Tichys Einblick
Legendenbildung

Merkel-gefällige ZDF-Doku-Fiktion „Stunden der Entscheidung“

Hier wird geschönt, was nicht zu schönen ist. Ein Film als Auftragsarbeit aus dem Kanzleramt. Filmförderung selbstverständlich inklusive.

Screenprint: ZDF

Ein ZDF-Film zur besten Sendezeit erzählt am 4. September 2019 zu den Ereignissen des 4. September 2015, damals, als die Kanzlerin von Deutschland und der Kanzler von Österreich sich entschlossen, jene tausend Flüchtlinge zu übernehmen, die nicht in Ungarn bleiben wollten, die sich stattdessen schon auf der ungarischen Autobahn zu Fuß auf den Weg gemacht hatten.

Christian Twente, der Regisseur dieser Doku-Fiktion ist auf historische Stoffe spezialisiert. Er ist abonniert auf die fernsehgerechte Stutzarbeit an den ganz großen historischen Themen, vom „Kampf um Germanien“ (2009) zu Alexander dem Großen, das Leben von Luther und Marx bis hin zu einer Dokumentation über „Die Kölner Silvesternacht“ für Frontal 21 ausgestrahlt am Nikolaustag 2016 und einem Film über „Uli Hoeneß – Der Patriarch“.

Sagen wir es gleich vorab, damit in den folgen Zeilen keinen Moment lang Missverständnisse aufkommen: Nein, hier wird keine Verfilmung von Robin Alexanders „Die Getriebenen“ gezeigt, hier läuft eine öffentlich-rechtliche Auftragsarbeit mit einem wesentlichen Ziel: der Ausmalung des Heiligenscheins der Angela Merkel als bodenständige und Fischbrötchen essende Kanzlerin, die in ihrer gepanzerten Audi-Limousine unermüdlich durchs Land fährt und an nichts anderes denken kann als an die Geschicke der Deutschen und weit darüber hinaus – so weit, wie ihre humanitären Großschwingen nur reichen. Eine Gottgleiche. Eine, die beispielsweise erst willens ist, ins ihr angereichte Brötchen zu beißen, wenn sie sich vergewissert hat, das ihr Mitfahrer auch was zwischen die Rippen bekommt. Das alles erzählt diese ZDF-Doku-Fiktion in Tatort-Länge.

TE fragte vorab den Welt-Reporter und Autor Robin Alexander: „Wurden Sie dazu im Vorfeld oder während der Dreharbeiten befragt?“ Die Antwort des Autors von „Die Getriebenen“ kommt kurz und bündig noch während des laufenden Films: „Wurde nicht gefragt.“

Dilletantismus und Verantwortungsflucht
Deutschland wird nicht regiert
Tatsächlich wäre das auch merkwürdig gewesen, denn Alexanders Investigativgeschichte lebt von den Tagen und Wochen nach dem 4. September, als sich die deutsche Regierung unter Merkel final weigerte, die Grenze endlich zu sichern, als entsprechende Pläne und Vorbereitungen dazu aber getroffen waren. Thomas de Maizière wird ganz zum Ende des Films über diesen 4. September fälschlicherweise sagen: „Das war der Ausgangspunkt der Spaltung des Landes, die daraufhin folgte.“ Nein, das war er ganz sicher nicht. Es war nicht diese humanitäre Geste, die ja von den meisten Deutschen mitgetragen wurde, es waren die Tage danach, die in dieser öffentlich-rechtlichen Heiligensprechung einfach nicht vorkommen.

Oder doch: Einmal, fast zum Ende der Doku-Fiktion wird es schräg wie falsch, da träumt nämlich die Merkel-Darstellerin in der Nacht auf den 5. September. Und vor ihrem inneren Auge zieht noch einmal ihr Leben seit der Wende vorbei – die entsprechenden öffentlich verfügbaren Bilder werden eingeblendet – und dann spricht sie die Worte: „Das ist nicht mein Land!“, die allerdings sagte sie erst fast zwei Wochen später. Der Satz konnte also gar nicht Teil ihrer persönlichen inneren Rückschau gewesen sein.

Ein Kardinalsfehler, denn er belegt die so fehlerhafte Konstruktion dieser Doku-Fiktion insgesamt, wenn damit so deutlich wird, worum es hier eigentlich gehen soll: Die humanitäre Geste vom 4. auf den 5. September 2015 soll die Verweigerung der Rückkehr zur Normalität in den darauf folgenden Wochen und Jahren (!) übertünchen.

