Tichys Einblick
Wind of Change 2.0?

Hart aber fair über Aufrüstung und die Bundeswehr

Die Beifallsbekundungen des Publikums dokumentierten einen allgemeinen Stimmungswandel in Deutschland. Abrüstung und Verständigung sind out. Rüstungsinvestitionen und Aufrüstung der Bundeswehr sind in.

Screenprint: WDR / Hart aber Fair

Deutschland rüstet auf – und zwar in nahezu unbegrenzter Höhe. Gesetzt den Fall, der alte Bundestag stimmt heute den entsprechenden Verschuldungsplänen von Union, SPD und Grünen zu. Die Diskussion bei Hart aber fair und die ausgewählten Beifallsbekundungen des Publikums dokumentierten dabei einen allgemeinen Stimmungswandel in Deutschland. Rüstungsinvestitionen und Aufrüstung der Bundeswehr sind wieder en vogue.

Weitgehender Konsens über Stärkung der Bundeswehr

Die anwesenden Gäste der gestrigen Sendung lassen sich schematisch grob in zwei Lager einteilen. Auf der einen Seite die Aufrüstungsbefürworter Roderich Kiesewetter (CDU), Obmann der Unions-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Ausschuss und Oberst a.D., Andrea Rotter, Leiterin Außen- und Sicherheitspolitik an der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung und David Matei, Influencer für Verteidigungsthemen und Jugendoffizier der Bundeswehr. Auf der anderen Seite die Aufrüstungsskeptiker und -gegner Ole Nymoen, Podcaster und Autor des Buches „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“, Bascha Mika, Podcasterin und langjährige Chefredakteurin von „taz“ und „Frankfurter Rundschau“ sowie Julian Nida-Rümelin, Philosoph und Staatsminister a.D.

Den inhaltlichen Ausführungen sei noch eine Bemerkung zur Diskussionskultur vorangestellt: Ungeachtet der Tatsache, dass der Ukraine-Krieg und Fragen der militärischen Aufrüstung in Deutschland nicht erst seit dem 22. Februar 2022 ebenso emotional wie kontrovers diskutiert werden, kam die gestrige Debatte bei Hart aber fair wohltuend nüchtern und unaufgeregt, man könnte sagen, geradezu harmonisch, daher. Mag sein, dass dieser Umstand darauf zurückzuführen ist, dass mit Roderich Kiesewetter dieses Mal nur ein einziger Politiker eingeladen war, dem ein entsprechender politischer Konterpart fehlte. Mag sein, dass dies daran liegt, dass die Zeit des Wahlkampfes und damit die Zeit rhetorischer und verbaler Zuspitzung und Polarisierung vorbei sind. Wie dem auch sei. In Punkto Debattenkultur war die Sendung in der Tat vorbildlich. Unabhängig von den eigenen Überzeugungen war beiden Lagern die Ernsthaftigkeit des Themas durchaus anzumerken. Auf hitzige Wortgefechte wartete man als Zuschauer völlig vergeblich. Stattdessen trugen die Diskutanten auf beiden Seiten ihre Argumente bedächtig, überlegt, ja beinahe vorsichtig vor.

Mit Blick auf die Notwendigkeit einer Aufrüstung der Bundeswehr war man sich eingangs der Sendung weitgehend einig. Und das zu Recht: Denn dass die Bundeswehr immerhin soweit ertüchtigt werden sollte, dass sie ihren Zweck der Landesverteidigung gewährleisten kann, steht wohl außer Frage. Doch die entscheidende Frage wurde auch bei Hart aber fair leider völlig unzureichend erörtert. Nämlich die Frage der Finanzierung dieses Vorhabens. Denn sowohl in der öffentlichen Debatte als auch in der Sendung ging und geht die Anerkennung der Aufrüstungsnotwendigkeit der Bundeswehr in der Regel mit der Unterstützung für die unbegrenzten Verschuldungspläne von Schwarz-Rot-Grün einher.

