Tichys Einblick
Journalismus 2024

Das beliebte Märchen vom exklusiv erworbenen Material

Journalismus ist in Deutschland 2024 oft nur Hofberichterstattung. Doch je mehr Journalisten zu Höflingen werden, desto mehr inszenieren sie sich als harte Schnüffler. Aktuelle Beispiele der Süddeutschen Zeitung und des RND.

IMAGO / Michael Gstettenbauer

Das Morgenmagazin der öffentlich-rechtlichen Sender hatte früher ein Vor-Ort-Format. Im Intro dazu gab es Bilder aus Kriegsgebieten und von brennenden Städten. So sehen sich Journalisten selber: Unerschrockene Krieger des Nachrichtenwesens, die jeder Gefahr ins Auge blicken – im Dienste der Wahrheit und ihrer Zuschauer. Im redaktionellen Teil des Formats war dann ein Team des Morgenmagazins zu Besuch bei einem Minister. So sind Journalisten tatsächlich: Sie sitzen zum Kaffee beim Mächtigen und gehen mit ihm Fragen durch, die vorab mit seiner Pressestelle abgestimmt wurden.

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Skandale der Regierung, die Medien in den letzten Jahren aufgeklärt haben, lassen sich an einer Hand abzählen. Zumindest von den Medien, die sich besonders gerne als Ermittler zwischen Kriegsgebieten und brennenden Städten sehen. So berichtet die Süddeutsche Zeitung aktuell, sie sei an interne Mails des „Verfassungsschutzes“ gekommen. Die wiederum belegten, dass der Inland-Geheimdienst eine Offensive gegen die AfD plant.

Wie müssen wir uns das vorstellen? Hackt eine Zeitung, für die vor allem Geisteswissenschaftler schreiben, die Rechner des Inland-Geheimdienstes? Sind Journalisten gar in die Büros des „Verfassungsschutzes“ eingebrochen, haben sich in den Rechner eines Mitarbeiters eingewählt und haben Mails ausgedruckt? Hat die SZ gar mit einem anderen Geheimdienst zusammengearbeitet, um an das Material zu kommen?

Oder war es nicht doch eher so: Der „Verfassungsschutz“ hat unter seinem Chef Thomas Haldenwang (CDU) das Ziel ausgegeben, die Partei rechts von der CDU zu bekämpfen. Die Behörde will Material dazu veröffentlichen – fürchtet aber kritischen Journalismus zu dem Vorgang. Also gibt die Behörde das Material an ein Medium weiter, von dem sie weiß, dass es fest an der Seite der Bundesregierung und ihrer Untergebenen steht – und stets aus deren Perspektive berichtet. Mag jeder für sich entscheiden, welche Variante er für plausibel hält.

Anderes Beispiel: Das Recherchenetzwerk Deutschland, das stets seine Ferne zur SPD betont, berichtet, dem Sozialdemokraten Karl Lauterbach sei es gelungen, dass der Medikamente-Engpass dieses Jahr nicht ganz so schlimm ist wie letztes Jahr. Dafür sind die nicht-sozialdemokratischen Journalisten des RND an Papiere gekommen aus dem Haus des Sozialdemokraten.

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Wie müssen wir uns die Reaktion von Karl Lauterbach auf diese Berichterstattung vorstellen? Sitzt er jetzt in Leverkusen und tröstet sich mit einer Flasche Rotwein darüber hinweg, dass sein Haus eine undichte Stelle hat? Denkt er, dass er als Sozialdemokrat in der Berichterstattung des RND ganz gut weggekommen ist? Bedauert aber den Vorfall trotzdem, weil ihm sein Ego nicht so wichtig ist wie journalistische Fairness der Bundesregierung gegenüber allen Medien? Wer sich all diese Fragen mit Ja beantworten kann, darf gerne weiter eine Zeitung abonnieren, die auf das Material des RND zurückgreift. Wobei: Dieses Redaktionsbüro ist Teil des Madsack-Medienkonzerns, der wiederum Filetstück der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft (DDVG) ist – einem Unternehmen der SPD. Das RND beliefert SPD-Zeitungen mit Berichten aus Berlin und darüberhinaus noch andere Zeitungen.

George Orwell wird das Zitat zugeschrieben: „Journalismus ist etwas zu veröffentlichen, was andere nicht wollen, dass es veröffentlicht wird. Alles andere ist Werbung.“ Wenn einem also ein Medium versichert, es sei an Material von jemandem gekommen, muss derjenige sich nur fragen: Profitiert der, über den berichtet wird, von besagtem Material? Falls ja, ist auch die Frage geklärt, wer das Material den Medien zugespielt hat.

Der Gesundheitsminister hat uns gebeten zu verkünden … Wie der Inland-Geheimdienst verlautbaren will … Das klingt blöd. Also berichten Medien stattdessen, sie seien an Quellen gekommen. So kann man den Lesern und Zuschauern ein falsches Bild von sich vortäuschen. Was aber noch viel wichtiger ist: Man kann sich selbst belügen. Man muss sich selbst nicht als Hofschranze sehen, die wartet, bis etwas vom Tisch abfällt – man kann sich selbst immer noch einreden, man sei der harte Typ im Kriegsgebiet oder in der brennenden Stadt, der unerschrocken nach der Wahrheit fahndet.

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