Die „Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge“, Untertitel:
„Dieser Film rekonstruiert die Ereignisse des 4. September 2015“ ist eine Mogelpackung, eine öffentlich-rechtliche Reinwaschung. Und man kommt nicht darum herum zu attestieren, wie perfide dabei filmmeterweise vorgegangen wurde.

Robin Alexander wurde nicht dazugebeten? Natürlich nicht, denn es hätte die Gefahr bestanden, dass er mit seinem „Aussagen“ das Drehbuch des Films ad absurdum geführt hätte. Spannend wäre eine Verfilmung von „Die Getriebenen“ tatsächlich gewesen – aber eben auch besonders wirkmächtig. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist es schon ein Wunder, dass diese Merkel-Lobhudelei nicht schon vor den Wahlen ausgestrahlt wurde, wie es irgendwo angekündigt war. Aber da schwante wohl den Programmmachern, dass damit die Grenze des Erträglichen doch noch einmal mehr überschritten wäre.

Zusammengeführt werden im Film zwei parallel verlaufende Erzählstränge: Hier der Tag der Kanzlerin, dort der „Flüchtlingszug“ durch Ungarn entlang der Autobahn, startend am Bahnhof in Budapest. Die Dramatik der Erzählung will ungefähr jener entsprechen, als würden hier die Stunden vor der Stürmung der Landshut dargestellt, als PLO-Terroristen deutsche Urlauber entführten, um die RAF-Gefangenen Baader und Co. aus Stammheim zu befreien.

Verantwortungsflucht
Neues Buch: Scheitert Thomas de Maizière am Versuch der Selbstrechtfertigung?
Dieser Film ist der Versuch, einen fortlaufenden Prozess der Destabilisierung als den einen historischen wie unumkehrbaren Tag darzustellen. Hier wird über das öffentlich-rechtliche Fernsehen der Versuch unternommen, eine politische Agenda der Massenzuwanderung nach Deutschland und Europa zu einem unumkehrbaren Schicksalstag umzudeuten, ihn aus der Ferne zu betrachten und zu bewerten. Ein Film als Politikum. Ein Film als Auftragsarbeit aus dem Kanzleramt. Filmförderung selbstverständlich inklusive.

Thomas de Maizière beginnt damit, festzustellen, Schlaumeier gäbe es immer, Und Bedenkenträger würden im Nachhinein immer belohnt werden:  „Faktisch ist es so, dass es sehr schwierig ist, vor Krisen, selbst, wenn sie vorhersehbar sind, Vorsorge zu treffen, politische Mehrheiten dafür zu organisieren.“

Aber welche Mehrheiten musste Merkel wofür organisieren? Oder wovon spricht der damalige Innenminister eigentlich hier, dessen Partei (CDU) in seiner sächsischen Heimat im September 2019 die Quittung für diese anhaltende Krise bekommen hat.

Wir sind auf dem Budapester Ostbahnhof, vom Live-Bild geht es fast unbemerkt in die Fiktion. Einer der Hauptdarsteller ist ein Syrer und sein Kumpel, die später den Marsch über die Autobahn anführen werden. Nachgestellte Szenen mischen sich nahtlos mit dokumentarischen Interviewszenen. Uli Edel und Bernd Eichinger (R.I.P.) hätten es filmisch und von der erwünschten brachialen Ästhetik her kaum besser machen können.

Besprechung im Kanzleramt: Morgenlage. Frage an Merkel: „Käffchen?“ „Gerne“, sagt die Kanzlerindarstellerin, die wie die Queen mit so einer schlamperten Damenlederhandtasche und Omas Buckel auf eine Weise durch die Welt läuft, das man sich instinktiv nach diesen so drollig-hässlichen Hunden der englischen Königin umschaut.

Der journalistische Experte im Film für die Bestätigung der Richtigkeit der dokumentarischen Szenen ist Martin Kaul, 2015 noch bei der taz, mittlerweile beim Rechercheverbund von NDR, WDR und SZ. Er war am 4. September 2015 in Budapest unterwegs.

