Tichys Einblick
Die Irrationalität der Wohlgesinnten

Wenn „Progressive Menschen“ sich als Musks Opfer bei Twitter inszenieren

Musk gefährdet die Demokratie durch freie Rede, Kritik am woken Denken ist „strukturell antisemitisch“, echter Antisemitismus dagegen harmlos: Die Irrationalität der Wohlgesinnten erreicht eine neue Qualität. Sie zerstört die Kommunikation der Gesellschaft. Noch nie war es so wichtig, eins und eins zusammenzuzählen.

IMAGO/NurPhoto

Jemand in der Twitter-Firmenzentrale musste einen Plan gegen Jan Philipp A. geschmiedet haben. Denn obwohl in den USA und eigentlich auch in Deutschland praktisch niemand den deutschen Funktionär kennt, begab sich jemand in den Serverraum und koppelte ihn heimlich von einem anderen Grünen-Politiker ab, dem er bisher auf Twitter gefolgt war.

Die Geschichte stammt nicht von einem Nachfolger Kafkas, sondern von Jan Philipp Albrecht selbst, Vorsitzender der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung. Sie besitzt also umständehalber nicht ganz die Qualität einer Kafka-Erzählung, aber trotzdem ein gewisses Komikpotenzial.

Albrecht beklagte sich vor wenigen Tagen, sein Twitterkonto sei ohne seinen Willen von dem des stellvertretenden Vorsitzenden der Grünen-Fraktion Konstantin von Notz getrennt worden, dem er bisher, wie es auf Twitter heißt, gefolgt war, und Notz umgekehrt von ihm. In seinem Fall, meinte Albrecht, könnte das unmöglich einfach so passiert sein. Dahinter müsste etwas Größeres stecken. Beziehungsweise: jemand. „Eine mögliche Erklärung, warum (progressive?) Menschen hier reihenweise Follower verlieren. #Twitter versinkt unter #Musk in Willkür und Chaos.“

Bei Twitter handelt es sich nicht nur um eine finanziell, sondern auch technisch defizitäre Plattform. Der sogenannte Unfollow-Bug gehört seit längerer Zeit zu den Problemen, die fast jeder Nutzer irgendwann erlebt. Dieser Fehler führt dazu, dass die Technik ab und zu jemanden ohne sein Zutun von einem anderen Nutzer trennt, dem er bisher gefolgt war. Er lässt sich ohne Aufwand korrigieren, indem der Nutzer auf den Follow-Button des anderen klickt. Soweit das technische Phänomen, für das sich Leute jenseits von Twitter nur sehr mäßig interessieren.

Mit dem gesellschaftlichen Bug oder Systemfehler, der in dieser Geschichte aufscheint, muss sich allerdings jeder herumschlagen, egal, ob er oder sie Twitter oder eine Plattform benutzt oder nicht. Er besteht unter anderem darin, dass ein deutscher Regierungsparteifunktionär der dritten Reihe es tatsächlich für möglich hält, dass Elon Musk im Twitter-Hauptquartier San Francisco den Plan verfolgt, progressive Figuren wie ihn und den Mitgrünen in der Bundesrepublik und weltweit auf seiner Plattform voneinander zu trennen, zu welchem Zweck auch immer. Musk müsste die Albrecht-von-Notz-Geheimoperation mehr oder weniger selbst in die Hand genommen haben, denn in der guten Woche seit seiner Übernahme von Twitter konzentrierte er sich bekanntlich darauf, dort etwa die Hälfte der Belegschaft zu feuern. Besonders viele Techniker, die zwischen zwei Grünenpolitikern heimlich die elektronische Schere hätten ansetzen können, waren in San Francisco gerade nicht zur Hand.

Albrecht gehört zu den öffentlichen Figuren, die sehr viel Lebenszeit auf Twitter verbringen. Diese Plattform prägte ihn offenbar stärker als vieles andere. Wenn ein Politiker, von dem selbst neun von zehn Deutschen noch nie etwas gehört haben dürften, es ganz plausibel findet, dass der reichste Mann der Welt einen Willkürplan gegen ihn und andere Wohlgesinnte ausheckt, dann kann man das komisch finden. Dummerweise bestimmen Leute wie Albrecht auch das analoge Leben in Deutschland, im Gegensatz zu Musk übrigens, der selbst in den USA nur über einen begrenzten Einfluss verfügt.

