Vor der Wahl in Großbritannien gehörte die „Süddeutsche“ zu den deutschen Medien, die nicht mehr das Beste hofften, sondern ihre Leser schon einmal auf das Schlimmste vorbereiteten. Nicht nur würde der bisher schon regierende Premierminister bleiben, allerdings ausgestattet mit einer soliden Mehrheit; der gesamten Insel, so das luzide Münchner Blatt, stünden schwere bzw. schwerste Zeiten bevor.
„Aufbruch in eine düstere Ära“, die Überschrift zeigte schon, welche Geschichte da in Albion gespielt wird:
„One for the Dark Lord on his dark throne
In the Land of Mordor where the Shadows lie.
One Ring to rule them all, One Ring to find them,
One Ring to bring them all and
in the darkness bind them.“
Irgendein Ding, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden, wird Alexander Boris de Pfeffel Johnson schon mit sich führen, selbst wenn es vorübergehend in der Mittelkonsole seines Toyota verkramt haben sollte.
Denn anders ließe sich sein Erfolg ja gar nicht erklären.
„Die Briten werden sich mehr abschotten“, dräut die „Süddeutsche“. Wobei man einem hypothetischen Leser außerhalb der prantlschen Welt erst einmal erklären müsste, dass dort jede irgendwie geartete Kontrolle der eigenen Grenzen als Abschottung gilt.
Wie gesagt – die „Süddeutsche“ bildete mit ihrer düsteren Prophezeihung die Ausnahme. „Vorsprung für Johnson schmilzt“, meldeten die meisten Medien kurz vor dem Wahltag. Die „Deutsche Welle“ ging in ihren Hoffnungen noch einen kleinen Schritt weiter:
Während die „Berliner Morgenpost“ schon einmal die wichtigste Frage stellte:
Am Wahlabend um 21.29 Uhr tickerte „Focus Online“: „Sein eigener Wahlkreis könnte für Johnson zur Falle werden“.
Die Falle bestand dann im weiteren Text laut „Focus Online“ in der Möglichkeit, dass der Premier vielleicht möglicherweise seinen Wahlkreis in Uxbrigde verlieren könnte, jedenfalls dann, wenn sein Herausforderer von Labour mehr Stimmen bekommen sollte als er.
Selbst, als die meisten Stimmen schon ausgezählt und der sehr, sehr deutliche Vorsprung der Tories nicht mehr wegzuframen war, zeigten die Tagesthemen eine Grafik der Sitzverteilung mit der Überschrift: „Das wird knapp“.
Wahlen, das gehört mittlerweile zu den festen qualitätsjournalistischen Regeln, sind längst nicht mehr Entscheidungen der Bürger zwischen verschiedenen Parteien, aus denen sich ergibt, wer regiert und wer opponiert. Sondern es sind praktisch ausnahmslos Armageddons, Entscheidungsschlachten zwischen der Seite der Dunkelheit und der des Lichts, ob in Ungarn, Polen, Österreich, Sachsen, Thüringen, auf der Insel und demnächst in den USA. In den deutschen Qualitätsredaktionen steht grundsätzlich fest, wer das Licht und wer die Finsternis verkörpert. Man weiß sehr genau, wie die Entscheidung auszugehen hätte, wenn die Leute im Wahlgebiet nur vernünftig wären und sich von Claus Kleber gut informiert entscheiden würden.
Meist gewinnt am Ende Mordor.
Apropos, Kräfte des Lichts: Habt ihr den anderen in Großbritannien eigentlich mal angeschaut? Jeremy Corbyn tritt man nicht zu nahe, wenn man ihn einen Vertreter des Antisemitismus-Leninismus mit saskiaeskenmäßigem Antlitz nennt. Trotzdem kam in den meisten bundesdeutschen Medien die Frage gar nicht auf, was passiert, wenn dieser Harmbolzen gewinnen sollte, der schon mal öffentlich mit dem islamistischen Rabia-Gruß auftritt.
