Es geht um Migration, und „wer sich die Zahlen ansieht, bemerkt, warum darin so viel politische Sprengkraft steckt“, sagt Lanz. „Noch nie in der Geschichte hat Deutschland so viele Menschen aufgenommen wie im vergangenen Jahr.“ Mehr als 1,1 Millionen, also elfmal Gütersloh oder einmal Köln, sei eingewandert. Die Frage des Abends: „Warum reden Politiker so gern über ein modernes Einwanderungsrecht, aber so ungern über die Schattenseiten von Migration?“
Ralf Stegner wird an diesem Abend keine Antworten geben. Er redet viel, aber er sagt wenig. Man habe so viele Flüchtlinge aufgenommen, „ohne dass die Debatten so gewesen wären wie 2015/2016“, sagt er. Er lobt erstmal die Türkei, weil die sich so prima um Flüchtlinge kümmere. Da wird er sofort von der türkischstämmigen Berliner Integrationsexpertin eingenordet. „Ich muss da mal reingrätschen“, sagt Güner Balci. „Wir sehen, dass Flüchtlinge Menschen dritter Klasse sind in der Türkei.“ Stegner rudert sofort zurück. Ja gut, ja nein, so habe er das nicht gemeint. Kein Loblied, nein, nein. Kein Schönreden. Balci wird ganz deutlich: „Mit Flüchtlingen geht man dort schon seit längerem sehr schlecht um, und wir blenden das aus.“
Palmer zu Asylanträgen: Das System steht vor dem Zusammenbruch
In Deutschland ist die Lage ganz ähnlich. Um die Schlagworte der Zeit – Gewalttaten, Messerangriffe, keine Abschiebung – drückt sich die Runde lange herum. Boris Palmer hat vier Probleme ausgemacht: zunächst die Bürokratie. „Wir können die ganzen Anträge schlichtweg nicht mehr bearbeiten“, sagt der Tübinger Oberbürgermeister. Das System stehe „vor dem Zusammenbruch“. Dann die Kinderbetreuung. „Wir finden das Personal nicht.“ Allein in Tübingen gebe es mehr als 100 unbesetzte Stellen. Dritter Punkt: die Unterbringung. „Wir müssen jetzt wieder Turnhallen belegen“, sagt Palmer. Und zwar langfristig. Das bedeute für die Flüchtlinge „Jahre in Turnhallen“. Und schließlich noch die Integrationskraft. Palmer: „Die Leute sind nicht da, die es machen können.“
Lanz will Stegner mit ins Boot holen: „Warum sind wir so furchtbar bürokratisch?“ Doch Stegner hat noch Phrasen im Köcher. Es sei wichtig, „dass man in Notsituationen sagt, es muss pragmatisch geholfen werden“. Und er versteigt sich zu einer seltsamen Aussage: „Das Land, das den wirksamsten Wirkstoff gegen Covid entwickelt hat, hat gleichzeitig die meisten Formulare gehabt für die Tests und für die Impfungen. Das eine ist gut, und das andere ist überflüssig.“ Es bleibt unklar, wie herum er das meint, angesichts der vielen Impfnebenwirkungen. Lanz hakt nach: Und warum tut die Ampel dann nichts? Stegner: „Wir hatten den Ukraine-Krieg, die Dinge brauchen ein bisschen länger.“
Die Asylbewerber sind für den SPD-Mann ein Volk der Arbeitshungrigen. „Wer von denen will denn nicht arbeiten?“, fragt er, und: „Wir brauchen die ja auch. Wir brauchen Fachkräfte.“ Palmer schmunzelt so laut, wie man nur laut schmunzeln kann: „Da darf man sich nicht zu viele Illusionen machen. Nicht jeder kommt als protestantischer Workoholic auf die Welt.“ Von den Geflüchteten seit 2015 seien nur 25 Prozent beschäftigt. „25 Prozent sind in Qualifikation, Fortbildung etc., und 50 Prozent sind schlicht nicht tätig.“
„Ist das nicht ein großartiger Fortschritt? Das ist doch prima“, ruft Stegner begeistert. Palmer antwortet: „Das kann ich nicht so sehen. Das ist eine Frage des Anspruchs. Sechs Jahre Müßiggang sind keine Integrationsleistung.“ Er habe in Tübingen den Asylanten gut bezahlte Reinigungstätigkeiten angeboten. „Nach vier Wochen war kein einziger Syrer mehr da. Wir sollten schon mal ehrlich drüber sprechen.“
„Wie kann es sein, dass Deutschland Jahr für Jahr Rekordeinwanderung hat und trotzdem einen unglaublichen Fachkräftemangel?“, will Lanz wissen. Stegner: „Da kommen wir mit der eigenen Bevölkerung nicht hin. Wir brauchen Fachkräfte.“ „Aber Herr Stegner“, zischt Lanz, „Wir haben 2,5 Millionen Arbeitslose. Das ist nicht wenig.“ Er schlägt den Weg Dänemarks vor: „Wer in das Land kommt, der arbeitet dann auch bitte.“ Stegner widerspricht: „Bevor wir über Zwangsarbeit reden …“, doch Lanz unterbricht ihn: „Sie nennen das Zwangsarbeit? Was ist denn das für ein Menschenbild?“ Stegner: „Ich finde, es ist eine falsche Diskussion zu sagen, wir müssen Arbeit vorschreiben. Wir müssen Arbeit vor allem ermöglichen.“ Ein Satz mit der Strahlkraft eines LED-Nachtlichts.
Palmer zählt drei Beispiele auf. Bei denen sogar bestens integrierte Fachkräfte abgeschoben wurden. Eine Altenpflegerin hat er persönlich gerettet, obwohl sie „in die Fänge von Querdenkern geraten“ war und ihren Impfpass gefälscht hatte. Huch, da blitzt kurz der alte Totalitaristen-Palmer durch, der noch vor zwei Jahren Zwangsgelder und Haft androhte, wenn jemand die Impfung verweigerte. Stegner findet, „dass wir anfangen müssen, die Dinge anders zu sortieren“, und setzt zu einer ausgedehnten Dampfplauderei an. Balci wird konkreter.
Das Problem sei, „dass wir uns mittlerweile schon in einer absolut getrennten Gesellschaft befinden“. Dass sich etwa Milieus etablierten, „wo die Abwesenheit von Mädchen offensichtlich ist“. Und Soziologe Gerald Knaus kritisiert: „Wir führen absurde Debatten. Wir reden nicht darüber, was hier passiert. Wir haben ein Muster.“ Das Problem bei den Flüchtlingsströmen seien ganz klar „alleinreisende, junge Männer“. Aber: „Es wird nicht eingeschritten. Da ist unser Staat einfach dysfunktional.“
Stegner hat die Lösung: „Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, zu sagen, dass Gewalt nicht akzeptiert wird.“ Lanz kapituliert: „Das ist ein sehr schöner Satz, Herr Stegner.“