Die Reaktionen auf den Amoklauf von Halle nach Vorbild von Christchurch haben gezeigt, dieses Volk hat aus seiner Geschichte gelernt. Auch war Antisemitismus in Deutschland – präziser unter Deutschen – gefühlt noch nie so weit zurückgedrängt, wie heute.
Dennoch befassen sich die Bestürzungen nach Halle nicht etwa vornehmlich mit der schrecklichen Tat und diesem Angriff auf Juden in Deutschland, die auf besondere Weise und weit über die gesetzlich verankerten staatlichen Schutzaufgaben hinaus zu schützen erste deutsche Staatsräson sein muss. Nein, nach Halle passiert verstörend Maßloses, wenn Selbstbezichtigungen deutscher politischer und medialer Akteure so weit gehen, nicht etwa nur diese ihre besondere Mitverantwortung zu spüren und danach zu handeln, sondern den Deutschen selbst als latent antisemitisch zu identifizieren. Das ist den Opfern und den Bedrohten gegenüber nicht angemessen. Möglicherweise aber lässt sich dann tatsächlich an diesem speziellen Verhalten ein deutsches Volk identifizieren.
Wir sind bei Maybrit Illner. Und mit ihr wollen wir anfangen, wenn in der Sendung der Anschlag von Halle besprochen wird, bei dem zwei Menschen starben und weitere verletzt wurden. Die Moderatorin macht alles richtig. Das konnten wir über die Moderationen der vier öffentlich-rechtlichen Talkshows in den letzten Jahren selten sagen. Illner beweist sich hier einmal als Könnerin. Ihre Sachlichkeit und Zurückhaltung wirft die Frage auf, warum es ihr in vorhergehenden Sendungen so oft schwer gefallen ist, nicht aus der ihr zugewiesenen Rolle zu fallen und immer wieder Partei zu sein.
Aber der Amoklauf von Halle – Illner-Gast Sebastian Fiedler, Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, wird bezogen auf Halle von einem „Amoklauf“ sprechen, wir wollen es hier übernehmen – der Amoklauf ist also Thema einer Talkrunde und der Verantwortliche für die Sicherheit rund um die Synagoge sitzt in Gestalt von Reiner Haseloff, CDU, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, mit in der Runde, für den es – er sagt das tatsächlich – ab jetzt eine Zeit vor und nach dem Mittwoch geben wird, der in etwa erklärt, er werde damit jetzt bis zu seinem Lebensende zu tun haben.
Verständlich das alles, wenn man die Überlebenden gerade im Krankenhaus besucht hat, aber auch verstörend, wenn hier so dringend wie nie Antworten erwartet werden, die in diesem einflussreichen Amt über persönliche Betroffenheit hinaus gehen müssen. Warum denn benötigte die Polizei an so einem hohen jüdischen Feiertag fast 15 Minuten, um nach dem Alarmruf an der Synagoge zu erscheinen? Wo waren die für die Sicherheit zuständigen Beamten an Ort und Stelle?
So ist die große persönliche Betroffenheit des Ministerpräsidenten leider auch ein Symbol seines persönlichen Scheiterns, wenn es nur den Sicherheitsvorkehrungen der Synagoge selbst zu verdanken ist, das die Massenmordabsicht des Attentäters nicht vollendet werden konnte. Hier soll im Übrigen auch nicht weiter darauf eingegangen werden, dass der Terroramokläufer offensichtlich auch Probleme im Umgang mit seinem umfangreich mitgeführten Waffenarsenal hatte – hier von Glück im Unglück zu sprechen, klingt unangemessen, wenn Unglück ganz sicher die grundfalsche Kategorie für diesen Terror ist.
Bevor wir zum Auftritt des selbsternannten Terrorismus-Experten Elmar Theveßen kommen, der sofort die Amokthese Fiedlers bestreitet und sonst auf eine Weise die Morde von Halle politisch instrumentalisiert, dass man sich für den Mann abgrundtief schämen muss, soll hier kurz auf einen Artikel von Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender von Springer hingewiesen werden, der vor der Sendung erschien und der sich heute so liest, als sei er die unmittelbare Reaktion auf diese unsägliche Veranstaltung bei Maybrit Illner, wenn Döpfner zu Halle schreibt: „Deutschlands Politik- und Medieneliten schlafen den Schlaf der Selbstgerechten und träumen den Wunschtraum der Political Correctness.“
Darf man das im Zusammenhang mit Halle? Döpfners Text wird hier zum Anker für jene Illner-Zuschauer, die sich fragen, was die Grünen-Politikerin Marina Weisband in dem Zusammenhang gemeint haben könnte, als sie u.a. forderte, Muslime müssten in Deutschland besser geschützt werden.