Nun gibt es aber bei Lichte besehen keinen Grund für diesen Automatismus. Der Schutz der eigenen Staatsbürger, die Verteidigung nach innen und außen ist eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Aufgabe eines Staates überhaupt. In der Staatstheorie von Thomas Hobbes, einem der Klassiker der politischen Philosophie, ist die Gewährleistung von Schutz und Verteidigung sogar die Existenzgrundlage von Staaten. Nur zu diesem Zwecke, so Hobbes, hätten sich die Menschen eines hypothetischen Urzustandes überhaupt in staatlichen Gebilden zusammengefunden, denen sie das alleinige Gewaltmonopol übertragen haben.

Selbst wenn man nicht so weit gehen möchte, die Landesverteidigung als obersten Staatszweck, sondern nur als eine staatliche Aufgabe unter vielen zu betrachten, ist es doch mehr als plausibel, dass deren Finanzierung auf Dauer aus dem regulären Staatshaushalt bestritten werden sollte. Nun sehen die Pläne der designierten Bundesregierung aber vor, dass sämtliche Verteidigungsausgaben oberhalb von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts künftig von der Schuldenbremse ausgenommen, also dauerhaft auf Pump finanziert werden sollen. Theoretisch ermöglicht diese Regelung also eine im Grunde unbegrenzte Erhöhung des Verteidigungsetats.

Aber ist das überhaupt nötig? Diese völlig berechtigte Frage stellte sich bei Hart aber fair auch Julian Nida-Rümelin. Der referierte in der Sendung die nackten Zahlen und verwies auf die Tatsache, dass das Militärbudget der USA, aber auch das aufsummierte Budget von Großbritannien, Frankreich und Deutschland schon heute dasjenige Russlands deutlich übersteige. Vor dem Hintergrund, dass Deutschland mit jährlich fast 70 Milliarden Euro die siebthöchsten Verteidigungsausgaben der Welt hat und zugunsten der Bundeswehr bereits ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro existiert, konstatierte Nida-Rümelin, dass die Bundeswehr kein Geld- sondern vielmehr ein Effizienz- und Effektivitätsproblem bei der Verwendung der bereitgestellten Finanzmittel habe.

In der Tat wäre es doch am sinnvollsten gewesen, zunächst an diesem Hebel anzusetzen und auf diese Weise die bestehenden Potenziale zu heben, statt den Verteidigungshaushalt mit Geld zu fluten und damit der Mittelverschwendung und Korruption Tür und Tor zu öffnen. Doch Nida-Rümelins bedenkenswerte Argumentation stieß leider auf keine ernsthafte Resonanz. Roderich Kiesewetter verteidigte die Schuldenpläne demgegenüber damit, dass Russland mittlerweile 40 Prozent seines BIPs für Rüstung aufwende und sich mithin in eine Kriegswirtschaft transformiert habe. Die sich aufdrängende Frage, ob Deutschland es daher Russland gleichtun sollte, indem es seine Volkswirtschaft seinerseits in eine Kriegs-, letztlich also in eine staatlich gelenkte Kommandowirtschaft, verwandelt, blieb unbeantwortet.

Verteidigungsbereit oder kriegstüchtig?

Einen verhältnismäßig großen Anteil nahm dann die Diskussion über den Zweck des Aufrüstungsprogramms ein. Kiesewetter und auch die gleichgesinnte Andrea Rotter versuchten dabei immer wieder zu betonen, dass dies einzig dem defensiven Ziel der Landes- und Bündnisverteidigung diene und vor dem Hintergrund der doppelten Herausforderung Europas durch Trump und Putin geboten sei. Allen voran Ole Nymoen meldete hierbei erhebliche Zweifel an und brachte seine Befürchtung zum Ausdruck, dass Deutschland sein Militär künftig auch offensiv einsetzen könnte. „Mir macht sowas Angst“, sagte er mit Blick auf die Vorstellung, dass Friedrich Merz in naher Zukunft „eine neue Supermacht namens EU“ anführen könnte.

