Tichys Einblick
Die Zahlen stützen die These nicht

Bei Hart aber Fair: Ost und West gar nicht so unterschiedlich

Wer Hart aber Fair schauen wollte, musste vorher seine Hausaufgaben machen: Eine vorangesetzte Dokumentation sollte helfen, die Diskussion einordnen zu können. Die Frage, die es zu klären galt: Warum sind die Ostdeutschen so Putin-freundlich? Doch sie sind es tatsächlich nicht. Jedenfalls nicht viel mehr als der Rest des Landes.

Screenprint ARD / Hart aber Fair

In der ARD gibt es ein ganz besonderes Genre. In dieser Form wird es wohl nirgends praktiziert: Es ist der Elternbericht. Ein Journalist zieht los, um Leute zu befragen, zu den Themen der Zeit. Und einige sind seine Eltern, Geschwister und Freunde der Familie. Das suggeriert Nähe und Authentizität der Berichte. Maximale Intimität des Journalisten? Nicht nur sich selbst offen zu legen, sondern die Eltern gleich mit. Es ist auch faul: Statt sich Bürger mit interessanten Meinungen oder Umständen zu suchen, nimmt man welche, die man schon kennt, und baut einen Bericht darum herum.

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So konnten ARD-Zuschauer an diesem Montagabend Jessy Wellmer – ARD-Sportmoderatorin – und ihre Familie, Familienfreunde und Ostdeutschland kennenlernen im Film „Russland, Putin und wir Ostdeutsche“. Weil man aber bei den knappen Budgets der ARD jeden Beitrag zweimal verwerten muss, macht man im Anhang an so eine Dokumentation auch gleich noch eine Talkshow zum gleichen Thema. Der Titel der dieswöchigen Ausgabe von „Hart aber Fair“: „Eine Frage der Herkunft: Warum sehen Ost- und Westdeutsche Russlands Krieg so anders?“

Natürlich ist Wellmer in der Runde dabei, sie ist ja mit ihrem Film auch der Aufhänger der Sendung. Wer ihren Streifen nicht gesehen hat, ist in den ersten Minuten der Talkshow verloren, denn der Kontext fehlt. Worüber reden die da? Eine Rezension von Hart aber Fair ist also gleichzeitig eine Rezension dieser Dokumentation Wellmers. Eine Dokumentation, in der Gregor Gysi als „oberster Ostdeutschlanderklärer“ vorgestellt wird. Gysi, der letzte Vorsitzende der SED (vor ihren diversen Namensänderungen bis hin zur „Die Linke“), soll über die Ostdeutschen reden.

NVA-Offiziere und SPD-Lokalpolitiker

Es sind teils wirre, teils verständliche Personen, die in der Dokumentation gezeigt werden. Da ist der ehemalige NVA-Offizier, der sagt „Russland ist für uns – symbolisch – immer noch der Garant des Friedens“, der in Deutschland keine Demokratie mehr erkennen möchte. Oder der SPD-Lokalpolitiker, der Nord Stream 2 öffnen möchte: falls Putin doch Gas durchschickt. Er drückt sein Missvertrauen in die Anstalten des ÖRR aus, ohne Wellmer Manipulation vorwerfen zu wollen. Andere, auf Demos gefilmte Personen, sind da direkter.

Insgesamt wird für Ostdeutschland eine Psychoanalyse gezeichnet. Eine Psychoanalyse einer älteren Bevölkerung, die antiwestlich, prorussisch und demokratieskeptisch ist. Und diese Einstellungen sollen aus ihrer biografischen Erfahrung geboren sein. Und sicherlich: Solche Meinungen scheinen in Ostdeutschland weiter verbreitet zu sein als im Westen. Aber die in der Dokumentation zur Untermauerung dieser These präsentierten Daten zeigen, dass es ein überzeichnetes Bild ist.

Die Unterschiede zwischen Ost und West werden überzogen

Zum Beispiel wird gefragt: „Wird in den Medien zu positiv oder negativ über Russland berichtet?“ Im Anbetracht der Dokumentation und der Hart-aber-Fair-Sendung von diesem Abend möchte man meinen: Das Ost-West Gefälle in dieser Antwort muss gewaltig sein. Doch es stellt sich heraus: Ist es nicht. 33 Prozent der Befragten in Ostdeutschland glauben, die Medien berichteten zu negativ, 23 Prozent der Befragten in Westdeutschland: 10 Prozentpunkte Unterschied. Das gleiche Bild ergibt sich bei der Frage: „Stellt Russland eine Bedrohung für die Sicherheit der Welt da?“. Das beantworten im Osten 20 Prozent mit „Ja“ oder „eher Ja“, im Westen sind es 11 Prozent. 9 Punkte Unterschied.