Wendepunkt der Beurteilung?
Grenzschließung war 2015 rechtlich möglich
Die fiktionalen Szenen werden in Deutsch gesprochen, wo die syrische Originalsprache mit deutschen Untertiteln sicherlich noch wirkvoller gewesen wäre und noch einmal diese Distanz hergestellt hätte, die moderne Hollywoodfilmer perfektioniert haben, seit Mel Gibson seinen Jesus aramäisch sprechen und dazu weltweit Untertitel durchlaufen ließ.

„Politiker und Zeitungen haben Buttons gedruckt, Refugees Welcome, das heißt, jeder Flüchtling war eigentlich willkommen in diesen Tagen. Über Begrenzungen, über Grenzschließungen, über Zurückweisungen zu reden, war ganz gegen die Stimmung.“, sagt wieder der damalige Innenminister de Maiziere, der in dieser DokuFiktion tatsächlich um Ausreden nicht verlegen ist. Immerhin: Gerald Schindler, zu der Zeit Präsident des Bundesnachrichtendienstes, darf dem ehemaligen Innenminister direkt im Anschluss die Möbel gerade rücken – eine starke Szene ist das, wenn Schindler sagt: „Die gesamte Durchsetzung von Rechtsstaat produziert unschöne Bilder. Ich kann mir bei der Durchsetzung eines Rechtstaates, bei der Verhinderung von Kriminalität eigentlich keine schönen Bilder vorstellen. So, und mit dem Argument, unschöne Bilder vermeiden, das ist ja ein (ringt kurz nach Worten) Offenbarungseid des Staates (…) ich finde, es gehört zu den Aufgaben der Politik, das sie auch unschöne Bilder aushalten muss.“

„Ich bin ja inzwischen per Du mit Angela Merkel, aber ihre engste Vertraute siezt sie bis heute: Beate Baumann.“, erzählt ziemlich angeberisch Peter Tauber, als ginge es hier um eine nachgereichte Challenge, wer am 4. September 2015 Tasche der Kanzlerin tragen durfte. Ja ist diesem Mann denn nichts mehr peinlich?

„Ein alter Herr im Rollstuhl lief an mir vorbei“, sagt der Journalist Martin Kaul über die Migranten in Ungarn auf der Autobahn – und man denkt einen Moment lang darüber nach, was er da eigentlich gerade gesagt hat, bevor er schon weiter erzählt, er hätte auch ein kleines Mädchen gesehen, ohne Socken in ihren Schuhen  – zuvor allerdings hatte er noch erzählt, wie unerträglich die Hitze von über 40 Grad in Budapest am Bahnhof an dem Tag gewesen sein soll, wozu also Socken? Er fand es zudem ein sportliches Ziel, „jetzt 179 Kilometer nach Österreich zu laufen.“

Merkel wird hier immer wieder zwischen die dramatischen Ungarnszenen geschnitten, gezeigt wird sie in Bayern bei einem gemütlichen Termin mit Deutschlandfähnchen, die sie den Kindern mal nicht aus den Händen reißt. Harmlose Szenen, die an diesen merkwürdig verstellten Auftritt von Goerge W. Bush in der Grundschule erinnern, während gerade die Flugzeuge in die Türme einschlugen – so wartet man dann auch hier auf den Moment, wo sich Angela Merkels Gesicht verdüstern soll.

Rückblick in einen Wende-Monat
Untersuchungsausschuss zur Grenzöffnung: Der Sommer des Unrechts
Überblende in die Fiktion: Merkel mampft Fischbulette im Audi – ihre erste Frage vor dem Zubeißen ist eine humanitäre Geste an ihren Mitfahrer: „Haben Sie nichts?“ Der lächelt und schüttelt eine blaue Kindertupperdose. Loriot auf eklig: Eklig, weil wir hier über die Vorgeschichte einer der größten Verwerfungen des Landes nach Regiewunsch nur milde lächeln sollen.

„Wie viele Stunden kann man am Tag (laufen)?“ fragt die Merkelattrappe in der gepanzerten Audi-Limousine und legt ihr Fischbrötchen halbgegessen weg, weil ihr was auf den Magen geschlagen ist. Es gibt wenig private Merkel-Bilder, darauf setzt dieser Film zuallererst, dieser Schlüssellochblick wird noch von den geschickten Überblendungen in die reale Welt der Nachrichten gesteigert.

