Die ganz unterschiedliche Bereitschaft von Medien, Probleme mit Hintergründen, im Zusammenhang, strukturell, kulturell oder nur auszugsweise und vordergründig zu behandeln, sagt viel über den Zustand der eigenen Gesellschaft aus. Erfahrbare Realität kollidiert mit den produzierten Bildern des Präsidenten-Fernsehens.
Wie kommt es, dass erschreckende Ereignisse wie die Ausschreitungen in fünf Pariser Vororten in der Wahrnehmung vieler Bürger medial nicht stattfinden? Dieses Bild zeigen viele Reaktionen auf Facebook zum Artikel von Holger Douglas. Die Posts, die sagen, doch, die Medien haben durchaus berichtet und entsprechende Links beifügen, sind in der Minderzahl.
Google-Realität
Zum einen liegt das daran, dass jene Zeitgenossen, die sich von den klassischen Print- und TV-Medien verabschiedet haben, in „Sozialen Medien“ überrepräsentiert sind. Sehr viele, die sich nur noch aus dem Internet informieren, rufen morgens und mehrmals tagsüber die Adresse Google News auf. Benutzerfreundlich kann sich jeder eine ganze Reihe von Länderausgaben aussuchen. Innerhalb der Ausgaben ist das Tool gegliedert nach den Rubriken Schlagzeilen, Vorschläge für Sie (hier wählt Google nach den von Googler erkannten und gespeicherten persönlichen Themeninteressen des einzelnen Nutzers thematisch aus), Internationals, Deutschland, Wirtschaft, Wissen/Technik, Unterhaltung, Sport, Gesundheit.
Wer diesen Google-Einstieg in den Informationstag wählt, kriegt ja eine Auswahl und Reihung des Erwähneswerten und Wichtigen präsentiert – nach Google-Kriterien, die nichts anderes sein können als die durch Auswertungs-Programme ermittelten Schwerpunkte der Google-Nutzer selbst. Die Google-Nutzer-Cloud erhält also ihren statistischen Durchschnitt an Geschmack und Interessen thematisch recycelt serviert.
Bei Google-News kam das Pariser Thema nach professionellen Beobachtern in den Tagen nach Beginn der Ausschreitungen mit täglich einem bis keinem Eintrag vor (Fokus Polizeiübergriffe). Trump, Trump, Trump, Schulz, Machtkampf in der AfD, Bayern München, „Spitzel-Imame“ und Kim Jong Nam dominierten die Google-News-Sicht auf Deutschland und den Blick aus Deutschland in die Welt.
Konstruierte Wirklichkeit gegen erfahrene Realität
Natürlich habe ich nicht alles gelesen, gesehen und gehört, was zum Thema Paris berichtet wurde. Was ich in jedem Fall vermisse, ist der Blick über die nackte Nachricht hinaus. Ob die gewalttätigen Ereignisse in Paris als erneuter „Einzelfall“ dargestellt werden, als wiederholter Polizeiübergriff oder als ein wieder-einmal-Ausbrechen des tief sitzenden Problems einer nicht gelungene Integration, eines Nicht-Angekommen-Seins oder eines Sich-wieder-Entfernens aus der französischen Gesellschaft macht einen gewaltigen Unterschied. So berichteten ARD und ZDF brav und ausführlich über den Besuch des französischen Präsidenten Hollande am Krankenbett eines Polizeiopfers – was wirklich geschah, können wir nicht beurteilen.
Der Mächtige am Bett der Opfers – so sieht Berichterstattung aus, die von oben nach unten wirkt. Es ist das klassische Muster eines Staatsfernsehens, wie es in Frankreich wirkt. Gleichzeitig wird auch die inhaltliche Botschaft transportiert, die der französische Präsidentenpalast mit diesem Event des Präsidenten vor der bereitwillig transportierenden Presse vorgibt: Auslöser ist Polizeigewalt. Besser wäre es gewesen, tatsächlich Betroffene vor die Kamera zu holen, statt diese Art Hofberichterstattung über vorgegebene News zu reproduzieren. Das hätte aber möglicherweise das eigene Weltbild gefährdet – das von armen, verprügelten Migranten (die in Paris aber meist über einen französischen Paß seit Generationen, perfekte Sprachkenntnisse und Zugang zu öffentlichen Institutionen verfügen.) Migranten als Opfer der „weißen Staatsgewalt“, der sich wiederum der (sozialistische) Präsident entgegenstellt.
Kognitive Dissonanz und Fake News
Das Material des französischen Staatsfernsehens, in Deutschland gesendet, löst wiederum Unverständnis aus: Mittlerweile kursieren im Netz (und in englischen Medien) ja Bilder, die an brutaler Intensität die kultivierten Bilder der Präsidentenpresse überlagern. Es entsteht eine doppelte Berichterstattung, von scheinbar unterschiedlichen Ereignissen: Das Geschehen auf der Straße wird im Netz abgebildet, die Bilder des Staatsfernsehens berichten von einem anderen Vorgang.
Die ganz unterschiedliche Bereitschaft von Medien, Probleme mit Hintergründen, im Zusammenhang, strukturell, kulturell oder nur auszugsweise und vordergründig zu behandeln, sagt viel über den Zustand der eigenen Gesellschaft aus. Tabuisieren hat sich noch bei allen Themen als schwerer Fehler herausgestellt, auch und gerade weil das eine Zeit lang durchaus funktioniert (hat). Irgendwann holen uns die Tabuthemen immer wieder ein und dann ist schwerer damit umzugehen, als es zu Beginn möglich gewesen wäre.
Die Berichterstattung über die Krawalle in Paris offenbart dieses neue Paradigma, das so neu gar nicht ist: Obrigkeitsfernsehen gegen Bürger-TV. Soziale Medien verschärfen diesen Konflikt zwischen den produzierten Bildern des Staatsfernsehens einerseits und den Bildern mit der Handy-Cam andererseits, die das brutale Geschehen aus Sicht der Betroffenen abbilden. Es sind mindestens zwei Öffentlichkeiten entstanden. In der Psychologie nennt man einen vergleichbaren Vorgang kognitive Dissonanz: Die eigene Wahrnehmung passt nicht zur vermittelten Realität. Im neudeutschen Sprachgebrauch nennt man die erfahrbare Realität und Berichte darüber neuerdings „Fake News“. Aber so leicht kriegt man diese „Fake News“ nicht mehr von den Bildschirmen weg. Auch nicht mit „Alternative News“ – von wem auch immer. Die brennenden Autos überlagern den Präsidentenbesuch am Krankenbett. Es bleiben zwei konkurrierende Wirklichkeiten.