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Doch es gibt so viel mehr Faktoren als nur die biografische Komponente, die die Unterschiede zwischen den Antworten in Ost und West erklären könnten. Die allgemeine Altersstruktur der Bevölkerung, das Einkommensniveau, der Anteil der Zuwanderer unter den Befragten, sogar der im Osten höhere Teil an Männern in der Bevölkerung: All diese Faktoren können hier einen Unterschied machen. Wie viele Prozent Unterschied in der Antwort bleiben übrig, wenn man sie einbezieht? Wie groß ist der tatsächliche Anteil der Biografie der Ostdeutschen, für die die DDR nun 32 Jahre zurückliegt? Wenn man die Frage nach der Russlandeinstellung nicht plump reduziert auf die Frage „Wohnst du in Potsdam oder Stuttgart?“, könnte der Film interessant werden. Und wie viele und welche Wessis zogen seit 1990 in den Osten um und wie viele und welche Ossis in den Westen?
32 Jahre später – kommt mal eine andere Erklärung?

Doch daran scheitert die Dokumentation und es scheitert auch die darauffolgende Talkshow. Der Vorwurf der erlernten Russlandfreundschaft, der unüberbrückbaren mentalen Unterschiede zwischen Ost und West, sitzt 32 Jahre nach der Wiedervereinigung noch zu tief. Wellmer vertritt dieses Bild in ihrem Film und glaubt: Es ist vor allem auch ein Generationenkonflikt. Sie selber als Ostdeutsche habe ja keine prorussischen Einstellungen, vertraut dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Ralf Fücks hat auch keine Erklärung anzubieten. Er ist Gast des Plasberg-Talks, sagt, er sei selber früher Kommunist gewesen. Er sagt, „musste mich häuten“, um die damals gelernten Feindbilder abzulegen, die Feindbilder USA und Nato. Fücks ist Teil des politischen Vorfelds der Grünen: Er leitet die Denkfabrik „Liberale Moderne“, ist Mitglied des B90/Die Grünen und war Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

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Anders sieht es Antje Hermenau. Die ehemalige Grünenpolitikerin ist nun als politische Beraterin aktiv. Sie vertritt die Anti-Kriegs-Ostdeutschen in der Sendung. Denn sie möchte „über die Sanktionen ehrlich reden“ und möglichst schnell einen Frieden in der Ukraine erreichen. Wie das geschehen soll, sieht sie so: „Das müssen die Russen und die Amerikaner miteinander klären. Uns Europäer nimmt ja eh keiner ernst“, sagt sie.

Eine Frage, bei der wirklich größere Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen offenbar werden, ist die, ob die Sanktionen angemessen sind. Die Sanktionen gehen 35 Prozent der Befragten im Osten zu weit, der gleichen Meinung sind 21 Prozent der Befragten im Westen. Dagegen finden 25 Prozent im Osten, dass die Sanktionen nicht weit genug gehen, während dies 38 Prozent im Westen sagen. Hierfür präsentiert Hermenau eine Erklärung: Sie habe auf den Demos der vergangenen Woche mit vielen Leuten geredet, die das Gefühl haben, „dass wir gerade mit dem Arsch auf Grundeis gehen“ und dass „wir unser mühsam aufgebautes Bisschen etwas verlieren“. Die größere wirtschaftliche Gefahr im Osten beeinflusst die Meinung der Menschen vor allen anderen Faktoren.

Hermenau nach ist es die wirtschaftliche Not, oder die Furcht davor, die die Leute in Ostdeutschland zu ihrer Meinung bringt. Doch auch sie kann sich nicht von der biografischen Erklärung befreien: Ihr zufolge haben die Ostdeutschen eine erlernte Angst vor einer Deindustrialisierung des Landes. Diese Angst fehlt den Westdeutschen. Vielleicht eine vereinfachte Sicht, wenn man in das Post-Industrielle Ruhrgebiet blickt. Aber eine Sicht, der kein anderer der Talkshowgäste etwas entgegensetzen kann. Außer Fücks, der ökonomische und politische Sichtweisen auf den Ukraine-Krieg nicht vermischen will. Das Leid der Ukrainer muss doch die Angst vor Wirtschaftsschäden stechen. Vielleicht hat er auch Recht, dass muss jeder für sich selbst wissen. Doch ein Schaden ist leicht in Kauf genommen, wenn man sein Geld vom Staat bekommt.

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Der andere Ostdeutsche-mit-DDR-Erfahrung in der Runde ist Henry Maske. Der ehemalige Profiboxer ist wohl der bekannteste der Talkshowgäste des Abends. Und er sieht den Grund für die unterschiedlichen Einstellungen eher in den Unterschieden zwischen den Landesteilen, die bis heute nachwirken: 22 Prozent niedrigerer Lohn, 52 Prozent geringeres Vermögen. Das Problem sei nicht eine gelernte Sympathie für Russland, sondern ein Gefühl der Entfremdung von den Westdeutschen. Insgesamt wird er aber wenig in die Diskussion eingebunden: Er ist an diesem Abend als DDR-Nostalgiker eingeplant, wird auf seine Erfolge angesprochen und wie es war, von Honecker mit Orden behängt zu werden. Eine Ostalgie, die nicht bei ihm aufkommen will, er will „auf keinen Fall das Rad zurückdrehen“, auch wenn er bei manchen versteht, warum sie so denken könnten.

