Bei nichts ist die Journalistenmehrheit schneller als beim Vor-Urteil bei Zunftfremden und beim Vor-Freispruch, ja der Vor-Glorifizierung bei Zunftkameraden. In diesen Tagen zu studieren an der Entfernung von Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart durch Verleger Dieter von Holtzbrinck.
Die durchgängige Berichtslage in den Medien zunächst: Holtzbrinck habe eine Formulierung Steingarts in seinem Morning-Briefing über den Verlauf des Machtkampfs in der SPD zwischen Schulz und Gabriel so sehr missbilligt, dass er Steingart das consilium abeundi erteilt und sich schriftlich bei Schulz entschuldigt habe.
Das ganze ist eine klassische Neuauflage des Radio Eriwan Musters. Ist es richtig, dass der Kosmonaut Jurij Alexejewitsch Gagarin beim Komsomolkongress in Moskau einen roten Ferrari gewonnen hat? Im Prinzip ja, aber es war nicht beim Komsomolkongress in Moskau, es handelte sich auch nicht um den Kosmonauten Gagarin, sondern um den Feuerwehrmann Alexej Steinsky auf dem Feuerwehrball in Nowosibirsk, nicht um einen roten Ferrari, sondern ein schwarzes Damenfahrrad – und er hat es nicht gewonnen, sondern es wurde ihm gestohlen.
Damit jeder weiß, um welche Formulierung in Steingarts Morning Briefing am Mittwoch, dem 7. Februar es sich handelt:
„Der Tathergang wird in diesen Tagen minutiös geplant. Der andere soll stolpern, ohne dass ein Stoß erkennbar ist. Er soll am Boden aufschlagen, scheinbar ohne Fremdeinwirkung. Wenn kein Zucken der Gesichtszüge mehr erkennbar ist, will Schulz den Tod des Freundes aus Goslar erst feststellen und dann beklagen. Die Tränen der Schlussszene sind dabei die größte Herausforderung für jeden Schauspieler und so auch für Schulz, der nichts Geringeres plant als den perfekten Mord.“
Am Tag drauf, Donnerstag, dem 8. Februar meldete SPON:
«Nach einem Zerwürfnis muss Herausgeber Gabor Steingart laut SPIEGEL-Informationen seinen Posten beim „Handelsblatt“ räumen. Anlass war ein Text über Martin Schulz, in dem Steingart von einem „perfekten Mord“ fantasierte.»
Und:
«Zu den Gründen für die Trennung gibt es bisher keine offiziellen Angaben. Am Nachmittag soll es jedoch Gespräche im Aufsichtsrat gegeben haben. Am Freitag soll ein Gespräch zwischen Dieter von Holtzbrinck und Steingart folgen.»
Am Freitag, dem 9. Februar steigerte SPON den Steingart-Abgang zum Crescendo:
«Am Freitag schrieben die Chefredakteure und Geschäftsführer der Verlagsgruppe einen Brief an Verleger Dieter von Holtzbrinck, in dem sie sich „schockiert und fassungslos“ zeigen und Kritik am Vorgehen äußern. Der Brief ist unter anderem von Handelsblatt-Chefredakteur Sven Afhüppe, Wirtschaftswoche-Chef Beat Balzli und Wirtschaftswoche-Herausgeberin Miriam Meckel unterzeichnet.
Die Führungskräfte sehen im Rauswurf von Steingart offenbar einen Eingriff in die innere Pressefreiheit. Holtzbrinck habe die sofortige Trennung von Steingart mit dessen Äußerungen zu Martin Schulz im Morning Briefing begründet. „Dies ist aus unserer Sicht ein verheerendes Signal an die Redaktionen und das gesamte Haus: die Bestrafung für eine – wenngleich unbequeme – Meinung ist die sofortige Entlassung.“ Die Entscheidung, auf diese Weise Steingart zu entlassen, sende „weitere massive Schockwellen in die Handelsblatt Media Group, über die wir uns große Sorgen machen“.»
Dass SPON in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, dass alle Solidarisierer von Steingart eingestellt wurden, soll wenigstens hier erwähnt werden.
