Normalerweise erscheinen bei „Tichys Einblick“ keine Regenbogengeschichten. Das soll sich mit diesem Text ändern, denn mild eingefärbte Berichte sind dazu angetan, die Stimmung in der Dezemberdunkelflaute etwas aufzuhellen. Deshalb erzählen wir heute von der nicht mehr ganz frischen Liebe zwischen der Chefredaktion des „Tagesspiegel“ und der Bundesregierung und ihrem Kanzler.
Zurzeit feiert – nun ja, das Wort wirkt ein bisschen frivol, aber es handelt sich ja auch um eine herzerwärmende Geschichte –, die rot-grün-gelbe Koalition feiert also ihr einjähriges Bestehen. Verschiedene Medien veröffentlichten Bilanzen dieser zwölf Monate. So auch der „Tagesspiegel“. Unter der Überschrift „Ein Jahr nach dem Koalitionsvertrag: die Bilanz der Ampel stimmt“ erschien ein Text, in dem Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff kein schlechtes Haar an dem Bündnis und speziell an seinem Chef ließ.
„Wie sagt Olaf Scholz, wenn er sich dazu äußern soll? ‚Die Kommunikation der Regierung erfolgt durch Taten.‘ Und in der Tat, von außen bis innen: Zwölf Monate nach dem Koalitionsvertrag wird die Ukraine ohne Unterlass unterstützt, sind zugleich Ampelkoalitionäre unablässig als Emissäre international unterwegs. So viel Geschlossenheit des Westens war lange nicht. Im Inneren“, so Casdorff, „sind die Gasspeicher zu 100 Prozent gefüllt, 20 Kohlekraftwerke produzieren Strom, drei Atomkraftwerke laufen über den Winter bis April 2023, das erste deutsche Flüssiggasterminal ist eingerichtet, dazu sichern etliche Gesetze den Aus- und Aufbau der erneuerbaren Energien und der Infrastruktur, auch im Straßenbau.“
Um ganz ehrlich zu sein: Früher galt es nicht als Erfolgsmeldung, wenn Kohle- und Kernkraftwerke Strom produzierten, und schon gar nicht als Verdienst der Bundesregierung. Aber schließlich schreiben wir 2022, und der Kanzler der von außen bis innen tatkräftigen Regierung, die alle Atomkraftwerke im April 2023 abschalten wird, heißt Olaf Scholz. Ihm widmet sich der „Tagesspiegel“-Herausgeber in besonderer Weise:
„Scholz will Lösungen – er bekommt sie. Streit über die Gasumlage und die Rettung Gasversorgers Uniper? Abgeräumt. Streit um die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken? Abgeräumt. Streit um die Staatsfinanzen? Abgeräumt. Nicht immer geräuschlos, aber unterm Strich effektiv. Zu Harmonie kann nur das Erreichte führen. Auch der Ausblick auf 2023 lässt sich sehen. Der Ampel kann es gelingen, die Schuldenbremse wieder einzuhalten und dem Weltthema Klima endlich in bisher nicht gekannter Weise Rechnung zu tragen. Sogar für Aktionsprogramme wie das zum ‚Natürlichen Klimaschutz‘ werden bis 2026 rund vier Milliarden Euro bereitgestellt.“
Der Regierungschef löst, räumt ab, stellt Geld bereit, auch der Ausblick kann sich sehen lassen. Während das Desaster um die mit falschen Begründungen angestrebte Impfpflicht, die für Milliarden aufgekauften nutzlosen Impfdosen, der Verfall der Infrastruktur, die mitverschuldete Energiepreisexplosion, der selbst nach Ansicht des Bundesrechnungshofs rechtswidrige zu zusammengetrickste Schuldenhaushalt und vieles andere Nörgelmaterial das „Tagesspiegel“-Jahreszeugnis nicht verunziert.
Selbst SPD-Chef Lars Klingbeil gab der Ampel in einem BILD-Interview für ihr erstes Jahr gerade eine Drei plus, die Note also, die früher in der Schule als Eins des kleines Mannes galt. Laut einer Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey zur Ampel-Bilanz nach einem Jahr, abgehalten vom 30. November bis 2. Dezember, halten 56,7 Prozent der Befragten die Leistung der Koalition für schlecht bis sehr schlecht. Und gerade 23,8 Prozent für eher gut, ganze 8,6 Prozent für sehr erfolgreich.
Wirkliche Liebe bedeutet, solche Urteile mit einer Eins Plus und Fleißsternchen auszugleichen. Für den Herausgeber einer Hauptstadtzeitung bedeutet es keine Schande, einer Minderheit anzugehören.
Wirklich wichtig für eine gelingende Liebe – egal ob in Berlin oder anderswo – ist das Prinzip der Gegenseitigkeit. Und das trifft auf unser Paar der Woche vollumfänglich zu. Fast gleichzeitig mit dem Superzeugnis teilte eine führende SPD-Politikerin dem „Tagesspiegel“ via Facebook und Instagram mit, was sie von ihm hält. Nämlich sehr, sehr viel. Berlins wahlkämpfende Regierungschefin Franziska Giffey sendete über beide soziale Netzwerke einen Text, den Werber ein Testimonial nennen, also ein üblicherweise bezahltes Bekenntnis zu einem Produkt. In ihren Postings erklärte Influencerin Giffey jedenfalls, wie rundum klasse und dufte sie die Zeitung findet, und grüßte Verleger Dieter von Holzbrinck und Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff ganz herzlich.
Gerade in den schon erwähnten grauen Novembertagen tut es gut, eng zusammenzurücken und die nasskalte Welt, in der die SPD im Bund wieder unter 20 Prozent steht, einmal draußen vor der Tür zu lassen. Berlin gilt als hart, hässlich und verbissen.
Zu Unrecht. Das Prinzip ‚loben und loben lassen‘ hat hier seine Heimat.