Mag sein, dass etliche Beobachter Musk überschätzen. Das schadet allerdings keinem. Auf der anderen Seite unterschätzen viele den Einfluss von Leuten mit dem mentalen Zuschnitt eines Jan Philipp Albrecht auf den Rest der Gesellschaft. Das ist zumindest leichtsinnig.

Albrecht gehörte früher dem EU-Parlament an, amtierte dann als Energiewendeminister in Schleswig-Holstein und sicherte sich, als er dort vor der letzten Landtagswahl nicht als Spitzenkandidat zum Zuge kam, weil die Partei eine weibliche Doppelspitze wollte, mit 40 Jahren den Versorgungsposten des Vorsitzenden der Heinrich-Böll-Stiftung. Als EU-Abgeordneter wirkte er federführend an der Datenschutzgrundverordnung mit, einem Gesetz, das in den Alltag von Millionen eingreift, woran jeder beim Webseitenbesuch erinnert wird, wenn er das Einverstanden-Häkchen anklicken muss.

Von seiner Zeit in der Grünen Jugend bis heute findet sich in Albrechts Biografie keine Tätigkeit außerhalb des Staatsgeldbereichs. Trotzdem oder möglicherweise gerade deshalb gab er, als Musk Twitter übernahm, nicht nur seiner Besorgnis Ausdruck, eine zivilisatorische Errungenschaft (nämlich die Kurznachrichtenplattform) könnte durch den neuen Eigentümer zerstört werden. Er stellte auch noch fest, Musk, immerhin Gründer einiger Unternehmen und Eigentümer von gut 250 Milliarden Dollar, sei inkompetent.

Wer nun erwartet, dass Albrecht, bevor ihm dort Schlimmeres als die Zwangstrennung von einem Mitgrünen widerfährt, schleunigst und aus Prinzip von einer Plattform flieht, die ab jetzt einem inkompetenten Narzissten gehört, kennt weder den Phänotyp dieses Politikers noch Twitter gut. Was stört Albrecht und viele andere überhaupt an der Twitter-Übernahme durch Musk? Die Plattform gehörte ja auch vorher schon wohlhabenden Personen, ein großer Teil davon beispielsweise einem Prinzen aus Katar. Der neue Eigentümer hatte angekündigt, künftig weniger in die freie Rede eingreifen zu wollen, solange sie sich im gesetzlichen Rahmen bewegt. Und deutete auch an, die einen oder anderen technischen Maßnahmen wie den sogenannten Shadowban – die reduzierte Sichtbarkeit mancher eher nichtlinker Profile – würde es mit ihm als Besitzer nicht mehr geben. Wer sich wenig oder gar nicht auf Twitter aufhält, weiß es wahrscheinlich nicht: Aber in wohlgesinnten Kreisen gilt der positive Bezug auf freie Rede heute mindestens als trumpistisch, wenn nicht als Vorstufe zum sogenannten „libertären Autoritarismus“, als ein mit aller Kraft zu bekämpfendes Übel.

Albrecht jedenfalls kündigte an, hier, auf der eigentlich fast schon ruinierten Plattform des inkompetenten Elon Musk die Frontline um jeden Preis zu halten:

Um kurz darauf anzukündigen, dass sein „no pasarán“ vielleicht ein bisschen voreilig war.

Was passiert nun mit dem Landgewinn und der internationalen Solidarität wohlgesinnter Twitterer gegen den Twitter-Eigentümer? Wo bleibt der Widerstand gegen die Orks aus den Löchern? Das bleibt im Dunkeln, Albrecht allerdings – bis jetzt jedenfalls – doch auf der Plattform.

