finden sich neben dem Manifest zahlreiche Originalzitate von ÖRR-Mitarbeitern, die TE in diesem Text ebenfalls dokumentiert. Sie zeigen vor allem: In den Anstalten herrscht ein Klima der Angst. Die meisten wollen sich nur anonym äußern. Auch das Manifest unterstützen viele nur ohne Nennung ihres Klarnamens.

„Das ist kein Journalismus mehr, der als ‚Vierte Gewalt‘ im Staat bezeichnet werden kann, sondern einer, der mit der Regierung eher gemeinsame Sache macht, wie mir scheint. In Artikel 5 des Grundgesetzes wird die Pressefreiheit gewährleistet und betont, dass eine Zensur nicht stattfindet. Seit Corona findet diese Zensur meiner Meinung nach statt – nur viel perfider, als ich das jemals für möglich gehalten hätte.“ (Anonymous, Mitarbeiterin ARD)

Die Namen der Unterzeichner sind alle bei einem Notar hinterlegt. Es gibt diese Menschen also tatsächlich. Ein Initiator des Manifests erzählt gegenüber TE, dass manche Kollegen ihren Namen aber noch nicht einmal dem Notar sagen wollten – so groß ist bei einigen die Angst vor Repressalien, falls ihre Unterstützung des Aufrufs doch bekannt werden sollte.

„Ich arbeite seit vielen Jahren für den WDR als Autor. Was mich besorgt und umtreibt, ist die Wahrnehmung, dass in den Redaktionen wenig bis keine Bereitschaft besteht, andere Meinungen als den Mainstream überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn als Bereicherung anzuerkennen. Egal, ob Energiepolitik, Corona oder Migrationsfragen etc., die Leitlinien der Berichterstattung sind mehrheitlich durch politisch motivierte Redakteure so vorgegeben und eingeengt, dass eine echte Auseinandersetzung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Es ist immer das gleiche ideologisch geprägte Weltbild, das sich in Sprache und Duktus durchsetzt – und letztlich auch so ausgestrahlt wird. Das Ringen um Positionen, das Verständnis für die Probleme der Bevölkerung, sind einer Art erzieherischem Haltungsjournalismus gewichen. (…) Das hat mit Meinungspluralität, wie im gesetzlichen Auftrag festgeschrieben, wenig bis nichts mehr zu tun.“ (Anonymous, Mitarbeiter einer ARD-Anstalt)

Im Gespräch mit TE schildern die Initiatoren auch eigene Erlebnisse. Vieles, was öffentlich vermutet, vom ÖRR aber als „Verschwörungstheorie“ abgetan wird, wird dadurch bestätigt. Einer der Erstunterzeichner berichtet davon, wie im Kollegenkreis ganz offen darüber gesprochen wird, Stimmung gegen die AfD zu machen. Auf seine skeptische Nachfrage wird das mit dem Satz gerechtfertigt: „Die wollen uns abschaffen. Da müssen wir jetzt gegenhalten.“

„In unserer Redaktion wird bei Sitzungen nicht darüber geredet, wie wir die Menschen mit unserem Programm möglichst vielfältig informieren und verschiedene Ansichten präsentieren könnten. Nein, es wird darüber geredet, wie man ein Ereignis mithilfe von Experten einordnen kann. Am Ende sieht die Regierung dabei meist gut aus. Dazu werden dann in der Regel dieselben Experten von einschlägigen Stiftungen und Denkfabriken angerufen, die sich in der Vergangenheit als gute ‚Einordner‘ bewährt haben. Das heißt, im Großen und Ganzen die Sicht der Regierung, der SPD oder der Grünen wiedergeben. Wenn jemand aus der Redaktion einen neuen Experten vorschlägt, wird erstmal recherchiert, ob der nicht irgendwelche verdächtigen Aussagen gemacht hat, vielleicht die Corona-Maßnahmen kritisiert oder im falschen Medium publiziert hat. Das könnte eine Erklärung sein, warum unser Programm einen immerwährenden Gleichklang hat.“ (Anonymous, Mitarbeiter einer ARD-Anstalt)

Verblüffend viele Mitarbeiter des ÖRR in Deutschland scheinen das System ähnlich kritisch zu sehen wie eine wachsende Zahl der Zwangsgebührenzahler. Doch die wirtschaftliche Abhängigkeit von ARD, ZDF und Deutschlandradio führt zum Wegducken.

