Zuletzt ist genug geschrieben worden über die großen Verluste der CDU und der SPD bei der EU-Wahl. Darüber wurde vergessen, einen der größten politischen Erfolge der GroKo zu würdigen: Es ist der Regierung unter Angela Merkel als Bundeskanzlerin nämlich ein echtes Meisterstück damit gelungen, sich der Zuwanderungsdebatte zu entledigen und dafür dieses abstrakte Problem des Klimawandels einfach darüber zu stülpen, während die Zuwanderung vom Migrationspakt bis hin zur Überlegung, den Städten selbst zukünftig die Gelegenheit zu geben, Migranten am Innenministerium vorbei einen Aufenthaltstatus zu gewähren, als Debattenthema in den Hintergrund gerückt ist.
Im Gegenteil: Die beiden Vertreter von SPD und CDU, Generalsekretär Lars Klingebeil und Mike Mohring, Thüringens CDU-Chef und Präsidiumsmitglied seiner Partei, gaben sich pflichtschuldig zerknirscht. Nur in wenigen Momenten, dann, wenn die beiden ihr großes inneres Maß an Entspannung nicht mehr ganz verbergen konnten, schimmerte durch, wie glücklich die Etablierten darüber sind, diese ganze Zuwanderungsdebatte hinter sich gelassen zu haben und nur noch von Kindern und Jugendlichen dafür kritisiert zu werden, dass sie ihre Klimapolitik doch bitte noch energischer durchführen sollen. Einigkeit in der Sache also, nur über das Tempo will gestritten sein. Die Kinder als Alibi, wenn die Regierung nun endlich aufs Tempo drücken kann.
Und dann treibt es der Thüringer Christdemokrat auf die Spitze, indem er den Ball aufnimmt und tatsächlich so tut, als gäbe es ernsthafte Differenzen zwischen der Grünen und der CDU, als wären diese grünen Friday-Demonstranten nicht von ihrer Wirkung her gedacht, als eine wirkmächtige Kampftruppe der Etablierten gegen eine konservative Opposition, die zur EU-Wahl in Teilen der Republik stagnierte mitsamt ihren Prioritäten in der Problemstellung.
Nun kommt man nicht umhin, dem Thüringer Mike Mohring aus dem Weimarer Land unabhängig von seiner politischen Positionierung Sympathiewerte zuzuschreiben. Wenn man Authentizität darstellen will, dann ist der Maurersohn aus Apolda sicher ein ganz guter Kandidat. Mohring ist aber leider auch der größte Fälscher am Tisch, wenn man vergessen würde, dass er Teil des Politikbetriebes der Angela Merkel ist. Geradezu entwürdigend, wenn man den beiden politischen Herren durch den Abend folgt und miterleben muss, wie sie sich – fast würde man sagen: gerne – von einer jungen grünen Frau durch den Abend treiben lassen.
Kommen wir zu zwei weiteren Gästen, die man am liebsten hinten runterfallen lassen würde, weil es so ärgerlich ist, dass Frank Plasberg, anstatt die Runde mit gesellschaftsrelevanten Protagonisten aufzufüllen, einfach zwei Journalistenkollegen hinzu gebeten hat, als wäre neben den Vertretern von CDU, SPD und Grünen sonst niemand mehr bereit gewesen, am Tresen auszusagen.
Und mit Markus Feldenkirchen saß dann ein Spiegeljournalist bei Hart aber Fair, der in seiner Hybris kaum zu ertragen war, jedenfalls dann, wenn der direkte Vergleich mit einem wie Mohring oder sogar mit der grünen Lang möglich war. Ja, für diesen Mann braucht man Nerven. Besonders dann, wenn man andauernd das Gefühl hat, da will einer mit Elementen aus seinem letzten Rhetorikkurs angeben, indem er diese absichtvoll überzeichnet von der Gestik über die Mimik bis hin zu Atemübungen während des Sprechens.
