Wir schreiben den 18. November 2020: Seit den frühen Morgenstunden haben sich in Berlin auf der Straße des 17. Juni und auf dem Platz vor dem Reichstag mehrere tausend Bürger eingefunden. Viele sind aus anderen Bundesländern angereist und entsprechend früh aufgebrochen, um dabei zu sein. Die Leute haben sich an diesem trüben Novembertag aus einem bestimmten Grund in Berlin versammelt: Im wenige Meter entfernten Reichstag sollen die Abgeordneten über einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD für ein drittes Gesetz „zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ abstimmen.
Kern der Debatte ist der neue Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes. Dieser definiert „besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) bei epidemischer Lage von nationaler Tragweite“. Konkret soll die Gesetzesänderung das Bundesgesundheitsministerium dazu ermächtigen, durch bloße exekutive Anordnungen oder Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrates eigenhändig Maßnahmen zur Bekämpfung der erklärten Pandemie ergreifen zu können. Bei den im Gesetzesentwurf aufgelisteten Maßnahmen handelt es sich um Dinge wie Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im öffentlichen Raum, Abstandsgebote, Maskenpflichten, die Untersagung von Sport-, Freizeit- und Kulturveranstaltungen, Gewerbeschließungen, Verbote religiöser Zusammenkünfte, Untersagung des Betriebs von gastronomischen Einrichtungen und Reisebeschränkungen.
Doch auch ihre Präsenz kann das Unabwendbare nicht abwenden. Mit 413 zu 235 Stimmen wird der Gesetzesentwurf schließlich in zweiter Beratung angenommen. Die Grundrechte gelten fortan also nicht mehr bedingungslos, sondern stehen unter „pandemischem“ Vorbehalt. Doch damit nicht genug: Um die Demonstranten, die sich unter freiem Himmel weder an schwachsinnige Masken- noch Abstandsregeln halten, auseinanderzutreiben, setzt die Berliner Polizei Wasserwerfer ein. Auf dem Bildschirm meines Laptops, auf dem ich neben der Bundestagsdebatte auch die Demo live verfolge, spielen sich Szenen ab, wie man sie sonst nur aus autoritären Regimen wie Weißrussland oder China kennt, ikonische Bilder gehen um die Welt: Die Staatsmacht treibt mit gnadenloser Kompromisslosigkeit und Härte Bürger auseinander, die sich einzig aus Sorge um den Erhalt der Freiheit in Deutschland versammelt haben.
Einer von den Besorgten ist mein Bruder. Während ich gerade in meinem frisch bezogenen WG-Zimmer in Göttingen sitze und nicht glauben kann, was ich sehe, steht er in einer der vorderen Reihen und trotzt den Wassermassen, die auf die Menschenmenge niederprasseln. Der Wasserwerfer-Einsatz geschieht mit Berufung auf den Infektionsschutz: Ein angeblich bestehendes Infektionsrisiko unter freiem Himmel soll durch rasche Vertreibung der Demonstranten beendet werden – mit dem Einsatz von Wasserwerfern bei 4° Celsius mitten in der winterlichen Erkältungswelle, während angeblich die Jahrhundertpandemie wütet.
Ob Demonstranten bei dem Wasserwerfereinsatz zu Schaden kommen, scheint der politischen Obrigkeit, die die polizeiliche Maßnahme absegnet oder billigt, vollkommen egal zu sein. Und in einer Live-Schalte der Tagesschau beschwert sich parallel der Journalist und Hobby-Regierungssprecher Olaf Sundermeyer darüber, dass sich Kinder unter den Demonstrierenden befänden und die Polizei deshalb nicht in der Lage sei, bei den Wasserwerfern noch mehr „Hochdruck“ einzusetzen, um die Menschen „auseinanderzutreiben“.
Irreversibler Vertrauensverlust
Bei der gewaltsamen Auflösung dieser Demonstration vor dem Brandenburger Tor handelte es sich um eine rein politisch motivierte Repression der Opposition, die Verletzung eines zentralen Grundrechts, der Versammlungsfreiheit – und all dies ohne einen erkennbaren oder nachweisbaren Nutzen. Es war eine autoritäre Machtdemonstration um ihrer selbst willen: Weil man es wollte, weil man es konnte.
Die Ampelregierung führte diesen verächtlichen und repressiven Umgang mit Bürgern, den Merkel eingeführt hatte, nahtlos fort. An diesem Sündenfall – dem Umgang mit Kritikern der Regierung in der Corona-Zeit – krankt Deutschland bis heute. Es ist der zentrale Vertrauensbruch, die eigentliche Delegitimierung unserer Demokratie. Für alle Beteiligten, egal, ob sie an jenem 18. November vor Ort waren oder das Geschehen online mitverfolgt haben, hat sich der Tag unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt. Er war prägend für die „Pandemie“-Erfahrung vieler, die begründete Kritik an den staatlichen „Schutzmaßnahmen“ übten: Für sie hat er das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen, wenn nicht völlig zerstört, so doch nachhaltig zerrüttet.
