Vor vielen Jahren habe ich eine Reportage über verwahrloste Wohnungen von Messies gesehen. Dabei auch die eines Rentners. Der Mann war klug, überaus belesen, gepflegt, so stellte er sich den Zuschauern vor. Dann erhob er sich und per Schnitt wurde den Zuschauern der Zustand seiner Wohnung offenbar. Der Inhalt seiner vier Wände unterschied sich von dem der anderen wahrhaft kraus und wirr völlig zugemüllten Wohnungen durch eine massig überfüllte Ordnung. Der Mann konnte einfach keine Zeitungen wegwerfen. So stapelten sich Zeitungen noch und nöcher bis unter die Decke. Meterhohe Zeitungstürme, die von den Wänden her seine Wohnung immer weiter verengten und sie zur Zimmermitte hin zuwucherten. Der Mann bewegte sich nur noch durch einen etwa 30-40 cm schmalen Korridor durch die Räume. An manchen Passagen war ein Vorankommen nur noch seitwärts möglich.
Bitte versuchen sie, sich das einmal vorzustellen: Ein Mann, in seiner Wohnung, die völlig zugepflastert ist und der sich nur noch auf einem immer schmaler werdenden Grat durch die Zeitungstürme hindurch schiebt.
An dieses Bild muss ich stets aufs neue denken, wenn ich den immer schmaler werdenden Meinungskorridor in Deutschland betrachte.
Gestern Abend kamen abermals fünf Gäste bei Sandra Maischberger zusammen, um über „Das Flüchtlingsdrama: Versagt die Große Koalition?“ zu sprechen.
Der Einladung folgten: Stephan Mayer von der CSU, Grandseigneur „Die Renten sind sicher“ Norbert Blüm, CDU, Ralf Stegner, stellvertretender SPD-Bundesvorsitzender, Richard Sulik, slowakischer EU-Abgeordneter und früherer slowakischer Parlamentspräsident sowie Bettina Gaus, Redakteurin bei der taz.
Während jeden Tag weiterhin ungehindert bis zu 10.000 illegale Einwanderer die deutschen Grenzen übertreten, während jeden Tag Tausende das Mittelmeer überqueren, während sich 40-50% der Migranten, die zuvor sichere Staaten wie Griechenland, Italien, Serbien, Österreich passiert haben, weiterhin einer Registrierung entziehen, wobei Pässe verloren gehen, aber dringend benötigte, mitgeführte Smartphones diese Ausweisdokumente vor dem Verlust nicht fotografieren konnten, streiten sich Politiker darüber, ob man in Transitzonen oder Einreisezentren besser Kaffee oder Tee servieren sollte.
Die spinnen, die Deutschen
Erkenntnisreich war die Diskussion insofern, als dass der Slowake Richard Sulik, von außen kommend, die monatelang aufgebaute Schweigespirale komplett und völlig angstfrei angehalten hat. Seine Körpersprache, vor allem der Kopf, meist in Nein-Motion, schien zu sagen: Die spinnen, die Deutschen.
Die Schweigespirale, die monatelang durch Aufkleber und Schlagzeilen mit allen Variationen von „Refugees Welcome“ wirkte, in Gang gesetzt durch die Öffentlich Rechtlichen und 95% der gedruckten und gesendeten deutschen Medienlandschaft immer wieder noch eine Runde weitergedreht. Befeuert durch Aktivisten in den sozialen Netzwerken, die ihre Profilbilder mit sogenannten Twibbons überzogen haben, so wie sie es Monate zuvor bereits mit der Rainbow-Flag von Facebook getan haben, um ihrer Begeisterung für die Heirat von gleichgeschlechtlichen Paaren in den USA Ausdruck zu verleihen. Und so, wie sie ihr Profilbild bei der nächster sozialen Gerechtigkeitsaktion neu bestempeln werden.
Ein äußerst schmaler Meinungskorridor hat die Menschen in Deutschland verengt und eingeengt, begrenzt, belastet Diskussionen und Beziehungen im privaten Umfeld, die im öffentlichen Raum wochenlang schon gar nicht mehr geführt werden.
