Zeit ist bekanntlich relativ. Den kommenden Herbst gibt es gleich zweimal. Da ist der „im Herbst“, in dem uns das Gas ausgeht. In dem wir entscheiden müssen, ob wir zuerst den Unternehmen den Strom abstellen oder den Privatleuten – oder ob es für beide nicht mehr reicht? In dem noch mehr Unternehmen wegen der gescheiterten Energiepolitik das Land verlassen, so wie es das Traditionsunternehmen V&B Fliesen GmbH bereits an diesem Mittwoch verkündet hat.
Und dann ist da noch der „im Herbst“, der dem Kampf gegen ein Virus gewidmet ist, von dem Experten befürchten, dass wir es nicht oft genug feststellen, wenn wir weniger testen. In Testzentren, die reichlich Anlass für Betrugsverfahren sind. Ein Virus, das seit zweieinhalb unser Leben bestimmt. Dem wir so viel Aufmerksamkeit gewidmet haben, dass wir darüber vergessen haben, Daten zu dem Virus zu erheben. Immerhin das hat jetzt eine „Evaluierungskommission“ festgestellt, die den staatlichen Auftrag hatte, zu prüfen, ob Eingriffe in die Grundrechte wie Lockdowns, Ausganssperren, Schulschließungen, gesperrte Spielplätze oder Maskenpflicht überhaupt etwas gebracht hätten. Die aber feststellen musste, dass dies wegen den nun mal fehlenden Daten gar nicht möglich sei.
Die Talkshows machen zum Thema, was uns „im Herbst“ droht. Also dem Herbst mit der „absoluten Killervariante“, die uns der besagte Gesundheitsminister an Ostern prophezeit hat. Am Sonntag war er bei Anne Will, am Dienstag bei Markus Lanz. Das Wort vom „Bremsklotz“ über eine Kommission aus Wissenschaftlern stammt nicht von einem Querdenker, einem „Covidioten“ oder Corona-Leugner – Lauterbach hat es zwischendrin fallen lassen. Nun ist er bei Lanz und rechtfertigt sich. Er fände ja die Arbeit der Kommission toll und sei ihr dankbar. Dass mit dem Bremsklotz habe er nicht böse gemeint.
Und klar: Nun ist ja „Bremsklotz“ ein bekanntermaßen positiv belegter Begriff. Man kennt den „Bremsklotz“ des Jahres, den Schulen am Ende an den Jahrgangsbesten verteilen. Oder die begeisterten Rufe der Fußballfans auf der Tribüne: „Auf geht’s, Bremsklotz, schieß ein Tor!“ Doch genug der Ironie. Lauterbach ist zwar nur mit ihr zu erfassen. Aber trotzdem ist er ernst zu nehmen, könnte ihm doch so viel Macht zufallen wie noch nie einem Minister der Bundesrepublik: Wenn wegen dem einem „im Herbst“ Grundrechts-Einschnitte begründet werden, die der Bundesregierung wegen dem anderen „im Herbst“ gerade recht kommen.
Bei Lanz ist er nur zugeschaltet. Die räumliche Anordnung, die sich daraus ergibt, ist großartig. Hendrik Streeck sitzt im Studio. Er hat die besagte Kommission geleitet und Lauterbach nun im Nacken. Buchstäblich: Wie ein Screenshot aus „1984“ prankt der Bildschirm mit Lauterbach überlebensgroß hinter Streeck. Der trägt das Gegenteil eines Resonanzbogens. Höflichkeitstrainer empfehlen einem, in Gesprächen mit den geschlossenen Lippen ein lang gezogenes U zu bilden, um einen freundlich gesinnten Eindruck zu erwecken. Bei Streeck schlägt der Mund einen Bogen nach oben, der zu zerreissen droht. So wie der, der ihn baut.
Ihm reiche es, mit der Kritik an der Kommission. Das sagt Streeck bei Lanz, das hat er zuvor mit weiteren Kollegen in einem Beitrag für die Zeit so geschrieben. Die Kommission sei auf den Beschluss der Bundesregierung zusammengekommen; die Wissenschaftler hätten ehrenamtlich gearbeitet und müssten jetzt den Kopf dafür hinhalten, dass es an Daten fehle. Die jetzt sagen würden, man habe ja gewusst, dass Daten fehlen, hätten deren Beschaffung vorher auch nicht veranlasst. Immerhin habe die Kommission die Datenerfassung nun angeschoben. Streeck zielt auf Lauterbach, der muss es aber gar nicht auf seinen Vorgänger Jens Spahn (CDU) abschieben. Das macht Lanz für ihn. Der Moderator will sein bestes Pferd schließlich nicht im Schatten schwitzen lassen.
Lauterbach ist kein dummer Mensch. Das Karl-Prinizip kein Unfall. Sondern eine Methode. Eine erfolgreiche und zielführende obendrein. Sind die Maßnahmen auf ihren Erfolg überprüfbar, muss sich die Regierung daran messen lassen, bemerkt Flaßpöhler in der Sendung. Sind die Maßnahmen aber nicht prüfbar, und helfen vielleicht, nicht auszuschließender Weise gegen „absolute Killervarianten“, erweitert das den Spielraum des Gesundheitsministers. Das Karl-Prinzip ist nicht lustig. Es ist gefährlich. Und es trifft auf eine empfängliche Gesellschaft. Um 22.43 Uhr wollen mehr Menschen im ZDF Lauterbach sehen als davor zur besten Sendezeit eine Dokumentation über die Flut-Katastrophe an der Ahr und über die Katastrophe danach. Das gibt einen Vorgeschmack mit welchem „im Herbst“ sich die Deutschen in drei Monaten beschäftigen wollen. Es ist nicht der Herbst mit ohne Strom.