Nach den Ereignissen am vergangenen Wochenende in Russland dürfte geübten Illner-Beobabachtern seitdem schon klar sein, welches Thema sie an diesem Donnerstagabend in ihrer Sendung rauf und runter kauen würde: „Machtkampf in Moskau – Gefahr oder Hoffnung?“ Es geht natürlich um den Putsch der Wagner-Gruppe gegen Putin und seine Regierung. Die vergangenen Tage hat dieses Thema die internationalen Medien und interessierte Privatpersonen in helle Aufregung – oder viel mehr ins Spekulieren, Erfinden und Herziehen – versetzt.
Die Redaktion hat dabei diesmal die ungeschriebene Regel, immer mindestens zwei Politiker einzuladen – die bisher eigentlich immer nur überschritten wurde –, unterschritten. Vielleicht ist es auch den Politikern zu blöd, sich zu unsicheren Themen aus dem Fenster zu lehnen, die ihnen zwar keine PR, dafür aber Probleme aufhalsen können. Hergegeben hat sich da nur ein einsamer SPDler aus dem Auswärtigen Ausschuss. Dazu gibt es eine Journalistin und vier Experten, von denen nur drei Deutsch können. Schon die Zusammenstellung verspricht eine Laberstunde. Aber das ist ja eh nur das Synonym für Talkshow.
Die Herrschaften in dieser Runde sprechen sehr selbstsicher über ein kompliziertes Geschehnis, das sich erst vor wenigen Tagen ereignete – aber natürlich immer mit dem obligatorisch eingeschobenen „So kann man es lesen“, „Das beruht natürlich auf Spekulationen“, oder ganz klassisch einfach „mutmaßlich“. Dabei ist das alles doch nur viel zu viel verlangt. Wir können doch froh sein, wenn unsere Urenkel einmal im Geschichtsunterricht lernen, was da passiert ist. Dass man eine Woche später schon genug wissen soll, um eine ganze Talkshow zu füllen, ist doch sehr unrealistisch. Genauso gut könnten wir auch das Leck in der Pipeline noch mal durchkauen.
Ehrlich gesagt, ist das ziemlich langweilig. Auch wegen des Anspruchs, den Illner an sich, ihre Gäste und ihre Sendung stellt. Man soll doch aufgeklärt werden, irgendwas Neues erfahren in ihrer Sendung – so steht es zumindest sicher in irgendwelchen Konzeptpapieren. Aber keiner der Gäste kann wirklich was Neues dazu beitragen. Wie auch? Sie waren nicht dabei, keiner von ihnen kennt jemanden, der dabei war. Es wäre etwas anderes, wenn die sechs mit einem guten Wodka gemütlich in einer Runde sitzen und ihre irrsten Theorien zum Besten geben würden.
Einen habe ich allerdings auch in dieser Sendung auf meiner Seite. Johannes Varwick scheint mit diesen Spekulationen auch nicht viel anfangen zu können. „Putin, so hieß es vor Monaten, hat Parkinson, hat Krebs, ist schwach, kurz vorm Ende. Jetzt dieser Putschversuch, die Meuterei, wir haben ihn abgeschrieben – ich glaube nicht daran. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür. Putin ist der Akteur, mit dem wir es zu tun haben. Und wenn er morgen stürzt und ein besserer kommt, dann wäre ich der erste, der sich freut. Aber wir sollten doch nicht auf Wunschdenken eine Strategie bauen, sondern wir müssen mit dem Russland leben, wie es im Moment ist.“ Während dieser ganzen Redezeit sieht man die Historikerin Davies, die Varwick über den Tisch hinweg anfunkelt.
Sie hat dazu allen Grund, denn sie hat sich wegen Wunschdenken in ihren Beiträgen zur Sendung mehrmals schuldig gemacht. Sie bezeichnete Putin als „dumm“ und sprach von seinen Fehlern. Dabei strotzte ihr Ton nur von Hass und Abneigung. Für ihren Beruf meiner Meinung nach sehr unangebracht. Egal ob Putin, Stalin oder Hitler, als Historiker muss man die Objekte seiner Forschung nicht mögen, man kann sie auch hassen. Aber man sollte nie den Eindruck erwecken, dass man nicht in der Lage ist, die Arbeit nicht von diesen Gefühlen beeinflussen zu lassen. Denn wenn man die Geschichte verfälscht, was hat man dann überhaupt noch davon? Wenn ich die Stärken meines Gegners nicht kenne, weil ich ihn so sehr hasse, dass ich ihm keine zugestehen will, wie soll ich mich dann angemessen verteidigen können?
Es ist schon spannend, wie sehr die Leute sich auf Konflikte versteifen können, die sie nicht betreffen. Der Ukraine-Krieg zum Beispiel – Illner kann seit anderthalb Jahren nicht loslassen, muss jede kleinste Entwicklung in ihrer Sendung ausdiskutieren. Die Gäste, wie die Historikerin Franziska Davies, verspüren echten blanken Hass gegen einen Mann, den sie nicht kennen. Dessen Politik und dessen Krieg sie gar nicht betrifft. Und Privatpersonen steigern sich so sehr in dieses Thema rein, dass an der Russland-Ukraine-Frage Freundschaften zerbrechen. Es erinnert an den Vietnam-Krieg, der auch wahnsinnig polarisiert hat, oder an Amerika, besonders zu Trump-Zeiten. Nichts davon betraf oder betrifft uns so wirklich. Trotzdem spalten sich die Menschen hierzulande zu solchen Themen beinahe mehr als zu innenpolitischen Themen.
Niemand wird bekehrt, niemand wechselt die Seiten. Es gibt keinen Austausch, nur Abgrenzung. Warum? Vielleicht weil es leichter ist, über Länder zu sprechen, die weit weg sind. Vielleicht weil wir so weit ab vom Schuss und auf Berichterstattungen angewiesen sind, dass wir gar nicht in der Lage sind, echte Diskussionen zu führen, weil wir zu wenig wissen. Ich frage mich, ob die Menschen in anderen Ländern auch so auf Deutschland schauen. Ob irgendwo in Spanien oder Amerika schon Freundschaften an der Frage zerbrochen sind, ob Angela Merkel eine gute Kanzlerin war. Vielleicht gibt es auch eine koreanische Version von Illner, die seit einem Jahr nur noch über die Lage in Deutschland diskutiert. Wenn ja, dann sollten die Öffentlich-Rechtlichen das dringend übertragen. Auch ohne Untertitel wäre das immer noch interessanter und lehrreicher als die Talkshows, die sie selbst produzieren.