Der 18. November 2020 hat das Vertrauen Hunderttausender in immerhin drei von vier Gewalten, in Legislative, Exekutive und die Medien, fundamental erschüttert. Viele Bürger haben sich von den etablierten Parteien und Medien abgewandt – eine veritable Vertrauenskrise. Ist man an einer Wiederherstellung des Vertrauens interessiert, kommt man daher an einer ernsthaften Aufarbeitung der Corona-Politik nicht vorbei.
Erfolgversprechend wäre diese aber nur dann, wenn sie sich nicht scheut, auch diejenigen Fragen zu beleuchten, die erst zur Erosion des Vertrauens geführt haben. Eine Aufarbeitung, die diesen Namen auch verdient, müsste deshalb die Frage stellen, warum sich die drei Gewalten und die Medien in der Pandemie nur in ihrem Versagen gegenseitig überboten haben.
Wie konnte es sein, dass der Bundestag während der „Pandemie“ ohne nennenswerten Widerstand seine eigene Entmachtung beschlossen hat? Wie konnte es sein, dass die Bundesregierung die Bevölkerung mit einer unmenschlichen Angstpropaganda und zunehmend evidenz- und sinnbefreiten Maßnahmen überzogen hat? Wie konnte es sein, dass der Regierungschef eines vorgeblich liberalen Rechtsstaats öffentlich äußern kann, dass er bei der Pandemiebekämpfung keine verfassungsrechtlichen roten Linien mehr kenne, ohne im Anschluss von einer empörten Öffentlichkeit zum Rücktritt gezwungen zu werden? Wie konnte es sein, dass der Präsident einer Bundesbehörde in einer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft ohne darauffolgenden Aufschrei erklären kann, dass staatliche Maßnahmen niemals hinterfragt werden dürfen? Wie konnte es sein, dass die meisten Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht keine wesentlichen Einwände gegen den autoritären Regierungskurs hatten?
Wie konnte es sein, dass die Medien, deren vornehmste Aufgabe im Hinterfragen der Herrschenden und ihrer Narrative besteht, sich als Regierungssprecher gebärdeten und sich außerdem in vorderster Front an der Ausgrenzung Andersdenkender beteiligten? All diese Fragen sind nach wie vor offen. Und solange sie das sind oder wie bislang schlicht ausgeblendet werden, bleibt jeder Weg zu einer gesellschaftlichen Versöhnung versperrt.
Diese Aufarbeitungs-Farce können wir uns sparen
Was eine Aufarbeitung der Corona-Politik leisten sollte und welches Ziel sie hat, ist also klar. Die Debatten, die um dieses Vorhaben geführt werden, lassen aber nicht darauf schließen, dass die verantwortlichen Protagonisten begriffen hätten, worum es geht. Wahrscheinlich ist den Verantwortlichen aber durchaus bewusst, wie eine ernsthafte Aufarbeitung aussehen müsste. Und eben weil sie wissen, dass sie dabei nicht allzu gut wegkämen, lehnen sie diese vehement ab oder versuchen, sie durch Nebelkerzen und Ablenkungsmanöver in eine für sie ungefährliche Richtung zu lenken.
Auch die gestrige Hart aber Fair-Sendung, die auf den Tag genau vier Jahre nach der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes am 18. November 2020 stattfand, reiht sich in die Versuche ein, eine tatsächliche Aufarbeitung durch eine simulierte Pseudo-Aufarbeitung im Keim zu ersticken. Das fing schon beim Moderator an: Klamroth rekurrierte in seinen Fragen mehrmals auf die längst als plumpe Inszenierung entlarvten „Bilder von Bergamo“ und fungierte so als dankbarer Stichwortgeber der ehemaligen Vorsitzenden des deutschen Ethikrates Alena Buyx. Die antwortete auf die Frage der politischen Entscheidungsfindung vor dem Hintergrund dieser Bilder: „Es war unmöglich auszublenden, dass das gerade passiert.“
Klamroth hätte an dieser Stelle nachhaken können, seit wann Bilder aus der italienischen Provinz in Deutschland als Grundlage politischer Entscheidungen dienen, aber Louis Klamroth hatte offenkundig anderes im Sinn. Vor allem zu verhindern, dass sich die Diskussion Themen näherte, die dem offiziellen Pandemie-Narrativ gefährlich werden könnten. Mehrmals unterbrach er die gewohnt kritischen Ausführungen von Heribert Prantl oder würgte den Virologen Klaus Stöhr ab, wenn der den Finger in die Wunde legte und auf massives politisches Versagen – etwa die organisierte Abwesenheit wissenschaftlicher Evidenz – zu sprechen kam.