Am Beispiel des Böllstiftungsoberhaupts lässt sich auch twitterfernen Personen gut erklären, welcher Persönlichkeitstypus auf dieser Plattform aufblüht. Zum einen gehören das pralle Vollgefühl eigener Wichtigkeit, Anklageeifer und die Bereitschaft, eigene Wesenszüge auf andere zu projizieren, unbedingt dazu. Das reicht für eine perfekte Twitter-Persönlichkeit allerdings noch nicht ganz. Es muss noch der unbedingte Wille zur Inkonsistenz dazukommen. Jemand, der als Politiker praktisch durch Twitter sozialisiert wurde – 15 Jahre machen bei etwa zwanzig Jahren in der Berufspolitik ziemlich viel aus –, kann sich nicht nur innerhalb weniger Tage als persönliches Verfolgungsopfer des inkompetenten Musk fühlen, die Plattform als Willkür- und Chaosladen abschreiben, zum letzten Gefecht für die Demokratie auf der eigentlich schon versunkenen Plattform aufrufen, um dann doch seinen Abschied anzukündigen, aber nicht wahrzumachen; er könnte dort morgen auch problemlos etwas ganz anderes schreiben, beispielsweise zur Massenflucht von Twitter aufrufen, um Twitter zu retten, und morgen wieder das Gegenteil. Nur verlassen wird er die Matrix vermutlich nicht.

Twitter ist das institutionalisierte Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Wer das zusammenhanglose Schreiben und Denken trainieren will, bringt es hier zur echten Meisterschaft. Das liegt zum einen an der Sequenzierung in die berühmten 260 Zeichen, aber auch daran, dass die einzelnen Tweets sehr schnell nach unten rücken, um in einer Art Riesenmüllschlucker zu verschwinden. Nichts kippt dem Intensivnutzer so schnell aus dem Gedächtnis wie seine eigenen vertwitterten Wortmeldungen von gestern. Der Kurznachrichtendienst mit Sitz in Kalifornien fördert bei denjenigen, die sich hier ihre öffentliche Existenz aufbauen, nicht nur das Doppel-, sondern sogar das Tri- und Multipeldenk nach dem Muster: Ich habe nie einen Topf geborgt, ich habe ihn längst zurückgegeben, außerdem hatte er sowieso ein Loch. Das fällt ihnen selbst nicht auf. Auch dann nicht, wenn jemand sie darauf hinweist. Wie es in der Technikwelt heißt: It’s not a bug, it’s a feature.

Der britische Neurologe Oliver Sacks beschrieb 2007 den interessanten Fall des Musikers Clive Wearing, der nach einer Hirninfektion in einer Art beweglichen Amnesie lebte: Sein Gedächtnis löschte automatisch alles, was länger als etwa eine Minute zurücklag. Ihm blieb nur ein winziges Bewusstseinsfenster der unmittelbaren Gegenwart (Sacks erzählte Wearings Geschichte vor allem, weil der Patient es trotzdem schaffte, lange Klavierstücke von Bach aus dem Kopf zu spielen. An seinem Beispiel ließ sich zeigen, dass das Hirn gelernte Inhalte anders abspeichert als alltägliche Eindrücke).

Wer sich ständig auf Twitter aufhält, läuft Gefahr, in einem ähnlichen Bewusstseinskästchen der ewigen Gegenwart zu landen wie Clive Wearing, nur ohne dessen kompensatorisches Talent. Bei den typischen Twitterern tritt ganz überwiegend keine echte Amnesie auf. Auch im Netz verschwindet ja nichts wirklich. Die tausenden Tweets etwa über Kartoffeln und anderes, die Ferda Ataman kurz vor ihrer Wahl zur Antidiskriminierungsbeauftragten über Nacht löschte, finden sich alle in diversen Webarchiven.

Ein echter Amnesiepatient erinnert sich tatsächlich nicht. Menschen mit twitterformatiertem Geist erkennen dagegen keine Zusammenhänge mehr zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen ihrem alten Twitterselbst und dem gerade aktuellen, selbst auf sehr kurze Distanz.

