Tichys Einblick
Netflix Deutschland gendert

Ein Magier plus ein Elefant im Raum

„Die Elefantin des Magiers“ heißt brav gegendert die 2023 erschienene deutsche Ausgabe des Trickfilms, der auf einem Roman der US-Kinderbuchautorin Kate Di Camillo beruht. Korrekt jedoch spräche der Zoologe wohl eher von einer Elefanten-„Kuh“. Die deutschen Lektoren haben um diesen auf den ersten Blick verwirrenden Begriff lieber einen Bogen gemacht.

Screenprint: youtube/Netflix Deutschland

Viele warten gespannt darauf, wie eine zukünftig noch gerechtere, gleichere, fairere und natürlich glücklichere Gesellschaft aussehen könnte, die die aktuelle, den Kritikern zufolge völlig unzulängliche und überholte Version ablöst. Der Pay-Kanal Netflix bemüht sich immer wieder, Filme zu produzieren, die wohl ein universell anwendbares Bild dieses Ideals erahnen lassen. Hier erstmal in Gestalt eines historisierenden Märchens für Kinder (Netflix-FSK „6“).

„Die Elefantin des Magiers“ heißt brav gegendert die 2023 erschienene deutsche Ausgabe des Trickfilms, der auf einem Roman der US-Kinderbuchautorin Kate Di Camillo beruht. Korrekt jedoch spräche der Zoologe wohl eher von einer Elefanten-„Kuh“. Die deutschen Lektoren haben um diesen auf den ersten Blick verwirrenden Begriff lieber einen Bogen gemacht.

Obwohl der größte Streaming-Dienst der Welt, wie der „Moviepilot“ über ihn schreibt, „eigentlich überhaupt nichts muss. Eine gesetzliche Vorlagepflicht bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) besteht nicht … er macht sein eigenes Ding. Auf dem Entertainment-Markt mit seinen Kino-, TV- und Heimvideo-Inseln ist Netflix mittlerweile ein Planet mit einer eigenen Atmosphäre und eigenen (Natur)Gesetzen.“

Aber bei diesem Streifen hat sich ein Team aus Designern, Autoren und Beratern sichtbar gehörig Mühe gegeben.

Wie der dröge Alltag eines Waisenknaben endet

Es ist eine der klassischen Abenteuer-Selbstfindung-Mutmacher-Geschichten, die immer schon gern als Grundlage für ein Märchen verwendet wurden. Hier löst ein plötzlich vom Himmel auf die Bühne einer Zaubershow gefallener Elefant(in) eine Kette von Mutproben für einen kleinen Jungen (Peter) aus, der von einem alleinerziehenden Veteranen (Leutnant Lutz) militärisch-asketisch (marschieren üben mit Holzgewehr, zu essen gibt es nur die kleinsten Fische und ranziges Brot) aufgezogen wird.

Lutz, der im englischen Original einen osteuropäischen Akzent hat, ist offenbar vom „großen ausländischen Krieg“ traumatisiert, an dem er als junger Mann teilnahm, und vor dessen Bomben er den kleinen Peter rettete. Nun ist sein einziger Zeitvertreib die Beobachtung von streunenden Katzen durch sein Fernglas und der Drill seines Zöglings. Der Junge erfährt im Zelt einer Wahrsagerin, dass er eine Schwester hat, die er aber nur finden wird, wenn er „dem Elefanten“ folgt. Erstmal ist diese Weissagung verwirrend, denn dort gibt es gar keine Elefanten.

Dann aber fällt einer, wie auf Bestellung, vom Himmel durch das Dach des städtischen Theaters. Von einem etwas abgerissenen und mäßig geschickten Zauberkünstler mit asiatischem Migrationshintergrund aus Versehen als Höhepunkt seiner bis dahin für das Publikum eher ernüchternden Show herbeigezaubert. Mit einem Knall landet er auf der Bühne und zerquetscht dabei die Beine der alten Madame LaVaughn, die der Magier gerade noch auf die Bühne gebeten hatte.