„Der ‚Faktenfinder‘ der ‚Tagesschau‘ ist für mich ein guter Indikator dafür, welches Narrativ gerade wieder hochgehalten werden muss. Die von Herrn Gensing, Chef vom ‚Faktenfinder‘, in seinen Artikeln benutzten Links sind nach meinen Recherchen zum sehr großen Teil Referenzen auf eigene Artikel. Verweise auf externe Quellen habe ich bei ihm eher selten gefunden. (…) Es gibt in Deutschland zwar kein Wahrheitsministerium; aber es gibt den ‚Faktenfinder‘ der ‚Tagesschau‘, der für mein Gefühl ähnliche Aufgaben wahrnimmt.“ (Richard Petersen, Ingenieur beim NDR)

Und auch hier ist es wie überall: Mutig sind vor allem die, die nichts mehr zu verlieren haben. Vor allem langgediente – also faktisch unkündbare – oder ehemalige ÖRR-Mitarbeiter geben sich mit ihrer Kritik auch zu erkennen. Aktive Karriere-Interessen und offene Meinungsäußerung vertragen sich in den Anstalten offenbar nicht.

„Es braucht also in meinen Augen nur ein paar Leitwölfe in einer Redaktion, die die mutmaßliche ‚Blatt- oder Senderlinie‘ verinnerlicht haben. Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass sie womöglich gewissen Anreizen erliegen, und wenn das nur die internen Lorbeeren, die Anerkennung im Team oder ihrer Chefin sind. Am wirksamsten scheint es mir zu sein, wenn diese Leitwölfe dann Journalistenpreise gewinnen. Daran sehen alle: Wenn Du zum Beispiel einen Beitrag ‚gegen rechte Tendenzen‘ oder ‚gegen Rassismus‘ machst, dann steigst Du im Ansehen und kommst in Deiner Laufbahn als Berichterstatter nach vorn.“ (Katrin Seibold, Ex-Mitarbeiterin ZDF und 3sat)

Keiner der Initiatoren und Unterzeichner des Manifests, mit denen TE gesprochen, lässt am Führungspersonal des ÖRR ein gutes Haar. In der Gesamtschau entsteht das Bild einer mit Zwangsgebühren gemästeten Clique von rückgratlosen Karrieristen: Fahrradfahrer, die nach oben – also zur Politik – buckeln und nach unten – also zu den Mitarbeitern, die eigentlich das Programm machen – treten.

„Ein erster Ansatz, um die (…) Missstände im öffentlich-rechtlichen System zu beseitigen, könnte es in meinen Augen sein, die Regierungsnähe verschiedener Führungskräfte zu beleuchten und vor allen Dingen auch die festgewachsenen Hierarchien in den Anstalten aufzulösen. Diese scheinen mir in erster Linie dem reinen Selbsterhalt zu dienen und daneben die freie Entfaltung von Meinungsvielfalt, offener Diskussionskultur und echter Pluralität von Lebenswirklichkeiten zu verhindern. Der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks heißt meines Wissens weder Erziehung noch Steuerung seiner Nutzer, und schon gar nicht lautet er, persönliche Weltanschauungen und Abhängigkeiten Einzelner zur Triebfeder der Arbeit von vielen zu machen.“ (Anonymous, Mitarbeiter einer ARD-Anstalt)

Das Manifest ist nicht gegendert. Das allein ist offenbar im real existierenden ÖRR schon ein Zeichen von revolutionärem Abweichlertum. Dabei wünschen sich die kritischen Journalisten durchaus mehr Vielfalt – aber nicht der Geschlechter oder der Hautfarben, sondern der Ideen und Gedanken.

„So oder so ist es dringend Zeit, dass Diversität in den Redaktionen auch inhaltlich, bezogen auf gesellschaftliche Positionen, wieder forciert wird. Denn nie war gefühlt so viel Konformismus wie heute. Und an dem kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk letztlich nur scheitern.“ (Anonymous, Mitarbeiterin ZDF)

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