Ein „Biopic“ kann nicht realhistorisches Geschehen Eins zu Eins wiedergeben. Auch wenn sich Regie und Drehbuch (Joe Wright und Anthony McCarten) bei der „Dunkelsten Stunde“ auf einen kleinen Zeitraum von wenigen Tagen im Mai 1940 beschränkt haben. Auch wenn diese Tage zu den quellenmäßig am besten dokumentierten der Geschichte des 2. Weltkriegs gehören. Dennoch gibt es einige entscheidende Stunden und Viertelstunden, deren Geschehen und Debatten unbekannt geblieben sind.
Davon berührt ist die zentrale Auseinandersetzung zwischen Außenminister Halifax und Churchill über den Sinn einer Kontaktaufnahme zu Mussolini, die vom französischen Premier Reynaud in verzweifelter Lage dem englischen Kriegskabinett vorgeschlagen wurde.
Im Rückblick ist es für uns heute kaum nachvollziehbar, dass Italien damals noch bei den anderen Großmächten als ebenbürtiges Schwergewicht galt. Noch hatte es sich nicht bei seinem unprovozierten Überfall auf Griechenland eine blutige Nase geholt, vom späteren Desaster in Nordafrika ganz zu schweigen. Die französische Armee war in äußerster Bedrängnis und fürchtete den Kriegseintritt Italiens und damit eine zusätzliche Front an der Mittelmeerküste. Durch territoriale Angebote an Mussolini in Nordafrika, die vielleicht noch mit dem englischen Malta verziert werden könnten, hoffte man in Paris auf ein Stillhalten, vielleicht sogar eine Friedensvermittlung Roms. Schließlich hatte Mussolini 1938 durch seine Initiative das Münchner Abkommen befördert, das (freilich durch die Opferung der tschechischen Demokratie) Hitler vorerst „beschwichtigt“ hatte.
Die Einzelheiten des Ringens zwischen Halifax und Churchill um die scheinbar kleine Nuance, ob man bei Wahrung der Souveränität und Integrität des britischen Empire auf unterster diplomatischer Ebene vorfühlen solle, ob Mussolini zu einem großzügig honorierten Interessenausgleich bereit sei, und inwieweit schon diese Erkundung als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden könnte, gehen aus den überlieferten Protokollen und Zeugnissen dieser Tage nicht eindeutig hervor. Die Überlegungen finden auf dem katastrophischen Hintergrund der Kapitulation Belgiens und der Einkesselung des britischen Expeditionskorps bei Dünkirchen statt. Die Differenzen spitzten sich aber soweit zu, dass Halifax nicht nur insgeheim an Rücktritt dachte, falls Churchill jegliche diplomatische Erkundung ablehnen sollte. Ob er dabei zusammen mit Chamberlain an ein Misstrauensvotum im Unterhaus dachte, weiß man nicht, denn seine Tagebücher sind nach dem Krieg in stark bereinigter Form publiziert worden, und Churchills spätere Erinnerungen gehen großzügig darüber hinweg. Im Ergebnis wäre eine solche Konsequenz allerdings nicht unwahrscheinlich gewesen.
Deshalb gibt der Film, wenngleich mit fiktionalen Elementen, den Grundkonflikt prinzipiell richtig wieder. Die Mehrheit des konservativen Establishments war noch lange gegen Churchills unbedingte „Kampf bis zum Sieg“-Entschlossenheit, mindestens bis in den Herbst 1940 hinein, als die Göring’sche Luftkriegsführung scheiterte und Hitler die geplante Invasion zurückstellen musste. Wäre die Evakuierung der britischen Truppen in Dünkirchen gescheitert, oder wäre die französische Flotte in deutschen Besitz gekommen, was Churchill durch ihre teilweise Versenkung bei Oran verhinderte, dann wäre der Druck der Verständigungspolitiker kaum zu überwinden gewesen.
Die umstrittenste Szene im Film ist Churchills Fahrt in der Underground. Allen Zuschauern wird die Fiktionalität der Situation klar sein. Das richtige Element besteht historisch gesehen darin, dass die kleinen Leute trotz „Luftblitz“ und Invasionsdrohung entschlossen waren, sich der Nazikriegsmaschine entgegenzusetzen. In den Tagen des Mai war dies aber noch nicht so deutlich. Die Labourführer Attlee und Greenwood waren zwar im Kriegskabinett Churchills beste Verbündete. Ihr überzeugendstes Argument für die Ablehnung jeglicher Verhandlungen aber war die skeptische Stimmung in der Arbeiterschaft, die bei den ersten öffentlichen Bekundungen von Verhandlungsbereitschaft in Kriegsgegnerschaft umzuschlagen drohte. Die patriotische Treue der „kleinen Leute“ im Ersten Weltkrieg war von der herrschenden Elite wenig belohnt worden.
Man hat die Passage als kitschig kritisiert und wie Ammon die Unwahrscheinlichkeit eines mit Shakespeare-Zitaten geführten Dialogs zwischen Churchill und einem schwarzen Passagier moniert. Ich nehme an, dass dies eine Verbeugung vor Hollywood war, bin aber wie einige Kritiker der englischen Presse der Meinung, dass die Szene trotzdem filmisch funktioniert. Die erkennbar feuchten Augen im Zuschauerraum haben mir das nach dreimaligem Besuch nahegelegt. Und die Oscar-Nominierungen scheinen es zu honorieren.
Das Irritierendst an der Gestalt Winston Churchill ist gerade die Tatsache, dass er ein Imperialist, Rassist, Reaktionär und Bellizist war. Aber es brauchte einen Charakter wie ihn, um das britische Kriegskabinett im Mai 1940 zu überzeugen, gegen Hitler weiter zu kämpfen. Es war die vielleicht wichtigste Entscheidung des 20. Jahrhunderts, die tiefgreifende Auswirkungen auf das Überleben der westlichen Zivilisation bis heute hatte.
Eine letzte Anmerkung noch zu den deutschen Vorbehalten gegen Churchill. Der ungarisch gebürtige Historiker John Lukacs, auch wissenschaftlicher Berater des Films, schrieb in seiner Schilderung der „Fünf Tage in London“:
„Es ist vielleicht verständlich, dass viele Deutsche für Churchill keine Zuneigung verspüren, aber ist es auch berechtigt? Wer außer ihm stellte sich im Jahr 1940 Hitler noch in den Weg- und wer außer ihm hatte sich der Wiederherstellung von Recht und Demokratie in Westeuropa – einschließlich Deutschlands – verschrieben?“