Zehn Minuten vor Mitternacht ändert sich bei Sandra Maischberger die Show. Der routiniert ritualisierte Austausch von Politfloskeln am Journalisten-Tisch endet. Dafür rücken Nora Seitz und Susanne Hansen ins Geschehen. Die Redaktion hat sie als Antipoden in der Debatte um das „Bürgergeld“ engagiert. Doch diese Idee verblasst recht schnell – was der Sendung gut tut. Denn statt des üblichen Politzirkusses findet plötzlich das echte Leben im Fernsehen statt. Wenn auch erst kurz vor Mitternacht und auch da nur für eine Viertelstunde.
Nora Seitz leitet eine Fleischerei in Chemnitz. Jeder kann sich vorstellen, wie ein ARD-Tatort den Betrieb inszenieren würde: Ein übergewichtiger Mann in blutverschmierter Schürze schlurft über einen vergammelten Hof und putzt sich die Nase am Ärmel. In Seitz‘ Fleischereibetrieb arbeiten sieben Leute. Alles Frauen. Das echte Leben unterscheidet sich diametral von dem, das die ARD sonst so inszeniert.
Seitz sieht nicht in Hansen ihre Gegnerin. Sie hat ganz andere Probleme. Da ist die galoppierende Inflation, die Preise, die ihr im Einkauf davonlaufen. Die sie weitergeben muss im Verkauf, was kaum geht, weil die Kunden sich das eben auch kaum noch leisten können. Vor den beiden Frauen war Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) in der Show und musste einräumen, dass kaum noch Bio gekauft würde, weil die Leute schauten, dass sie sich irgendwas leisten könnten.
Der eigentliche Gegner ist für Seitz die Industrie: „Im Moment treiben wir das Handwerk an die Wand.“ Das Handwerk werde gegen die Industrie ausgespielt, könne deren Preiskampf nicht mithalten. Der Staat sorge für zusätzlichen Frust, treibe die Industrialisierung weiter voran – und verspreche Hilfen gegen die Inflation, lasse aber offen, wann wie viel komme. Das sorge für große Unsicherheiten in der Kalkulation. Umgekehrt dürfte sich Seitz ein solches Verhalten nicht leisten: Zwei mal eine Mahnung der Krankenkasse nicht bezahlt und das Konto ist gesperrt.
Hansen engagiert sich in einer Initiative, die sie auf Twitter unter dem Hashtag „#IchBinArmutsbetroffen“ gefunden hat. Dort habe sie ähnliche Schicksale erfahren wie ihres: Menschen, die durch Krankheiten in Armut gerutscht seien oder durch Unfälle. Viele hätten ihre Würde verloren in einer Situation, in der sie kaum wüssten, wie sie bis zum Monatsende genug zu essen bekommen würden. Das gelte genauso für Mitstreiter, die in Teilzeit arbeiteten. Die Erhöhung des Regelsatzes auf 502 Euro sei dabei nicht einmal ein voller Inflationsausgleich.
Das größte Problem an der Lage ist: Seitz‘ Mitarbeiterin geht 40 Stunden die Woche arbeiten. In dem harten Job, den der Tatort mit dem speckigen Mann in blutverschmierter Schürze darstellen würde. Dieser Mitarbeiterin bleiben gerade mal 1.400 Euro netto, von denen sie dann noch Miete und Strom bezahlen muss. „Da wird der Abstand nicht mehr gewahrt“, sagt Seitz. So würden die Mitarbeiterinnen schon genau rechnen, ob es sich für sie lohne, weiter zu arbeiten.
Wie konnte es soweit kommen? „Man hat das Gefühl, die Politik kennt ihre Bürger nicht“, sagt Seitz. Und auch Hansen spielt nicht die Antipodin, sondern ist mit der Unternehmerin einer Meinung: „Die Politik ist nicht in der Lage gewesen, die richtigen Weichen zu stellen.“ Statt eine Situation zu schaffen, in der Arbeitnehmer gut leben könnten, würden sie nun mit künftigen Empfängern von Bürgergeld in Konfrontation gebracht.
An dem Gespräch zwischen Seitz und Hansen ist fast alles gut. Es wäre lediglich zu wünschen, dass es einen besseren Sendeplatz bekommt als kurz vor Mitternacht, mehr Zeit und mehr Aufarbeitung, etwa was am Arbeitsmarkt so schiefgegangen ist, dass eine Fleischerin kaum mehr verdient als eine Langzeitarbeitslose.