Ihm jedenfalls und den Comrades wünschte auch die SPD/Nowabo-Esken auf dem Twitteraccount des Parteivorstandes den Sieg. Es fragte allerdings eine ganze Reihe von Followern nach, ob die SPD-Spitze Corbyns die Hamas-Sympathien gar nicht als störend empfindet.
Was das neue Duo allerdings unbeantwortet ließ.
Am Freitag dem Dreizehnten konnten die meisten Qualitätswahlfrontberichterstatter dann nicht mehr verdrängen, dass sie wieder mal Sauron direkt ins Auge blickten.
Die Finsternis hatte mit 365 zu 203 Sitzen gesiegt. Warum, das war ja klar: weil die Mehrheit der Wähler unaufgeklärt ist, Johnsons Lügen glaubt und eben nicht die richtigen Medien sieht und liest. Schon für den Brexit stimmten sie bekanntlich, weil sie gar nicht kapiert hatten, worum es ging, und es hinterher um so schlimmer bereuten, weshalb es auch nie wirklich zum Brexit kommen würde. Das ungefähr hatte die ARD-Korrespondentin Anette Dittert schon 2016 so kongenial zusammengefasst, dass es sich lohnt, ihren Kommentar noch einmal aus dem Archiv zu holen.
Und auch deshalb, damit sie endlich den hoch verdienten Courage-Preis für ihre Garderobe bekommt.
Jedenfalls, jetzt musste erklärt werden, warum und wieso es jetzt schon wieder so kam. Natürlich, siehe oben, weil Johnson unentwegt lügt und überhaupt den Anstand aushöhlt, wie Andreas Cichowicz vom NDR feststellte, der in seinem Tagesthemen-Kommentar den Rahmen wieder zurechtrückte:
„Er hat es allen gezeigt. Und alle Register gezogen: tricksen, drohen, lügen – oft schamlos. Und doch wurde er mit überragender Mehrheit gewählt.“
Und jetzt?
„Die Gefahr besteht nun, dass Johnson im Siegesrausch dem Beispiel anderer Populisten folgt, dass er die demokratischen Institutionen und den Anstand weiter aushöhlt und sich Erfolg mit sozialen Wohltaten erkauft. Auch dass er gegenüber der EU mit dem Sieg im Rücken Muskeln zeigt, statt einen sanften Brexit zu verhandeln, der beiden Seiten hilft.“
Nanu? Bisher war es doch die überwiegende Ansicht der rechtschaffenen Medien und vieler wohlmeinender deutscher Politiker, dass es auf keinen Fall zu einem sanften Brexit kommen darf, „der beiden Seiten nützt“, sondern zu einem, der Großbritannien möglichst schmerzt, schon zur Abschreckung für weitere Austrittskandidaten.
Das ZDF tröstete seine Zuschauer unterdessen mit der Sondermeldung, wer eigentlich die Wahl gewonnen hatte. Und zwar die britischen Grünen, die zwar nur ein Parlamentssitz und 2,7 Prozent der Stimmen holten, diesen Anteil aber im Vergleich zur letzten Wahl um 60 Prozent steigern konnten. Das ist zwar eine geringere Steigerung als die, zu der es die deutsche Tierschutzpartei bei der letzten Bundestagswahl brachte. Aber immerhin.
Was die Anprangerung des Anstandsaushöhlens durch Lügenjohnson angeht, ließ sich Relotius–Spiegel Online von keinem mehr überholen.
