Ob man beim WDR gute Vorsätze für das neue Jahr hat? So wirkt es zumindest bei „Hart aber Fair“ am Montagabend, wo man als Zuschauer tatsächlich mit einer kritischen Diskussion beglückt wird. Die vorweihnachtliche Einigkeit vom letzten Mal scheint vergessen. Stattdessen gibt es in Plasbergs Runde am Montagabend tatsächlich Dissens und Wortgefechte. „Rettung nur Tröpfchenweise – bekommt Deutschland zu wenig Impfstoff?“ ist die Titelfrage der Sendung, auf die die Antwort eigentlich unisono „Ja“ lautet. Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen, CDU-EU-Abgeordneter und Gesundheitspolitiker Dr. Peter Liese, Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt („SüZ“), SPD-Politiker Dr. Karl Lauterbach und FDP-Generalsekretär Volker Wissing sind sich da einig.
Und obwohl zunächst alle erklären, dass die Impfstoffbeschaffung durch die EU prinzipiell eine gute Idee war, wird die nächsten Minuten lang von allen ausgebreitet, warum das eben doch nicht so ist. Hat die EU versagt? So genau will das keiner sagen. EU-Abgeordneter Liese erklärt zunächst, Haftungsfragen hätten die Impfstoffbeschaffung behindert. Karl Lauterbach entgegnet, dass auch nationale, protektionistische Überlegungen eine Rolle gespielt hätten: Die Franzosen zum Beispiel wollten nicht zu viel deutschen Impfstoff kaufen und stattdessen lieber auf eigene Produzenten setzen.
Woran es am Ende auch immer lag: Dass die „europäische Lösung“ der Impfstofffrage schlecht gelaufen ist, kann keiner der Anwesenden leugnen. Vor allem, nachdem die Gäste mit Aussagen von Professor Frauke Zipp konfrontiert werden. Die Wissenschaftlerin der „Leopoldina“ erklärte, Deutschland hätte im Sommer für 10 Milliarden Euro mehr als genug Impfdosen kaufen können, hätte dies aber versäumt. In diesem Zusammenhang wird Donald Trumps Impfstoffbeschaffung in der Runde sogar gelobt: Die USA hätten sich getraut, ein vielfaches dieser Summe in die Hand zu nehmen. Die größte Überraschung des Abends in einem Nebensatz: Donald Trump wird in einer öffentlich-rechtlichen Sendung nicht nur fair dargestellt, sondern sogar gelobt. Doch selbst wenn Deutschland so handeln wollte wie Trump: Wie Karl Lauterbach wenig später klarstellt, habe die EU bilaterale Impfstoffkäufe gar nicht erlaubt. Gott sei Dank schützt uns die EU also vor rechtspopulistischen Ideen wie einem ausreichenden nationalen Impfstoffvorrat.
Hier das EU-Konzept zu verteidigen, fällt auch Dr. Liese schwer. Der stockt und stammelt, und schiebt die Schuld anschließend Sozialdemokraten, Grünen, Linken und Liberalen im EU-Parlament zu, die immer wieder Haftungsfragen gegenüber den Produzenten ins Spiel gebracht hätten. „Ich bin unglücklich mit dieser Situation“, erklärt er. „Aber für mich war es schwierig genug, den Einkauf gegen Sozialdemokraten, Grüne und Linke durchzusetzen.“ Anschließend verrennt er sich in einer peinlichen Analogie: In England würde man ihn mit Jürgen Klopp vergleichen. Und Klopp würde nicht darauf rumreiten, was man in der Vergangenheit hätte tun können, sondern in die Zukunft blicken. Politikversagen, insbesondere auf EU-Ebene, will der Brüsseler Abgeordnete offensichtlich nicht diskutieren. Doch das lassen ihm weder Frank Plasberg, noch die übrigen Anwesenden durchgehen: Im Verlauf der Sendung bezieht „CDU-Klopp“ noch ordentlich Kloppe.
Dann haut Lauterbach noch einen raus
Denn Politik- und Staatsversagen zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Thematik. Die Einblicke, die die Studiogäste liefern, zeigen ganz deutlich: Beim Thema Impfstoff haben es die handelnden Organe nicht nur in Brüssel, sondern eben auch in Deutschland versaut. FDP-Politiker Wissing berichtet davon, dass Angela Merkel einen Vorschlag von Gesundheitsminister Spahn, mit wenigen Ländern gemeinsam noch mehr Impfstoff zu kaufen, abgeschmettert hätte. Erklären kann das keiner – verstehen wahrscheinlich auch nicht.
Auch die Einsendungen der Zuschauer stellen einen scharfen Kontrast dazu dar. Impfen, so sagt ein Zuschauer, sei doch der Weg aus der Krise. Warum gebe man in der Politik dann nicht soviel Geld wie nötig aus? Dazu kommen Berichte über den verbockten Impfstart aus erster Hand: Eine Zuschauerin, die ihre Mutter impfen wollte, erzählt von endlosen Warteschlangen in sinnlosen Hotlines, bei denen sie gar nicht durchkam. Ein 81-Jähriger kritisiert, mit der Online-Terminvereinbarung überfordert zu sein. Volker Wissing korrigiert die Kommentare der Zuschauer direkt: „Nach meinen Informationen ist das gut angelaufen.“ Alles hätte funktioniert und der Impfstart sei geglückt. In dieser Pandemie bei weitem nicht das erste mal, dass bemerkenswerte Diskrepanz zwischen Politikererzählung und Bürgerempfinden besteht.
Da Karl Lauterbach unter unseren Lesern ja sehr beliebt ist, wollen wir den Knaller, den der Gesundheitspolitiker am Ende noch auspackt, natürlich nicht verschweigen: Lockdowns sollten ab sofort am besten „open-end“, also ohne vorbestimmtes Enddatum verhängt werden. „Er muss so lange gehen, bis der angestrebte Zielwert erreicht ist“. Trotz Impfungen, so Lauterbach, ständen uns jetzt die „härtesten drei Monate der gesamten Pandemie“ bevor.
Was nimmt man aus der Talkrunde mit? Vor allem erlebt man zumindest in einem Sektor eine belebte und uneinige Debatte, die man als Zuschauer schon gar nicht mehr gewohnt ist. Tatsächlich: Manchmal ist kritisches Diskutieren im ÖRR noch möglich. Und wenn im ÖRR die Bundesregierung scharf angegangen wird, ist das das größte Signal dafür, dass unser Staat auf ganzer Linie versagt hat – und diese Linie Merkel scheint damit doch ganz entschieden zu bröckeln.