Unter den deutschen wohlgesinnten Twitterati gilt es beispielsweise als neuester Schrei, denjenigen, die darauf hinweisen, dass eine kleine Minderheit in Medien und Organisationen versucht, ihre identitätspolitische Agenda durchzusetzen, „Antisemitismus“ vorzuwerfen. Die Begründung lautet, das Bild des mächtigen Drahtziehers im Hintergrund sei schließlich Bestandteil des Antisemitismus, also sei die Kritik an den Identitätspolitikern irgendwie strukturell „antisemitisch“.

Nach dieser Logik wäre das dann aber so ziemlich jede Macht- und Ideologiekritik, völlig egal, gegen wen sie sich tatsächlich richtet. Denn fast immer liegt die Macht bei wenigen, nicht bei der Mehrheit. Die Behauptung des strukturellen „Antisemitismus“ stammt aus dem gleichen Milieu, das in einem Bild auf der Documenta, das Judenkarikaturen mit Reißzähnen und Schweinemaske zeigte, wochenlang auch nach langem Grübeln überhaupt keinen Antisemitismus erkennen konnte, sondern nur den Schrei des globalen Südens nach Gerechtigkeit. Vermutlich war der staatlich finanzierte Documenta-Antisemitismus einfach nicht strukturell genug, sondern nur konkret. Alexander Fahrenholtz, damals interimistischer Leiter der Ausstellung in Kassel, gab in dieser Angelegenheit zu Protokoll: „Ich fühle mich nicht berufen und kompetent, zu sagen, was Antisemitismus genau ist und was nicht. Erst recht nicht, wenn es um ganz konkrete Vorgänge geht.“

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete, hier einmal stellvertretend für viele andere herausgegriffen, die in der Kritik an der woken Bewegung strukturellen Antisemitismus erkennen will, beruft sich dabei übrigens auf Anetta Kahane von der Amadeu-Antonio-Stiftung, die vor einiger Zeit vor der Bundespressekonferenz ganz ähnlich argumentiert hatte, Kritik an Bill Gates’ Einfluss auf Medien und Organisationen sei „antisemitisch“. Gates sei zwar kein Jude, aber das Versatzstück des einflussreichen Reichen tauche schließlich auch im Antisemitismus auf.

Es versteht sich von selbst, dass dieser Befund in der twitterstrukturierten Öffentlichkeit nur für Kritik an dem Milliardär Gates gilt, aber nie und nimmer für Kritik an dem Milliardär Elon Musk. In seinem Fall gibt es für alle Wohlgesinnten geradezu eine Pflicht, ihn als einflussreichen reichen Strippenzieher zu geißeln, der Verschwörungen gegen progressive Leute plant und Twitter nur übernimmt, um damit weitgespannte politische Ziele zu verfolgen.

Die Wohlgesinnten halten es, wie schon erwähnt, für ein großes Problem, dass Musk sich als „free speech absolutist“ bezeichnet und ankündigte, nur noch Meinungsäußerungen von der Plattform zu werfen, die gegen Gesetze verstoßen. Das sei nicht nur brandgefährlich und bringe Trump wieder zurück. Zu viel Meinungsfreiheit, heißt es von progressiver Seite sowohl in den USA als auch in Deutschland, gefährde ganz grundsätzlich die Demokratie.

Screenprint ntv

Diese Ansicht, im Rahmen der Gesetze könnte ruhig alles gesagt werden, gilt in guten Kreisen vor allem auf Twitter als Ausweis einer rechten, autoritären, ja totalitären Gesinnung. Die Mitarbeiter der ZDF-heute-show bastelten dazu schon einmal ein einprägsames Schaubild.

(Ganz nebenbei, der Tag ist nicht weit, an dem die gleichen Heute-Showtalente irgendjemand auf Twitter der NS-Verharmlosung beschuldigen.)

Das Milieu, das Musk gerade vorwirft, es mit der Redefreiheit auf Twitter zu weit zu treiben und nicht mehr genügend Wortmeldungen wegzucanceln und zu shadowbannen, von denen sich Gutgesinnte gestört fühlen, erklärt gleichzeitig auch auf Twitter, so etwas wie Redeeinschränkungen und Cancel Culture gäbe es überhaupt nicht, das seien rechte Kampfbehauptungen und rechte Kampfbegriffe.