Sulik hat gezeigt, dass Europa über das Verhalten Deutschlands verständnislos mit dem Kopf schüttelt. Dass Angela Merkel und Deutschland mit ihrer Einladung an die Welt dieses Chaos, diese Völkerwanderung, mit zu verantworten hat.
Sulik hat auch gezeigt, dass es in Ordnung ist, das öffentlich zu hinterfragen und auf Blödsinn zu zeigen, wenn man ihn sieht. Darauf gibt es kein Monopol.
Er hat gezeigt, dass, während sich unsere europäischen Nachbarn, auf die wir so gerne verächtlich die moralischen Keule richten, sich an der deutschen Ideologie im Umgang mit der Flüchtlingskrise nicht beteiligen möchten. Denn nichts weniger hat Sulik gestern geschafft: den Spiegel vorzuhalten. Weswegen sich Ralf Stegner zunehmend in Tonfall und Lautstärke verstiegen hat. Während Sulik mit nüchterenen Sätzen kam, tropfte Stegner immer empörter mit sich steigernder moralischer Überheblichkeit ab.
Sulik spricht von kurzfristigen Lösungen, die jetzt benötigt werden. Und offenbart damit, dass die deutsche Politik jegliche kurzfristige Lösung scheut. Entweder aus Unfähigkeit oder weil sie die schlechten Bilder, die solche Lösungen mit sich bringen werden, vermeiden möchte – sehr wahrscheinlich beides. Die deutsche Politik flüchtet dann in langfristige Lösungsansätze wie „die Bekämpfung der Fluchtursachen“. Auch in der Euro-Krise; immer langfristig. Das bewahrt vor notwendigen und unbequemen Maßnahmen in der Gegenwart, die Beliebtheitspunkte kosten könnten oder Fähigkeiten erfordert, die nicht vorhanden sind.
„Es geht hier nicht um Paragraphen, es geht darum, Menschen zu helfen.“ (Ralf Stegner)
Hier ein kurzer Abriss der Sendung von gestern:
„Es ist doch Absurdistan. Wenn die Menschen so behandelt werden, wie der Herr Mayer das da gerade sagt, wer von denen würde denn dann in die Transitzone kommen? Niemand. Die kommen alle über die grüne Grenze.“ sagt Ralf Stegner.
Richard Sulik wirft ein: „Dann müssen Sie diese bewachen.“
„Am besten noch Zäune bauen und schießen. Das ist doch absurd!“, herrscht Ralf Stegner Sulik auf diese einfache Erwähnung einer Tatsache an, dass man Grenzen doch durchaus bewachen kann – und schiebt diesem damit gleichermaßen unter, dass er wohl auch für Zäune und für Schießbefehl ist. Da offenbart sich dem Zuschauer, wer pragmatisch-vernünftig und wer populistisch-ideologisch mit einem Sack voller Unterstellungen unterwegs ist.
„Warum ist das absurd?“ fragt Sulik darauf. „Absurd ist das, was Sie jetzt machen. Das, was Deutschland die letzten zwei Monate macht, das ist absurd. Die ganze Welt fasst sich an den Kopf , was Deutschland in den letzten zwei Monaten veranstaltet.“
„Diese Humanität ist ja furchtbar, dass die Deutschen human sind.“ bringt Ralf Stegner beleidigt heraus.
„Absurd ist zu sagen: Wir sind nicht in der Lage unsere Grenzen zu bewachen. Ein Land, das seine Grenzen nicht bewachen kann, wird von Weicheiern regiert.“ Harte Worte von Sulik. (Zu Grenzsicherung lesen Sie bitte auch Jan Fleischhauers Kolumne, die weiter unten verlinkt ist).
Blüm kommt mit dem Beispiel „Eiserner Vorhang“, der dafür da war, dass Menschen nicht rauskonnten. Hier aber ginge es, kontert Sulik, darum, dass nicht die ganze Welt reinkommt. Die Grenzen müsse man schließen. „Früher oder später kommt das eh“, so Sulik. Auf nüchterne, mitunter auch etwas aufgebrachte Wortmeldungen des Slowaken konnte in großer Breite nur emotional und unter Zuhilfenahme vom Lieblingsargument du jour „HUMAN“ entgegnet werden.