Die Erklärung der Holtzbrinck Medien GmbH an diesem Freitagnachmittag schien diese Darstellung der Entlassung Steingarts zu stützen (
):«„Nach sieben Jahren äußerst erfolgreicher und freundschaftlicher Zusammenarbeit haben sich Handelsblatt-Verleger Dieter von Holtzbrinck und der Vorsitzende der Handelsblatt-Geschäftsführung, Gabor Steingart, der zugleich auch Herausgeber des Handelsblatts war, auf eine Beendigung ihrer beruflichen Partnerschaft verständigt.“
Die Gründe seien zum einen „Differenzen in wesentlichen gesellschaftsrechtlichen Fragen“. Hinzu sei aber „eine – nicht generell, aber im Einzelfall – unterschiedliche Beurteilung journalistischer Standards“ gekommen. Nach der Mitteilung „bedauern“ beide Seiten die Trennung. Man wolle, wie es heißt, „den freundschaftlichen Kontakt aufrechterhalten“ und „eine andere Form der Zusammenarbeit“ für die Zukunft nicht ausschließen.
Das von Gabor Steingart gestartete und eng mit seinem Namen verbundene werktägliche Handelsblatt Morning Briefing werde wie gewohnt weiter erscheinen. Darüber hinaus, so die Medienholding, wird Gabor Steingart in eigener Eigentümerschaft sein eigenes Morning Briefing an die mittlerweile rund 700.000 Abonnenten als unabhängige journalistische Stimme herausgeben.
Zur Trennung sagt Dieter von Holtzbrinck: „Das Multitalent Gabor Steingart hat in wenigen Jahren zunächst das Handelsblatt, danach die gesamte Handelsblatt Gruppe auf großartige Weise weiterentwickelt und erneuert, was höchsten Respekt und größten Dank verdient. Dabei hat sich der preisgekrönte und breit gebildete Publizist als äußerst kreativer und dynamischer Unternehmensstratege gezeigt, als mutiger und charismatischer Führer. So wurde aus der altehrwürdigen Verlagsgruppe Handelsblatt eine auf vielen Medienkanälen marktführende Handelsblatt Media Group. Diesen erfolgreichen Weg werden wir mit Kraft und Begeisterung weitergehen.“
Gabor Steingart wird in der Mitteilung wie folgt zitiert: „Dieter von Holtzbrinck ist ein wunderbarer Mensch und erfahrener Verleger, dessen Geduld ich über so viele Jahre nicht nur strapaziert, sondern oft genug auch überstrapaziert habe. Dass unsere dennoch – oder deshalb? – so erfolgreiche Zusammenarbeit jetzt abrupt endet, lässt uns beide nicht unberührt. Unsere Freundschaft und meine Wertschätzung ihm gegenüber bestehen unvermindert fort. Im Interesse der Handelsblatt Media Group und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihrer Kunden und nicht zuletzt ihrer Leserinnen und Leser arbeiten wir gemeinsam an einem reibungslosen Übergang.“»
Dass und wie bei solchen Trennungsbegründungen ebenso schöngefärbt gelogen wird wie bei runden Geburtstagen und Beerdigungen, ist bekannt und kann jeder für sich selbst dechiffrieren.
Alle anderen Medien schrieben bei SPON ab und nach. Der in Mediendingen stets gut unterrichtete Kai-Hinrich Renner stellte seine sorgfältige Recherche nicht auf die parteiische Richtung von SPON ab, die nicht von ungefähr den ehemaligen Spiegel-Mann Steingart ins gleißende Licht der verfolgten Pressefreiheit hüllt.
Renner schrieb am Samstag, dem 10. Februar im Hamburger Abendblatt:
«Holtzbrinck ist nicht dafür bekannt, Mitarbeiter zu feuern, nur weil sie Politikern auf die Füße treten. In Verlagskreisen heißt es, er hätte sein Entschuldigungsschreiben an die SPD kaum verfasst, wenn die Trennung von Steingart nicht ohnehin festgestanden hätte.
Der Verleger muss für diesen Schritt gute Gründe gehabt haben, denn er hat dem Wirtschaftsjournalisten einiges zu verdanken, der 2010 vom „Spiegel“ gekommen war. Beim „Handelsblatt“ wirkte Steingart zunächst als Chefredakteur, bevor er 2012 zum Geschäftsführer und Herausgeber aufstieg.»
Weiteren Recherche-Erkenntnisse fasst Renner so:
»In letzter Zeit wurden jedoch Zweifel an Steingarts Managementfähigkeiten laut: Der von ihm erworbene defizitäre Mediendienst Meedia habe nie die erhofften Synergien mit dem bereits in der Gruppe erscheinenden Marketingmagazin „Absatzwirtschaft“ heben können.