Diese Angst mag sicher legitim sein, aber unter allen Argumenten gegen die Aufrüstung der Bundeswehr ist die Sorge, diese würde dann womöglich Angriffskriege führen, sicher das schwächste. Ein zweiter Vormarsch deutscher Truppen auf Moskau würde dieses Mal schließlich spätestens vom Bundesverfassungsgericht mit dem Verweis auf die problematische Klimabilanz der Operation vereitelt werden.

Eher zur weiteren Konfusion denn zur Klärung der Sachlage trug die wenig erhellende Auseinandersetzung um die Begriffe Wehrhaftigkeit, Verteidigungsbereitschaft und Kriegstüchtigkeit bei. Aufgemacht wurde dieses Fass von der Journalistin Bascha Mika, die ihr Entsetzen darüber zum Ausdruck brachte, dass das von Boris Pistorius geprägte Wort „kriegstüchtig“ heute, anders als noch 2023, nicht mehr für öffentliche Empörung sorge. „Kriegstüchtig? Es geht um Verteidigung, wir können doch nicht kriegstüchtig sein! Jetzt wird mit diesem Begriff nonchalant umgegangen“, sagte sie, um dann noch hinzuzufügen: „Ich finde es ausgesprochen schwierig, dass wir offenbar vergessen haben, dass wir eine Verpflichtung zum Frieden haben – die steht bei uns im Grundgesetz.“

So richtig sie damit einerseits auf eine sich nach wie vor vollziehende Diskursverschiebung und einen durchaus bemerkenswerten Stimmungs- und Mentalitätswandel in Deutschland verwies, so wenig nachvollziehbar war ihre rein semantische Unterscheidung zwischen Verteidigung und Kriegstüchtigkeit. Denn ob man öffentlich davon spricht, die Bundeswehr aufzurüsten, um sie kriegsfähig zu machen, oder davon, sie zur Landesverteidigung zu ertüchtigen, ist völlig gleichgültig. Beide Begriffe meinen schlicht ein und dasselbe. Und auch der Hinweis auf das Friedensgebot im Grundgesetz ist letztlich nichts weiter als ein Strohmann, denn eine zumindest ernsthaft verteidigungsfähige Bundeswehr ist keine Gefahr für den Frieden, sondern im Gegenteil dessen unabdingbare Voraussetzung.

Ähnlich ratlos hinterließen einen auch Mikas Äußerungen zur atomaren Abschreckung. Ja, sicherlich ist eine atomwaffenfreie Welt erstrebenswert, aber solange Staaten wie Russland ihrerseits nicht an Abrüstung denken, ist es utopisch und weltfremd, einfach den eigenen Schutzschirm abzubauen und zu hoffen, Russland werde es einem dann schon gleichtun. Wie in vielen anderen Bereichen verfolgen die Konzepte der politischen Linken also auch im Bereich der Verteidigungspolitik überaus hehre Ziele – Entmilitarisierung, Diplomatie, Weltfrieden –, die auf den ersten Blick überaus attraktiv erscheinen, letztlich aber vor allem durch eine völlige Realitätsferne gekennzeichnet sind.

„Deutschland ist es wert“

Durchaus lohnenswert war es, über den Verlauf der Sendung einmal bewusst darauf zu achten, welche Äußerungen vom Studiopublikum mit Applaus bedacht und welche stillschweigend zur Kenntnis genommen wurden. Auffällig war, dass das dezidiert pazifistische Lager kaum überhaupt einmal Beifall bekommen hat, wohingegen beispielsweise die Statements des CDU-Mannes Roderich Kiesewetter regelmäßig entsprechend goutiert wurden. Zwar haben die öffentlich-rechtlichen Talkshow-Formate während des Wahlkampfes immer wieder eindrucksvoll gezeigt, wie wenig repräsentativ die dort anwesenden Zuschauer für die deutsche Wahlbevölkerung sind, doch scheint der Fall gestern anderes gelagert zu sein.