„…. Einwände ließ Sulik nicht gelten. Auch nicht, als Ex-Sozialminister Norbert Blüm einwarf, es gehe schließlich darum, Menschen in Not zu helfen. „Sie müssen sie nicht nach Deutschland bringen, wenn Sie sie retten wollen“, blaffte Sulik zurück. „Transitzonen an den Schengen-Außengrenzen“ seien die Lösung. Doch was mache stattdessen die Bundeskanzlerin? Sulik: „Sie bricht die deutsche Verfassung.“ Merkel rufe: „Alle sind eingeladen“. Die EU müsse „als ultima ratio“ auch über Zäune nachdenken, fand Sulik.
Er sei etwa „froh, dass Ungarn gehandelt hat“, als es die Grenzen nach Süden dichtmachte. Die Logik des Slowaken: „Es ist wichtiger die eigenen Leute zu retten, als die ganze Welt zu retten.“ Als SPD-Vize-Chef Rald Stegner ihm „Egoismus“ vorwarf, keilte Sulik deftig an die Adresse Stegners zurück: „Das ist populistisches Gelaber.“ (Quelle: Morgenpost.de)
Frank Lübberdings Medienkritik auf FAZ.net:
„… Insofern war diese Sendung lehrreich. Es wurde deutlich, warum sich der Rest Europas über Deutschlands Weg in die Isolierung wundert. Diese Verwunderung teilen allerdings auch immer mehr Deutsche. Man wäre aber erstaunt, wenn sich die Runde im Kanzleramt darüber noch wundern sollte. Ansonsten könnten sich die teilnehmenden Herren diese Sendung in der Mediathek der ARD ansehen. Man wird sie bestimmt nicht löschen wollen, weil die Erkenntnisse zu schmerzhaft für alle Beteiligten sind..“
Jan Fleischhauer schreibt in seiner Kolumne bei Spiegel Online:
„…So ist also die Lage in Europa: Es gibt die Heuchlerstaaten, die von Solidarität reden, bis allen die Ohren klingeln, aber sich, wenn es ernst wird, zur Seite drücken. Es gibt die großen Zuschauerländer wie Frankreich oder England, die höflich abwarten, wie sich Deutschland in der Krise schlägt. Und es gibt die Osteuropäer, die offen sagen, dass sie keine Flüchtlinge wollen. Was es nicht gibt, ist Verständnis oder gar Unterstützung für den deutschen Weg. Drei Gipfel, deren einzig greifbares Ergebnis bislang die Verteilung von 900 Asylbewerbern war, haben das zur Genüge bewiesen.
Wir dachten, man würde uns unsere harte Haltung in der Griechenlandkrise übel nehmen, aber das war ein Missverständnis. Nicht der spießige Deutsche, der auf die Rückzahlung alter Schuldentitel pocht, macht den Nachbarn Angst: Es ist der Deutsche mit dem großen Herzen, der sich gegen alle Einwände entschlossen hat, die Welt bei sich aufzunehmen. Es braucht nicht viel, und die Verwunderung schlägt in Verachtung um.“
Es war eine Runde, wie man sie aus dem Deutschen Fernsehen kennt: Vier Vertreter dessen, was ARD und ZDF als Mainstream identifiziert haben und nun durchzusetzen versuchen; 1 Außenseiter. Im wahrsten Sinne des Wortes ist es diesmal ein Ausländer! Ein Ausländer! Die nach diesem Comment doch irgendwie die Besseren sind, hält den Besessenen den Spiegel vor. Der 5. Mann jedenfalls gewinnt – nach Inhalt, Punkten und Haltung.
Die Frage ist am Ende die: Welche Wahrscheinlichkeit ist die größere: Dass in dieser Frage alle anderen europäischen Nachbarn um uns herum kollektiv einen an der Marmel haben – oder doch einzig und allein die Deutschen?