Zu lange habe er an der erfolglosen Chefredakteurin der „Wirtschaftswoche“, Miriam Meckel, festgehalten, nachdem er deren erfolgreichen Vorgänger Roland Tichy aus kaum nachvollziehbaren Gründen gefeuert hatte.
Ist das mit „Differenzen“ in „gesellschaftsrechtlichen Fragen“ gemeint? Hinzu kommt, dass Steingarts Stil des Blattmachens nicht gerade kostengünstig ist: Die halbe Redaktion flog zum Brexit-Votum nach England und zu den Präsidentenwahlen in die USA. Und gerade erst ist die gesamte Gruppe in einen supermodernen Neubau nach Düsseldorf-Pempelfort umgezogen, was wohl nicht billig war.»
Renner versuchte, eine Stellungnahme von Steingart einzuholen, und beendet seine Geschicht im Abendblatt so:
«Steingart, der für eine Stellungnahme nicht zu erreichen war, wird künftig ein „Morning Briefing“ herausgeben, das mit dem des „Handelsblatts“ konkurriert. Dessen Abo-Datei ist offenbar Teil seiner Abfindung.»
Dazu eine Anmerkung und dann wieder zu Radio Eriwan.
Die Anmerkung: Auch wenn Holtzbrinck die Abo-Datei Steingart überlassen will, es soll sich siehe oben um 700.000 Adressen handeln, vermute ich da ein Problem, das nicht klein ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Abonennten die Erlaubnis erteilt haben, ihre Adressen für etwas anderes als den Bezug des Handelsblatt Morning Briefings zu verwenden.
Und nun Radio Eriwan: Nachdem Kai-Hinrich Renner seinen Bericht abgegeben hatte, stellte er fest, dass es sich bei dem roten Ferrari der Pressefreiheit um ein schwarzes Damenfahrrad von Fake News bei SPON gehandelt hatte und teilte dies der Gemeinde auf Twitter mit.
Noch mal langsam zum Verdauen: Steingart wusste sehr wahrscheinlich, dass er gehen muss, schon am Montag, zwei Tage, bevor er sein Schulz’sches Mords-Morning-Briefing am Mittwoch schrieb, ließ seine Spiegel-Connection am Donnerstag die Fake News vom Schulz’schen Mords-Morning-Briefing als Grund für seine Entlassung verkünden und benutzte seine Spiegel-Connection am Freitag für die Verkündung von solidarischem „Widerstand“ aus dem Hause Holtzbrinck.
Wenn ich mir das so richtig vor Augen führe, hat Steingart sich am Ende noch beim Schulz’schen Mords-Morning-Briefing in Rage über den Rausschmiss aus seinem Imperium abreagiert. Deshalb fiel es selbst für Steingarts auch sonst nicht zimperliche Schreibe derart aus der Rolle.
Und die Moral von der Geschicht‘? Lügen halten nicht. Anders als bei Radio Eriwan ist diese hier nicht einmal witzig.
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Die tatsächliche Wahrheit hinter der Story auf der Benutzeroberfläche Medien liegt wohl eher in den tiefroten Zahlen der Holtzbrinck Medien GmbH in Stuttgart. Zwar ließ sich Steingart gerne feiern, er habe die Auflage gesteigert – was wirklich ein Erfolg wäre. Aber das hält den Fakten nicht Stand:
Nur noch 85.000 Abonnenten hat das einst stolze Handelsblatt – 38.000 davon sind sogenannten E-paper; klassische Papierexemplare also nur noch 47.000. Am Kiosk verkauft das Handelsblatt magere 3.312, sagen die Zahlenkolonnen der Auflagenkontrolle IVW. Der „Wert“ der insgesamt 47.000 E-Papern ist umstritten, viele in der Kategorie „Sonstige“ sind nicht voll bezahlt, sondern nur mit 10 Prozent des Preises, andere sind Doppelzählungen: über weite Strecken, wenn auch nicht ausschließlich, entsteht so eine Fake-Auflage. Wieder andere werden über Koppelgeschäfte verkauft, in denen die Zeitung nur ein Nebenprodukt ist. Der sogenannte „Digitalpass“ ist so eine Form der Verknüpfung. Dann werden sie häufig von den Kunden nicht geöffnet und nicht gelesen. Wie wenig diese E-Papers wirklich bedeuten, beschreibt ausgerechnet ein Fachblatt der Verleger:
„Weder weiß man bisher, ob und wenn ja, in welchem Ausmaß E-Paper-Exemplare tatsächlich gelesen werden, noch werden sich Erfolgsstorys dieser Art auf Dauer halten können. Am Ende zählen die werbewirksamen Kontakte, repräsentativ erhoben durch die gängigen Markt- und Mediastudien. Und die werden unter Umständen ganz andere Geschichten erzählen.“
Diese „ganz andere Geschichte“ ist: Unter Steingarts Ägide ist die wirtschaftlich relevante Auflage rapide verfallen, übrigens auch die der Wirtschaftswoche: Von deren stolzen 75.000 Auflage sind 26.000 fragwürdige E-Papers und 10.000 Stücke, die stark verbilligt an einen Verein geliefert werden; am Kiosk werden nur 4.900 wirklich verkauft – eine Mickerveranstaltung, die ebenfalls durch die e-papers künstlich aufgepumpt wird.