Und das, während ihnen schon die Finger zucken, die Absage irgendeiner Veranstaltung mit den falschen Themen und Teilnehmern zu fordern, den Rauswurf irgendeiner Person, die sich nicht an bestimmte Sprachregelungen hält, oder ein Medium öffentlich anzuprangern, das etwas erwähnt, was nicht erwähnt werden soll.

Zu den Grundsätzen des wohlgesinnten Twittermobs gehört es auch, immer nach einem zentralen Endgegner zu suchen, dem Bösen à jour. Wenn es für sie in ihrer Inkonsistenz überhaupt so etwas wie einen festen Punkt gibt, dann den jeweils neuesten Weltfeind. Der konnte gestern Trump heißen, heute Musk mit seiner obskuren Idee von Redefreiheit. Morgen ersetzt ihn ein ganz anderer Ersatzteufel. Ein Tweet hat 260 Zeichen, und der nächste Hitler ist immer der schwerste.

Nach diesem Muster von Amnesie und Hochmoral geht es quer durch die Themenfelder. Nirgendwo bestehen meist sehr erregte Leute so sehr darauf wie bei Twitter, ein drittes Geschlecht (und alle weiteren) wären eine biologische Realität und geschlechtsangleichende Therapien und Operationen ein echter Geschlechtswechsel. Gleichzeitig belehrt ein Verband auf Twitter die Öffentlichkeit darüber, entscheidend sei, „wie eine Person sich fühlt“.

Dieses individuelle Gefühl soll dann aber wieder allgemeinverbindlich sein („Transfrauen sind Frauen“). Wer wie die Biologin Marie-Luise Vollbrecht dann trotzdem auf die Existenz von nur zwei biologischen Geschlechtern hinweist, den ordnen die Twitterguten im Handumdrehen dem Faschismus zu. Manchmal muss eben auch die kleine Unterteufelin als hochpotenter Feind herhalten. Die wichtigste Regel aller Behauptungssysteme, die im Twitterbiotop besonders gut gedeihen, lautet: Regeln gelten mal, dann wieder nicht. Ziemlich oft gelten auch Behauptung a und minus a gleichzeitig.

Ein Twitterer mit dem nome de plume Argo Nerd machte daraus auf Twitter eine Kunstform, die daraus besteht, zwei Tweets dieser Sorte meist kommentarlos nebeneinander zu stellen. Hier nur ein willkürlich herausgefischtes Exempel von sehr, sehr vielen:

Möglicherweise heißt es in den twittergeschulten benevolenten Kreisen demnächst, es sei gefährlich und quasinazistisch, überhaupt auf so etwas wie Konsistenz zu bestehen. Der eine oder andere meint jetzt vielleicht, die weitgehende Auflösung der Folgerichtigkeit auf Twitter wäre zwar ein Phänomen innerhalb eines weitgehend geschlossenen Kreises, würde aber im analogen Leben keine Rolle spielen.

Das trifft leider nicht zu. Da sich auf Twitter überdurchschnittlich viele Politiker und Journalisten aufhalten, prägt dieses Medium mittlerweile sowohl Politik als auch Medien. Und zwar erheblich. Die aus der „New York Times“ wegen unzureichender ideologischer Ähnlichkeit mit der Redaktionsmehrheit herausgemobbte Journalistin Bari Weiss nannte Twitter in ihrem Abschiedsbrief den „ultimativen Redakteur“ der Zeitung. Das trifft nicht nur auf die NYT zu, sondern auf viele Blätter und Fernsehstationen. Und auf den politischen Betrieb. Es gibt mittlerweile eine ganze Generation twittersozialisierter Medienmitarbeiter und Mandatsträger. Es gibt Texte und Politikerreden, die sich anhören wie aneinandergereihte Kurznachrichten. Das Problem liegt, wie schon erwähnt, weniger in den einzelnen Sätzen als in der Auflösung von Zusammenhang und Zurechnungsfähigkeit.