Nun ist erstmal an diesem wundervollen, wenn auch für Madame LaVaughn schmerzhaften Zwischenfall nichts auszusetzen; es fielen in Märchen auch schon Sterne vom Himmel und wurden zu Talern, und alte Damen wohnten über den Wolken und schüttelten Federn aus Daunenbetten, die dann als Schnee auf der Erde ankamen. Nur die Umgebung ist von Netflix einer ausführlichen Runderneuerung unterzogen worden.

Verloren im 19. Jahrhundert und monarchisch beherrscht: Schmelztiegel-Grafschaft „Baltese“

Die Geschichte spielt in der kleinstädtischen Metropole unter der Regierung einer schwarzen Gräfin, die Landschaft und Wetter entsprechend irgendwo in Mitteleuropa liegen könnte. Interessanterweise haben es die Netflix-Grafiker geschafft, dem Ort zwar eine mittelalterliche Struktur zu geben, darin aber eine erkennbare, präzise verortbare Bauweise oder einen Baustil zu vermeiden. Zwar schmiegt sich die Stadt schutzsuchend an eine Kathedrale, die an französische Vorbilder erinnert (zum Beispiel Notre-Dame), jedoch fehlen sämtliche religiöse Bezugspunkte.

Bei den anderen Bauten, speziell dem repräsentativen Palast, lösen sich maurische Bögen mit indischen Säulen ab, Gründerzeitfassaden mit schmiedeeisernen Gittern aus dem Jugendstil und Fensterlaibungen mit Stuckelementen. Die Wandmalereien und Tapeten sind zwar prächtig und sparen nicht mit Farbe, wurden aber so großzügig und willkürlich verteilt, dass einem beim Anblick die Augen müde werden. An Dachbedeckungen sind alle Möglichkeiten vertreten, von mediterranen Tonpfannen bis zum deutschen Biberschwanz.

Art Director Iuri Lioi dazu bei Motionpictures.org: „Die Lage der Stadt selbst ist nicht eindeutig, sie lehnt sich jedoch an die Ästhetik Südeuropas an. Wir wollten, dass sie zeitlos wirkt. Es soll ein vielschichtiger Ort werden, der eine vielfältige Besetzung von Charakteren unterstützt, mit 280 Gebäuden und einer Architektur, die mehrere Jahrhunderte umfasst.“

Die Moderne hat hier noch nicht Einzug gehalten, kein Verbrennungsmotor knattert, kein elektrisches Licht brennt, nur Gaslampen erhellen die Gassen. Man reitet hoch zu Pferde und hie und da auf dem Fahrrad, ist mit US-Winchester-Gewehren, Schwertern und altertümlichen Kanonen ausgerüstet. Die in Rückblenden sichtbaren – offenbar ja Jahrzehnte zurückliegenden – Kampfhandlungen des „großen ausländischen Krieges“ zeigen hingegen fast ausschließlich weiße Soldaten in Uniformen wie aus dem ersten Weltkrieg. Diesen Krieg und seine belastende Hypothek an Versehrten und Waisen symbolisiert eine Wolkendecke, die wie eine bedrohliche Masse riesiger Wattebälle unbeweglich über dem Land schwebt und das Sonnenlicht verdeckt.

Einzige Nahrungsquelle scheint in Baltese der zentrale „Fischmarkt“ zu sein, wo sich allerlei Menschen in modischen Stilen von der karibischen bunten Joppe bis zum Maßanzug zum Einkaufsbummel treffen. Das Thema Diversität ist einer der großen, aber unterschwelligen Leitmotive des Films, dank des, wie Regisseurin Wendy Rogers Motionpictures.org im Interview sagte, „ausdrücklichen Anliegens, und der Absicht von Netflix-Animation, diese mit diversen Geschichten und Stimmen zu vergrößern“.

Uniformierte treten grundsätzlich (Palastwache, Soldaten) mindestens im Doppelpack auf, sodass man die Ausgewogenheit zwischen farbigen und weißen, weiblichen und männlichen Figuren in der Truppe ausreichend würdigen kann. Und auch Führungspositionen werden nach diesem nicht näher erläuterten Schema verteilt. Die unvermeidliche oberste Instanz, der König, ist ein typischer weißer Vertreter seines Standes, wie man ihn sich in eher Aristokratie-skeptischen Kreisen vorstellen mag: launisch, a bisserl trottelig, aber herrisch, und anscheinend ständig unter dem Einfluss edler Tropfen hampelt er in seiner Operettenuniform herum, behängt mit Phantasie-Orden. Hingegen ist der Chef seiner Wache, Leo Matienne, ein sympathischer junger Schwarzer, der schnell zu Peters väterlichem Freund wird und ihm hilft. Hautfarbe wird nur einmal in einem flapsigen selbstverliebten Kommentar des Königs zum Thema, der findet, dass „er mit einem Teint viel besser aussehe“.