„Boris Johnson kann fortan praktisch tun und lassen, was er will. Er hat keine natürlichen Feinde mehr“, verkündete dort ein Bot Autor:
„Man muss nicht Sozial- oder Liberaldemokrat sein, um von diesem Erdrutsch, der sich da in England ereignet hat, schockiert zu sein. Denn die eigentlichen Verlierer dieser Wahl sind nicht die Labour-Partei und die vielen Stimmen der Vernunft auf allen Seiten des politischen Spektrums. Die eigentlichen Verlierer sind Anstand, Aufrichtigkeit und Integrität. Mit diesem Wahlergebnis – und diesem Sieger – hat sich Großbritannien in den wachsenden Klub jener Länder verabschiedet, die demokratischen Wettstreit, die Suche nach Kompromissen und faktenbasierte Entscheidungsfindung bestenfalls noch als lästige Pflichterfüllung begreifen. An ihre Stelle sind nun auch im selbsternannten Mutterland der modernen Demokratie das Recht des Stärkeren, die Macht der Lüge und die Eliminierung von Widerspruch um jeden Preis getreten.“
Von wem werden die Mutterländer der Demokratie eigentlich ernannt? Von Jakob Augstein? Wäre man über ein Wahlsieg Corbyns in Hamburg eigentlich auch wenigstens ein kleines bisschen schockiert gewesen? Eher nicht. Jedenfalls sind die eigentlichen Verlierer nicht diejenigen, die weniger Stimmen bekommen hatten als die Tories, und auch nicht die deutschen Qualitätsenglandkritiker, sondern Anstand, Aufrichtigkeit und Integrität.
Also doch die deutschen Qualitätsenglandkritiker.
Würde ich für ein Medium tippen, das immer noch an dem größten journalistischen Betrugs- und Lügenfall der Nachkriegsgeschichte würgt, dann würde ich schon aus taktischen Gründen die Goebbelsschnauze Klappe nicht ganz so sperrangelweit aufreißen. Aber das ist nur eine ganz persönliche Anmerkung.
Jedenfalls stellt SpOn fest, was die anderen im Prinzip auch sagen wollten, sich aber nicht recht trauten: Nicht nur bei Johnson, sondern auch bei der Mehrheit der britischen Wähler sind Anstand, Aufrichtigkeit und Integrität perdu. Die Urgroßväter des Spiegel-Journalisten hatten mit ihrem Kurzkommentar „perfides Albion“ eben doch Recht.
Dass Menschen, vor allem materialistisch denkende Menschen, hauptsächlich Arbeiter und weniger prächtig Dienstleistungsangestellte, meist interessegeleitet wählen, also rational, dass sie also in voller Absicht genau das wollen, was sie ankreuzen – diese Vermutung gilt in deutschen Redaktionsstuben jedenfalls als komplett irre. Dort versteht man es ja schon nicht, warum die Braunkohlearbeiter in der Lausitz sich so wenig für Parteien erwärmen, die darüber streiten, ob deren Kohlejobs erst bis 2038 komplett verschwinden sollen oder nicht schon viel, viel schneller.
Ein Punkt fehlt allerdings in der Berichterstattung bis heute. So, wie schon Angela Merkels „wir können unsere Grenzen nicht schützen“ den womöglich entscheidenden Schubs zum Brexit bedeutete, war die Verkündung des „Green Deal“ der EU-weiten Wirtschaftsumformung für eine Billion Euro durch Ursula von der Leyen ganz kurz vor der Wahl womöglich ein bisschen mitentscheidend. Denn Johnson hatte die Abstimmung auf der Insel ja ganz bewusst zu einem zweiten Referendum über den Brexit gemacht. Das Geldausgeben trauen auch die Briten der Wunderfrau aus Deutschland zu. Immerhin hatte die neue Kommissionschefin noch in ihrer vorherigen Funktion als deutsche Abtakelungsministerin für die Sanierung eines Segelschiffs von 89,32 Meter Länge über alles und 12 Metern Breite etwa 135 Millionen Euro lockergemacht. Das beeindruckt die Pennyfoxer von der Insel durchaus.
Jedenfalls resp. eben deshalb hatte ein Abgesandter von BoJo am Freitag eine Schachtel lauwarmer Scones bei Ursula von der Leyen zusammen mit einem Dankeschönbriefchen vorbeigebracht.
Der Spiegel indes bereitet sich und seine Leser schon mal auf das Armageddon in den USA vor. Die Serie der Endschlachten hört nämlich gar nicht wieder auf.