Das gleiche politische Milieu, dessen Kampfruf in der Corona-Zeit „folge der Wissenschaft“ lautete, obwohl es wirklich dazu sehr unterschiedliche Ansichten von Wissenschaftlern gab, hält Wissenschaft für überflüssig, gefährlich und biologistisch, wenn Biologen erklären, dass nur zwei biologische Geschlechter existieren.

Die gleichen Politiker, die öffentlich erklärten, es gebe in Deutschland gar kein Stromproblem, erlassen Verordnungen, nachts keine öffentlichen Gebäude und Denkmale mehr anzustrahlen, um Strom zu sparen, und zahlen drittens aus Steuermitteln Kaufprämien für Elektroautos.

Der Wirtschaftsminister erklärt, es komme auf jede eingesparte Tonne CO2 an, und es gebe nichts Wichtigeres als die Klimarettung durch Deutschland, gleichzeitig bringt er schon stillgelegte Kohlekraftwerke ans Netz, weil er die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke offenbar für noch etwas dringender hält. Dass aufeinanderfolgt, was ganz offensichtlich nicht zusammenpasst, macht nur den einen Teil der öffentlichen Wahrnehmungsstörung aus. Teil zwei besteht darin, dass auch ein erheblicher Teil der Medien im gleichen Takt schreibt und sendet.

Bei der Bewegung „Letzte Generation“ handelt es sich um eine fast vollständig von Twitter geformte Erscheinung. In ihr kommt alles Twittertypische zusammen: die Hybris, sich zur letzten Generation zu erklären, die histrionische Persönlichkeit, die es braucht, um in Museen Kartoffelbrei über Gemälde zu kippen und Parolen in die Videokamera zu schreien, aber auch die totale Inkonsistenz in allen Handlungen und Erklärungen.

Ginge es ihnen um den CO2-Ausstoß, müssten sie sich vor dem Wirtschaftsministerium festkleben, um eine Rückkehr zur Kernkraft zu fordern, statt Berufspendler und Krankenwagen zu blockieren. Ginge es um die Dringlichkeit, müssten sie sich nach ihren eigenen Maßstäben wenigstens in Peking am Boden befestigen. Vor allem aber – da sie ihr ganzes Straßenkleben und Kartoffelsuppenschütten damit begründen, die Menschheitskatastrophe drohe im nächsten Augenblick, falls die Politik nicht alle ihre Forderungen subito erfüllt – müssten sie spätestens im kommenden Jahr alle Bemühungen einstellen. Denn dann führt sowieso nichts mehr am Untergang vorbei.

Natürlich werden sie sich weder vor dem Wirtschaftsministerium noch in Peking ankleben, sondern weiter als narzisstischer Stoßtrupp Normalbürger und Kunstwerke attackieren. „Die letzte Generation“ ist so etwas wie die Fortsetzung von Twitter im analogen Raum. Selbst derjenige, der von dieser Plattform nichts wissen will, begegnet ihr, wenn er gerade im Stau vor der Straßenblockade steht. Auch in der deutschen Corona- und Energiepolitik erlebt ein Bürger das Inkonsistenz- und Amnesieprinzip von Twitter, ob er will oder nicht. Für ihn gilt der Satz aus Donald Barthelmes Erzählung „Der Goldregen“: „Vielleicht sind ja Sie nicht am Absurden interessiert. Aber das Absurde ist es an Ihnen.“

In der Geschichte gab es immer wieder Eifererorganisationen mit Endzeitvisionen wie Savonarolas Anhänger in Florenz. In der Politik gab es immer die Neigung, das eigene Geschwätz von gestern zu ignorieren. Opportunismus gehört zu den humanen Wesenszügen. Es gab auch schon immer Narzissten und Scharlatane, auch und gerade in öffentlichen Ämtern. Aber Twitter, so, wie es bisher funktionierte, wirkt auf diesen Phänotyp ungefähr so wie Methamphetamin oder Fentanyl auf Leute mit Suchtneigung: Die Plattform macht aus Defekten ein Prinzip. Sie zerfrisst die Fähigkeit, in Zusammenhängen zu denken.