Der herabgefallene Dickhäuter wird alsbald im Zeremoniensaal der Gräfin angekettet, weil man ihn für gefährlich hält und deshalb „möglichweise entsorgen müsse“. Es versteht sich von selbst, dass der Elefant, wie es in einem Märchen sein sollte, weder gefüttert werden muss noch Mist macht. Er ist jedoch verständlicherweise durch die vergangenen Ereignisse verstört (Netflix hat extra einen Elefantenberater für den Film hinzugezogen) und droht sich loszureißen. Hier greift Peter mutig ein und beruhigt ihn – nicht ganz ohne den Hintergedanken, dadurch zu seiner Schwester zu gelangen.

Der König, so die Gräfin, solle nun entscheiden, wie es weitergeht. Wie es einem übermütigen (und angetrunkenen) Despoten zusteht, versteigt sich ihre extra aus der Provinz angereiste Majestät dazu, Peter den Elefanten zu überlassen – wenn, ja wenn er zuerst drei „unmögliche Aufgaben“ erledigt:

  1. den mutigsten Soldaten zu besiegen;
  2. zu fliegen;
  3. die um ihren im Krieg gefallenen Bruder trauernde Gräfin zum Lachen zu bringen.

Trotz der hier zu Trage tretenden Exzentrizität des Monarchen wagt es niemand, an dessen bizarren Forderungen offen Anstoß zu nehmen.

Peter hat Glück und entkommt dem riesigen Soldaten „de Smidt“, indem er ihn mit einem Märchenbuch aus dessen Kindheit besänftigt, fliegt mit einem von Leo Matienne entworfenen Gleitschirm eine Runde vom Dach der Kathedrale, und die Gräfin findet es ungeheuer lustig, dass der Elefant den König mit einem enormen und nassen Nieser einschleimt. Er gewinnt.

Für Elefanten und Filmemacher: Die Vorteile eines eigenen Reservats

Eine der Inspirationen, die die jungen Zuschauer dem Trickfilm entnehmen sollen, ist neben den Tugenden Mut, Erfindungsreichtum und Entschlossenheit auch die des Mitfühlens, auch und besonders mit Tieren. Peter beschließt, dass ihm die Heimkehr des Elefanten zu seiner Familie weit wichtiger ist als das Auffinden seiner Schwester. So versammelt sich die halbe Stadt – wieder auf dem Platz vor der Kathedrale (!) – und der glücklose Magier, der, weil er Madame LaVaughn in den Rollstuhl gebracht hatte, im Gefängnis sitzt (schaffte es nicht, sich mit einem Spruch selbst zu befreien), bekommt eine letzte Chance, alles-wieder-gut-zu-zaubern. Ihm gelingt das Wunder, den tonnenschweren Gast zurück nach Afrika (darauf lässt die Landschaft, durch die die Herde zieht, schließen) zu hexen.

Die bedrohlichen Wolken über Baltese lösen sich daraufhin auf, die Sonne scheint wieder, und Peter und seine Schwester Adele finden sich, ebenso wie die an ihrem Habit als solche erkennbare Nonne (ohne Ordenszeichen oder Kreuz), in deren Waisenhaus Adele ihre Kindheit verbrachte und die nun auch in Leutnant Lutz den Soldaten wiedererkennt, der ihr damals von beiden Kleinkindern den Jungen im Granatenhagel abgenommen und gerettet hatte.

Madame DeVaughn kann plötzlich wieder ihre Beine benutzen, der König und die Gräfin kommen sich näher. Der Elefant kann wieder mit seiner Herde über die Savanne ziehen – und ob dort nicht nur Elefanten leben, sondern in ähnlichen Städten wie „Baltese“ auch viele diverse Menschen in Afrika (die hier unsichtbar bleiben), werden die nächsten Netflix-Märchen zeigen.

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