Für Döpfner liegen die Ursachen für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit übrigens in einer „rechtsstaatlich sehr zweifelhafte(n) Flüchtlingspolitik verursacht, in einer zu schwach besetzten Polizei, einer teilweise handlungsunwillige(n) Verwaltung und Justiz“ gegenüber Zuwanderung und zuletzt in einer politischen Elite, welche die Realität verdrängt, die redet statt handelt und die unsere liberale Grundordnung „nicht leidenschaftlich gegen importierte oder immanente Intoleranz verteidigt, sondern Toleranz gegenüber Intoleranz lebt.“
Nein, Mathias Döpfner war nicht bei Maybrit Illner geladen. Mit seinem Text allerdings war er der unsichtbare Gast am Platz und machte so erträglicher, was Unerträgliches über einen unerträglichen Amoklauf erzählt wurde, zu dem der bayrische Innenminister Joachim Herrmann offensichtlich von allen guten Geistern verlassen gegenüber dem bayrischen Rundfunk erklärte, die geistigen Brandstifter in Halle seien leider auch gerade Vertreter der AfD, die „in sehr unverschämter Weise in den letzten Jahren immer mehr“ aufgefallen wären. Und die schleswig-holsteinische Bildungsministerin entblödete sich ebenfalls nicht, der AfD die Schuld für Halle zu geben, wenn sie schrieb: „Der gärige Nährboden für das Attentat von Halle wird auch von der AfD befördert.“
Eingeladen bei Illner war ebenfalls der Chef des Verfassungsschutzes von Thüringen. Stephan J. Kramer war vor dieser Tätigkeit Generalsekretär des Zentralrates der Juden. Als er von Illner darauf angesprochen wird, dass die Rechte und die so genannte Neue Rechte nicht mehr so wie früher durch Antisemitismus auffallen, liegt das für den obersten Verfassungsschützer seines Landes daran, dass dieser Antisemitismus von der Neuen Rechten nur zurückgestellt wurde, bis man beispielsweise die sozialen Netzwerke und diverse Organisationen durchdrungen hätte – der Antisemitismus sei quasi nur verschoben auf später, wenn man die Gesellschaft erobert hätte, der Antisemitismus sei dort ja zunächst nicht anschlussfähig.
Es ist eine Illner-Sendung, in welcher der islamistische Terror in Europa keine Rolle spielt. Der Spiegel ist heute früh sogar dankbar dafür:
„Stattdessen eine Seltenheit bei einem solchen Format: Die Gäste gaben sich mit ihrer Fachexpertise nicht einmal mehr Mühe, die allumfassend entmutigende Lage zu verbergen. Alle aufrichtig bestürzt, manche wirkten kurz, als seien sie den Tränen nah.“
Zustimmendes Kopfnicken bei Haseloff zu Marina Weisbands Forderung, die hunderte von Millionen Euro aus dem Pott des Familienministeriums für Demokratieförderung noch aufzustocken, anstatt sie runterzustreichen, wie gerade geschehen (und schon wieder zurückgenommen). Illner erinnert hier leicht amüsiert daran, dass die Deutschukrainerin Weisbrand selbst von solchen staatlichen Demokratie-Töpfen profitiere.
Interessant wird es noch einmal, als der Verfassungsschutzchef doch noch den islamischen Antisemitismus erwähnt. Aber beinahe entschuldigend davon die Rede ist, dass es eben arabische Herkunftsländer gäbe, wo Antisemitismus in der Schule gelehrt würde. Hier allerdings eine besondere Dringlichkeit zu sehen mit Blick auf so erzogene Einwanderer, entfällt. Nun gab es so eine Schulerziehung auch in Deutschland über mehr als ein Jahrzehnt, als die Generation der heute 85 bis 90-Jährigen Deutschen zur Schule ging. Wie relevant aber ist diese Klientel für einen deutschen Antisemitismus noch und wie weit haben diese ihre Kinder und Enkel vergiftet?
Wer daran glaubt, der glaubt auch daran, dass zukünftig jüdisches Leben in Deutschland besser geschützt wird. Fiedler bringt es auf den Punkt: Dafür braucht es Personal, das nicht zur Verfügung gestellt wird. Für Fiedler zeigt dieser Amoklauf vor allem, dass es Anlaufstellen für Familien geben muss, die auffällige Veränderungen bei Familienangehörigen beobachten. Instinktsicher scheut Terrorismus-Experte Theveßen die direkte Auseinandersetzung mit Fiedler. Elmar Theveßen duckt sich hier lieber weg.