Neben Feldenkirchen und Plasberg als dritter Journalist mit am Tisch stehen der ehemalige Politberater des Kanzlerkandiaten Edmund Stoiber, Michael Spreng, den wir hier getrost vergessen können, wenn wir keine Lust haben, ausführlicher zu beschreiben, wie Opportunismus im Journalismus funktioniert, wie ein ehemaliger Bild am Sonntag Chefredakteur noch im hohen Alter den waghalsigen Versuch unternimmt, sich inhaltlich neu zu erfinden als so etwas wie einen Chefreporter der taz, ohne da freilich je eine Zeile abgegeben zu haben.
Zusammengefasst ließen sich die beiden glücklichen von der Zuwanderungsfrage befreiten Politiker also von der Sprecherin der Grünen Jugend gerne ein bisschen am imaginären Nasenring durch die Manege führen: politisches Wrestling von einander Zugeneigten. Der Soltauer Lars Klingbeil hatte da fast noch mehr Spaß, als sein Kollege, alle drei lächelten sich während dieser Zirkusnummer immer mal wieder aufmunternd zu. Inhaltlich war das letztlich alles nicht der Rede wert. Alles schon gehört, alles schon besprochen, das x-te Ablassgelübde der etablierten Politik gegenüber der grünen Klimajugend, die es tatsächlich geschafft hat, sich zur Stimme der gesamten Jugend zu stilisieren, als wäre das politische Engagement dieser Altersgruppe eben auf diese eine politische Ausrichtung beschränkt. Die Wahlanalysen zur EU-Wahl sprechen sogar dafür, wenn die unter dreißigjährigen mehrheitlich grün gewählt haben, dann jedenfalls, wenn neben einer Mehrheitshaltung nichts anders mehr eine Bedeutung bzw. Stimme hat oder haben soll oder haben darf.
Nur gut, dass die Jugend keine Erinnerung hat, was eigentlich umwelttechnisch alles Aufregendes passieren könnte, wenn Grüne tatsächlich einmal mitregieren, wie unter einem Kanzler Schröder über lange sieben Jahre passiert: nämlich fast nichts. Damals hätte man ja lösen können, was heute laut grüner Ansage einfach nur mal gelöst werden müsste.
Aber natürlich wurde auch diese nervige Inszenierung bei Plasberg Lügen gestraft. Zwar nicht direkt in der Sendung, aber etwas später auf einem weiteren Kanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, als auf 3sat am späten Abend mit einer Folge des Formates 37° unter dem Titel „Lehrer am Limit“ nicht über abstrakte, sondern über die tatsächlichen Problem der Republik gesprochen wurde.
Über Lehrer, die immer mehr zugeschüttet werden mit neuen Aufgaben, denen Inklusion und Integration zugeschoben werden, als wolle sich die Politik dieser großen Themen verschämt entledigen frei nach dem Motto: Die Lehrer werden auch das schon irgendwie richten. Aber das Gegenteil ist der Fall: Sie fühlen sich immer mehr wie im Kriegsgebiet, nach jeder Stunde so, „als wäre eine Dampfwalze über mich hinweggefahren“, wie eine engagierte aber tief erschöpfte Lehrerin in die Kamera erzählt.
Angefangen vom Abmessen einer Linie mittels eines Lineals bis hin zu noch viel einfacheren Dingen, wenn Inklusionskinder und sprachferne Migranten von im Unterricht mit anwesenden Betreuern irgendwie an den Unterricht gefesselt werden sollen, dem sie doch niemals auf eine Weise folgen können, wie es wünschenswert und Erfolg versprechen wäre. Die Frustration ist also wechselseitig.
Der einzige Trost könnte hier vielleicht darin liegen – und da kommen wir zum Schluss noch einmal zu Hart aber Fair zurück – dass mit der kommenden Klimakatastrophe ja sowieso die Apokalypse naht, wozu da also noch Algebra pauken? Und wozu sich also noch über die Verwerfungen einer anhaltenden Zuwanderung Gedanken machen, wenn doch der große Klimaknall so kurz bevor steht?
„Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen; auch das Meer ist nicht mehr.“