Ja doch, einmal in diesem Gemälde aus dem Gelsenkirchner Barock wird es fast monumental, dann, wenn eine einsame Kanzlerinnen-Karawane von drei schwarzen Limousinen samt Eskorte durch eine einsame dunkelgrüne bayrische Landschaft fährt – Nebel wabert über den akkuraten Wäldchen und Felderchen, deutsches Kernland eben.

De Maizière sagt noch einen Schlüsselsatz dieses Films, jenen Satz, der erklärt, warum hier das falsche Datum bebildert wird: Das Bild der entschlossenen Männer auf der Autobahn, die den Willen gehabt hätten, die Gruppe nach Deutschland zu führen, „das hat mich sehr bewegt und auch in dem späteren Entschluss bestärkt, dass es nicht so leicht ist, Grenzen zu schließen, gegen entschlossene Menschen.“

Wer aber hat dem Innenminister gesagt, dass sein Job ein leichter sein wird? Und wer hat ihm gesagt, dass seine Beamten und Grenzschützer unentschlossene Leute wären, untauglich, diesen Job überhaupt zu erledigen? Weicheier? Und vor allem: Welche Erwartung hatte der Innenminister des Landes, welche Forderungen zukünftig durchgesetzt werden könnten, wenn wieder nur „entschlossene Menschen“ ihre Forderungen formulieren würden? Was für eine Verlogenheit eigentlich, sich noch vier Jahre später so vor einer bestimmten Wahrheit drücken zu wollen.

Wiederholt sich 2015 doch?
Zuwanderung: Verkehrte Risikowahrnehmung
Und immer wieder die lustige Plaudertasche Peter Tauber mit Zwischenstandsmeldungen aus der Handtasche der Kanzlerin heraus: Die Kanzlerin wäre in der Lage, während sie eine Rede halte, über etwas völlig anderes nachzudenken, da wäre sie Profi. Immerhin eine ganz brauchbare Erklärung für manche Rede, möchte man hier einwenden. „Man hat die Kraft“, so Tauber über die Gottgleiche, die er als Normalsterblicher duzen darf, „auch über andere Dinge nachzudenken. Parallel. Davor. Danach.“  Danach? Nachdenken nach einer Rede als unheimliche Fähigkeit der Kanzlerin? Merkels Stärke sei, so Tauber, „Ich habe noch nicht fertig gedacht“, wie sie immer so schön sagt.

Aber auch de Maizière macht es wie Tauber, Küchenpsychologie beim Bau am öffenlich-rechtlichen Kanzlerinnendenkmal, wenn er ihr verschmitzt lächelnd einen verdeckt „scharfen Verstand“ nachsagt. Fast so, als würde er uns ein großes Geheimnis, eben seine persönliche Entdeckung offenbaren. Einer von den vielen düsteren Momenten dieser Doku-Fiktion.

Unerträgliche Salbereien, wenn der damalige Innenminister weiter ausführt, es sei Merkels große Stärke, wenn diese „die Kraft hat, ihre Emotionen zu zügeln und dem Verstand (den Vorzug)  zu geben – manche sagen, das ist eine Schwäche von ihr oder auch von mir – aber in einer solchen entscheidenden Führungsfrage bleibt niemand kalt. Aber die Emotionen dürfen nicht das letzte Wort haben.“ Nach Peter Tauber möchte nun also auch de Maiziere ein bisschen vom historischen Glanz in diesem 24-h-Historienschinken abbekommen.

„Sie alleine werden für die Folgen dieser Entscheidung verantwortlich gemacht werden“, erinnert am Telefon Büroleiterin Baumann. Als die Merkel-Darstellerin betont, dass sie möchte, dass festgeschrieben wird, dass es sich bei der geplanten Aufnahme der Flüchtlinge um eine Ausnahme handeln würde, muss man ob dieses Drehbuches den Nachtkaffee wieder aus der Tastatur schütten, so bitter-lustig ist das eigentlich. Fast so bitter übrigens, wie der Schlusssatz. Der gehört nämlich Gerald Knaus, der einem privaten Think-Tank vorsitzt und Merkels Autor des Türkei-Deals ist. Knaus sagt da doch tatsächlich, Deutschland stände heute nicht schlechter da als vor vier Jahren. Und damit liefert er noch satter ab als Tauber und de Maizière zusammen genommen. Tatsächlich, einer muss ja am Ende der König der Knöpfe in der Handtasche der Kanzlerin unterm Heiligenschein sein.

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