Auch andere Steingart-Erfolge entpuppen sich bei genauerem Hinschauen als Luftnummern: Aufgebläht hat er ein Kongress- und Veranstaltungsgeschäft.
Doch nur ein Scheinerfolg war diese „360-Grad-Vermarktung“ – ein peinlicher Versuch, das Unternehmen und seine Redaktionen dazu komplett auf Vermarktung „rundum“ und komplett auszurichten.
So konnten Redakteure für Vorträge gebucht, als Advertorials getarnte Inhalte vermarktet, Plätze auf Podien und Veranstaltungen gekauft werden. 30 Prozent ihrer Arbeitskraft fließe in solche Tätigkeiten, klagen Redakteure – Zeit, die für Journalismus in den ausgedünnten Redaktionen fehlt. Schlimmer aber: Wer heute den VW-Chef dazu überreden muss, dass dieser sich für eine Podiumsdiskussion zur Verfügung stellt, kann nicht gleichzeitig eine kritische Story über VW schreiben. Wer ein gekauftes Advertorial im Kundenauftrag textet, gibt kritischen Journalismus notwendigerweise an der Garderobe ab.
So öffnete der Verlag ganz offenbar die Grenzen zwischen Redaktion und Verkauf, sagen Kritiker – und immer mehr Leser spürten dies, immer lauter wurde gerade in der Wirtschaft die Kritik an derart durchsichtig-undurchsichtigem Geschäftsgebaren, das Grenzen überschreitet; viele Unternehmen fühlen sich durch solche Praktiken sogar erpresst. Die Erfolge sind nur vorgetäuscht, Zahlen willkürlich. Makaber: In der Trennungspresseerklärung ist von 700.000 Abonnenten des Morningbriefings die Rede – im letzten „Briefing“, wie Sie oben sehen können, waren es dagegen erst 500.000. Offensichtlich sind Zahlen eben sehr flexibel, wenn ein starker Wille es will.
Die Folgen aber sind dann doch nicht mehr zu leugnen. In der Trennungsvereinbarung ist immer wieder die Rede von „gesellschaftsrechtlichen“ Differenzen. Möglicherweise sollte 3-Prozent-Anteilseigner Steingart zum Nachschuss von Kapital verpflichtet werden. Von lautstarken Auseinandersetzungen unter den Holtzbrinck-Eignern ist die Rede, die über eine gemeinsame Holding nach wie vor wirtschaftlich eng verbunden blieb, auch wenn vordergründig zwischen den Geschwistern eine Realteilung durchgeführt wurde.
Das Fazit ist bitter: Das angesehene Handelsblatt und die Wirtschaftswoche, die bald 100 Jahre alt wird und damit eine der ältesten Zeitschriften Deutschlands ist, stehen vor einer brutalen Kernsanierung, das gemeinsame Unternehmen vor einer Filetierung.
Richtigstellung:
In einer vorherigen Version des Artikels schrieben wir irrtümlicherweise:
„Die Folge scheinen aber dann doch nicht mehr zu leugnende tiefrote Zahlen im vorläufigen Jahresbericht der großmäulig „Handelsblatt Media Group“ zu sein.“ Hier ist uns ein bedauerlicher Fehler unterlaufen. Diese Aussage trifft sich nicht auf die Handelsblatt GmbH oder andere Konzernangehörige Unternehmen, sondern ausdrücklich nur auf das „Hause Holtzbrinck“, also die DvH (Dieter von Holtzbrinck) Medien GmbH zu; die übergeordnete Konzernmutter. Der letzte veröffentlichte Konzernabschluss der DvH Medien GmbH (veröffentlicht im März 2017) weist für das Jahr 2015 einen Verlust von beinahe 20 Millionen Euro aus.