Der letzte in der Runde ist Stefan Creuzberger, Professor für Zeitgeschichte in Rostock. Ihm wird die große Errungenschaft attestiert, dass er als Westdeutscher in den Osten gezogen ist. So als gäbe es da noch immer eine Mauer, die die Landesteile trennt. Auch er bringt die schleppende Diskussion nicht weiter. Als Historiker muss er qua Beruf ja die These vertreten, dass historische Ereignisse wie biografische Einflüsse die Geschichte bis heute nachhaltig formen.

Unhöfliche Demo-Reden und Briefe an Abgeordnete: Ein Angriff auf die Demokratie?

Diese Schwerfälligkeit der Diskussion fällt auch Frank Plasberg auf. Der Moderator versucht dann doch noch einmal eine Kontroverse anzuzetteln: Er konfrontiert Antje Hermenau mit ausgewählten Mitschnitten einer Demonstrations-Rede vor wenigen Tagen. Darin äußert sie sich kritisch über die Energiepreise („Energie ist der Brotpreis der Moderne“) und fordert die Menschen auf, ihrem Bundestagsabgeordneten zu schreiben, ins Wahlkreisbüro zu gehen und das Gespräch zu suchen. Sie sollen demonstrieren gehen, um ihre Meinung sichtbar zu machen. Denn man müsse „die Politiker“ zwingen zuzuhören. Gewohnt flapsig sagt Hermenau noch: „Ich glaube ja nicht, dass es dieses Mal einen Schießbefehl gibt.“ Das hat sie so auch schon in der Talkshow von TE gesagt, und keiner hat sich aufgeregt. Ist ja auch kein Aufreger, aber ARD ist eben eine Aufregermaschine, die daraus zuverlässig Aufregung produziert.

Etwa– ein Angriff auf die Demokratie ist das für Plasberg: Ist es nicht Erpressung, so auf die Politiker einzuwirken? Ist es nicht Demokratie gefährdend, wenn man von einem Schießbefehl munkelt? Ist es nicht unhöflich, von „den“ Politikern zu reden?

Sendung 22.09.2022
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Damit ist die Jagdsaison eröffnet: die Frage nach wirtschaftlichen Problemen vom Tisch gefegt. Nun kann man den Ostdeutschen Demokratiefeindlichkeit unterstellen. Fücks greift an: „Liebe Antje“, sie habe doch eine Verantwortung, die Menschen mitzunehmen und nicht nur pauschal zu verunsichern. Man habe eine Verantwortung, gegenzusteuern, zu sagen: „Leute, ich verstehe eure Sorgen, wir packen das an.“ Warum Nicht-Regierungsmitglieder plötzlich für die Regierung in die Bresche springen sollen, erklärt er aber nicht.

Wellmer wirft Hermenau vor, sie „arbeitet in die Ängste der Menschen rein“ und das komme ihr „grundfalsch“ vor. Klassisch deutscher Medienbetrieb eben: bloß nicht die Ängste von Menschen mit Hang zur Wahl von Randparteien adressieren. Wenn man sie nur lang genug ignoriert, gehen die Wähler und die Probleme, die sie antreiben, von allein weg.

Frage falsch verstanden, trotzdem beschimpft

Dazu passt die letzte Zahl, präsentiert in Hart aber Fair. Es ist das Ergebnis der Frage „Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert alles in allem zufrieden …?“.

Danach sind nur 51 Prozent der Gesamtbevölkerung zufrieden oder sehr zufrieden. Dramatischer noch ist es im Osten: Da sind nur 35 Prozent zufrieden. Endlich mal eine Frage mit echtem Unterschied zum Westen mit 53 Prozent Zufriedenen. Aus dieser Frage konstruiert die Runde eine allgemeine ostdeutsche Unzufriedenheit mit der Institution Demokratie an sich. Im Umkehrschluss würde sich also ein allgemeiner Wunsch nach Diktatur ergeben. Doch das ist eine verquere Lesart, die in der Runde auch nur eine Person realisiert. Antje Hermenau beschließt die Sendung mit der Frage: Sind die Leute unzufrieden mit der Demokratie an sich? Oder sind sie unzufrieden mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland? Aber dann müssen die Tagesthemen anfangen und Plasberg hat noch eine seiner wenigen verbleibenden Sendungen von Hart aber Fair abgearbeitet.

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