Stattdessen behauptete Klamroth stellvertretend für die gesamte deutsche Medienlandschaft, dass er das Gefühl habe, dass diese die Politik während der Pandemie „ziemlich kritisch“ begleitet hätte. Nicht weniger verfehlt waren auch die Themen, auf die er das Gespräch immer wieder lenkte: Beinahe die gesamte Sendung drehte sich um die Themen Long-Covid und psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen. Im Rahmen einer umfassenden Aufarbeitung sicherlich von Bedeutung. Aber es gibt weitaus gewichtigere und vor allem pikantere Fragen:
Mit freundlicher Unterstützung Klamroths ergingen sich Lauterbach, Buyx und Hirschhausen dann in Gaslighting, Heuchelei und dem Abwürgen jeder ernsthaften Kritik. Im Folgenden eine komprimierte Übersicht über die Lowlights der Sendung: Lauterbach – gegen den selbst ein Olaf Scholz authentisch wirkt – konnte sich zwar zu der Aussage durchringen, dass er heute nicht mehr davon sprechen würde, dass die Ungeimpften die gesamte Gesellschaft in Geiselhaft genommen hätten, wiederholte allerdings die an Desinformation grenzende Behauptung, dass damals überwiegend Ungeimpfte schwer erkrankt seien und sagte sinngemäß, dass der Druck auf Ungeimpfte und deren Diskriminierung mit 3G und 2G auch ihrem eigenen Schutz gedient habe. Außerdem finde er es heute gut, dass die Impfpflicht nicht zustande kam, aber man im Bundestag wenigstens mal darüber debattiert habe.
Da hätte der Staat beinahe – von Detailunterschieden abgesehen gab es im Bundestag damals ja eine Mehrheit für eine Impfpflicht – millionenfach Menschen zwangsgeimpft und nachher stellt sich der verantwortliche Gesundheitsminister hin und erklärt lapidar, dass das alles gar nicht nötig war. Ironischerweise hat ausgerechnet Lauterbach damit persönlich den Aufarbeitungsbedarf demonstriert. Denn wie eine ganze Gesellschaft so auf Abwege geraten kann, dass eine aufgehetzte Mehrheit einer Minderheit die körperliche Integrität absprechen kann, sollte man im Nachhinein vielleicht doch lieber einer eingehenden Prüfung unterziehen.
Und Buyx, die nach wie vor nicht allzu interessiert an einer kritischen Rückschau zu sein scheint, mahnte mehrmals an, doch den Blick lieber auf das Positive und auf vermeintliche gesellschaftliche „Höchstleistungen“ (Buyx) während der „Pandemie“ zu lenken. Mir fallen in diesem Zusammenhang eigentlich nur Denunzianten ein, die die alte deutsche Blockwartmentalität wiederentdeckt haben, aber die meinte Buyx vermutlich nicht. Ansonsten setzt sich Buyx jetzt sehr für die Kinder und Jugendlichen ein. Löblich, dass sie nach drei Lockdowns, monatelangen Schulschließungen und häuslicher Isolation nun ihr Herz für Kinder entdeckt hat. Selbst minimalste Selbstkritik suchte man vergebens. Stattdessen sieht sie in Bezug auf die Kinder und deren „unerwiderte Solidarität“ nun „die Gesellschaft“ in der Bringschuld. Warum auch sein eigenes Verhalten hinterfragen, wenn man hinterher einfach „der Gesellschaft“ die Verantwortung in die Schuhe schieben kann.
Die notwendige Aufarbeitung der Corona-Politik Leuten wie Lauterbach, Buyx oder Hirschhausen zu überlassen, wäre ungefähr so absurd, als wolle man einen Schuldigen vor Gericht über sich selbst urteilen lassen. Eine solche zur Farce verkommene Aufarbeitung überwindet die Vertrauenskrise nicht, sondern vertieft die gesellschaftlichen Gräben weiter. Dass die drei Genannten auch gestern alles unternahmen, um ihre eigene Rolle im Unrecht der zurückliegenden Corona-Jahre zu verschleiern und um die Debatte erst aufs Neben- und dann aufs Abstellgleis zu verschieben, mag mit Blick auf ihre persönliche Verstricktheit nachvollziehbar sein. Solche Ablenkungsmanöver dürfen aber nicht vom Blick auf die eigentlich relevanten Tatbestände ablenken. Eine ernsthafte und unvoreingenommene Aufarbeitung der Corona-Krise wird wahrscheinlich noch eine Weile auf sich warten lassen.