Zivilisierte Gesellschaften leben vom Ausgleich von Interessen, die manchmal sehr weit auseinanderliegen können. Interessen lassen sich aber nur ausgleichen auf der Grundlage gemeinsamer Begriffe und Regeln. Die Identitätspolitik, die eine tribalistische Ordnung anstrebt, und das Twitterprinzip der völligen Inkonsistenz ergänzen einander ideal. Sie bilden ein Zweikomponentengift für die Bürgergesellschaft. Wer die freie Rede zur Gefahr für die Demokratie erklärt, Musk zum neuen Diktator und Kritik an der woken Ideologie zum Antisemitismus, verbreitet nicht nur einfach das Abstruse und Verdrehte. Er verschüttet systematisch die Kommunikationswege einer Gesellschaft. Das erste Gegenmittel besteht darin, diese irrationalen Prozesse so rational wie möglich zu beschreiben. Das zweite, sich bloß nicht selbst in diese Inkonsistenz hineinzerren zu lassen.

Der Autor dieses Textes hält sich auch deshalb (ab und zu) bei Twitter auf, weil diese Plattform als Zauberspiegel funktioniert, in dem sich gesellschaftliche Entwicklungen gut erkennen lassen, weil sie dort in hoch konzentrierter Form stattfinden. Wer es gewohnt ist, längere Texte zu lesen und zu schreiben, dem kann die Kommunikationspraxis dort genau so wenig anhaben wie der twittergeboosterte Stil in Politik und Medien.

Was Musk mit Twitter plant, lässt sich schwer sagen. Bei dem Lieblingsreservat der Wohlgesinnten und Erwachten handelt es sich um ein hoch defizitäres Unternehmen. Im Jahr 2021 lag der Nettoverlust des Unternehmens bei 221 Millionen Dollar. Gleichzeitig leistete Twitter sich bis vor Kurzem eine hochbezahlte Angestelltenkaste. Mit Musks Worten: „Für jeden, der etwas programmiert, scheint es hier zehn Leute zu geben, die irgendetwas managen.“ Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Politik- und NGO-Betrieb scheint es also auch im Inneren gegeben zu haben.

Vielleicht versucht der neue Eigentümer, aus Twitter etwas Ähnliches wie den chinesischen Dienst WeChat zu bauen, eine Plattform für Kommunikation, aber auch für Finanzdienstleistungen, also eine Art Fusion aus Google Mail, Twitter und PayPal. Vielleicht scheitert er damit, womit er für seine Hasser seine Inkompetenz bewiesen hätte. Möglicherweise führt er die Plattform mit dem blauen Vogel zum Erfolg. In diesem Fall würden die gleichen Leute ihn als skrupellosen Kapitalisten geißeln und seine Enteignung fordern.

Aber sie verlassen diese Plattform höchstwahrscheinlich nicht. Im Gegenteil, sie klammern sich an ihren Wirt. Die allermeisten Erwachten attackieren zwar pausenlos den Kapitalismus und fordern in ihren Wortmeldungen, die sie vom neuesten iPhone abschicken, den System Change. Aber von Twitter zu Mastodon – einer Art Dschungelcamp für progressive Z-Prominente – wechseln vermutlich genauso wenige wie von Kreuzberg und San Francisco nach Caracas und Havanna.

Selbst wenn Twitter komplett untergehen sollte: Es steckt mittlerweile zu viel davon in der Gesellschaft, als dass es dort einfach verschwinden würde. Für die wichtigste Auseinandersetzung in den westlichen Ländern spielen die alten Begriffe rechts und links kaum noch eine Rolle. Auf einmal geht es wieder um die Aufklärung als Ganzes. Wer darauf besteht, eins und eins nach der traditionellen Methode zusammenzuzählen, steht schon mitten auf dem Schlachtfeld. Ob er will oder nicht.

Anzeige
Die mobile Version verlassen