Denn interessanter- und überraschenderweise scheint die Union – traut man den jüngsten Umfragen – von ihrem beinahe historischen Bruch der eigenen Wahlversprechen sogar zu profitieren. Offenbar haben wir es auch dieses Mal, ähnlich zu dem Umfragehoch der Regierungsparteien zu Beginn der Pandemie, mit einer Situation zu tun, in der sich weite Teile der Bevölkerung im Kontext politisch-medial inszenierter Bedrohungslagen und einer Alternativlosigkeit vermittelnden Notstandsrhetorik nach exekutiver Führung sehnen – auch die im Grunde durch nichts hinterlegte Beliebtheit eines Boris Pistorius lässt sich nur dadurch verstehen.

Und vordergründig sollen die Milliardenprogramme von Schwarz-Rot genau das signalisieren: Handlungsbereitschaft und Führungsstärke in Zeiten, in denen alten Gewissheiten zu erodieren scheinen. Die Parallelen zur Pandemie reichen noch weiter. Ebenso wie damals werden auch heute unter Zuhilfenahme von Ausnahmezustands- und Kriegsrhetorik gigantische Geldsummen aufgenommen, die unter normalen Umständen eigentlich undenkbar wären. Und ebenso wie damals sind die Leidtragenden auch dieses Mal vor allem junge Menschen – und das auf doppelte Weise. Nicht nur sind sie es, der diese Schuldenberge hinterlassen werden, sie sind es ja auch die von einer Wiedereinführung der Wehrpflicht unmittelbar betroffen wären.

Die Politik macht also knallhart Politik auf Kosten der jüngeren Generationen, die mehr oder minder alleine für die Sicherheit der Gesamtgesellschaft aufkommen soll. Das gefällt den Rentnern im TV-Studio und in der Breite der Bevölkerung natürlich. Dass die CDU dabei mal eben sämtliche Wahlversprechen über Bord gekippt hat, fällt demgegenüber schon gar nicht mehr ins Gewicht. Die Parteien wissen offenbar sehr genau, auf welche Wählergruppen es in diesem Land ankommt und auf welche eher nicht. Die Erklärung für die scheinbar überraschenden Umfragegewinne der Union muss man genau hier suchen.

Umfassender Sinneswandel

Genauso verhält es sich auch mit der Äußerung, die am gestrigen Abend den mit weitem Abstand lautstärksten Beifall eingeheimst hat.

In Reaktion auf die Ausführungen von Ole Nymoen, der den Dienst an der Waffe kategorisch ablehnt, setzte der Bundeswehr-Influencer David Matei zu einer leidenschaftlichen und zugegebenermaßen rhetorisch ansprechenden Verteidigungsrede für Deutschland an, die er mit den Worten „Deutschland ist es wert“ verteidigt zu werden, abschloss. Man mag nun den Applaus schlicht auf seine Lobrede auf Deutschland zurückführen, ich meine aber, die überwältigende Zustimmung lässt sich nur mit einer größer werdenden Zahl von Menschen in Deutschland erklären, die einerseits ein hohes Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit haben und andererseits vor allem froh darüber sind, selber nichts zur Erreichung dieses Ziels beitragen zu müssen, sondern solidarisch den Jüngeren den Vortritt lassen zu können.

Unabhängig davon, ob diese Analyse zutreffend ist oder nicht, ist auch die gestrige Sendung von Hart aber fair ein deutliches Indiz für einen umfassenden Mentalitätswechsel der Deutschen und ein verändertes, deutlich positiveres Verhältnis zur eigenen Armee und zum Militär insgesamt. Ähnlich wie 1989/90 erleben wir zurzeit tiefgreifende Veränderungen, es weht gewissermaßen wieder ein Wind of Change durch Europa, wie die Scorpions ihn damals besungen haben. Dieses Mal allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Statt Abrüstung und Verständigung erleben wir Aufrüstung und neue Unversöhnlichkeit. Ob dieser Weg den Frieden sichern oder den Krieg provozieren wird, bleibt abzuwarten. Was wir heute dagegen schon wissen: Bezahlen werden so oder so die Jungen.

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