Man fragt sich vorab, ob das interessante Ost-West-Thema bei hart aber fair nicht überschattet werden wird von diesem ungeheuren Skandal in der Bundestagsfraktion der AfD, wo gerade neue Einzelheiten über den seit April beurlaubten ehemaligen Pressesprecher und Leiter der Pressestelle der AfD-Bundstagsfraktion bekannt geworden sind, die mehr als nur ein Tabubruch sind und alle früher kritisierten Aussagen von Gauland bis Höcke weit in den Schatten stellen.
Warum das überhaupt ein Thema sein könnte? Weil seit langer Zeit mit René Springer ein Abgeordneter des Oppositionsführers im Bundestag Gast bei hart aber fair sein darf. Die Redaktion wusste wohl, dass es dieses Mal nicht mit der üblichen Verweigerungshaltung im Vorwahlkampfmodus geht: Die AfD ist in vielen Regionen der neuen Bundesländer jedenfalls quantitativ Volkspartei. Davon kann die AfD im Westen nur träumen. Und die SPD bald in der ganzen Republik.
Frank Plasberg will an diesem Montag – und ein paar Tage vor den Dreißigjahrfeiern zur deutsche Einheit – die Kluft vermessen zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Sendung beginnt später, denn davor wird noch die Dokumentation „Wir Ostdeutsche“ gezeigt. Zehn Ostdeutsche dürfen hier ihre persönliche Bilanz ziehen, interessante und tiefe Einblicke streckenweise, der Bundestagsabgeordnete der AfD, Springer kommt ebenfalls länger zu Wort.
West gegen Ost
Neben René Springer aus Brandenburg ist mit Katja Kipping die Parteichefin der Linken aus Dresden eingeladen, ebenso wie der Bundesarbeitsminister und westdeutsche Sozialdemokrat Hubertus Heil. Die Unternehmerin Angela Brockmann wirtschaftet im Osten und wird etwas über die Entwicklung aus dieser Perspektive sagen können. Die Medien werden in dieser Runde von Nikolaus Blome vertreten, dem langjährigen Sidekick von Jakob Augstein (Spiegel-Miteigentümer), der erstmal bei Bild war, dann beim Spiegel, dann wieder bei Bild, dann wieder kurz beim Spiegel … und aktuell bei RTL, wo praktischerweise die ehemalige Chefredakteurin von Bild nun Chefredakteurin der Zentralredaktion der Mediengruppe RTL ist.
Nikolaus Blome hält 30 Jahre Wiedervereinigung „eigentlich“ für eine Erfolgsgeschichte. Klar, aber er sitzt eigentlich da, um das „eigentlich“ mal zu besprechen. Wenn man den typischen Westdeutschen in der Runde ausmachen will, dann ist das ganz sicher der Journalist, dieses westdeutsche Komfortlächeln gehört ihm ja nicht exklusiv. Mit diesem Gesichtsausdruck der milden Herablassung sind ganze Heerscharen von Goldgräbern in Nadelstreifen nach der Wende in den Osten geschwappt und haben sich genommen, was nicht festgeschraubt war. Jedenfalls wäre das so eine Geschichte, die der Osten über den Westen erzählt. Plasberg setzt Blome gleich noch die „Westbrille“ auf, die der zweifellos hätte, wie der West-Moderator der ÖR-West-Talkshow grinsend bestimmt.
„Wer 1988 in Bitterfeld gelebt hat, was kann der eigentlich genau vermissen aus dieser Zeit?“, fragt Nikolaus Blome so bauernschlau in die Runde. Und das sind so diese platten Fragen, die einen an Blome regelmäßig zum Verzweifeln bringen. Natürlich war das Leben in Bitterfeld vor der Wende meistens Mist, aber was weiß Blome über Bitterfeld 2020, gar 2010, 2000 oder 1995? Nichts. Er ist der gute Onkel aus dem Westen. Und der fühlt sich noch 30 Jahre nach der Wende wohl in der Rolle des Besserwisserwessis. Unangenehm.
Hubertus Heil sagt etwas Interessantes, er glaubt, dass die Narben der 1990er Jahre viel maßgeblicher sind für das Lebensgefühl der Menschen im Osten heute, als die DDR-Vergangenheit, welche die über 30-Jähigen noch erlebt haben.
Der seltene AfD-Gast
René Springer, Sprecher für Arbeit und Soziales der AfD, hat nach der Wende den Realschulabschluss gemacht, dann seinen Meister in Elektrotechnik, das Abitur nachgeholt, den Master in Politik – Plasberg zählt das alles auf – und der Moderator will nun wissen: „Was fehlt zum Glück?“ Ihm persönlich „nichts“, sagt Springer, aber andere Dinge frustrieren ihn zutiefst, so auch, dass er als Afghanistan-Veteran der Bundeswehr heute mit ansehen müsse, dass die Feinde von einst, jetzt vor den Augen der Soldaten freigelassen würden. René Springer war lange in der SPD, dann überzeugter Nichtwähler und 2014 folgte der Weg zur AfD.
Und da ist dann der alte Plasberg, wie wir ihn über Jahre und aus unsäglich vielen Sendungen von hart aber fair kennen: Natürlich muss er dem unausgesprochenen öffentlich-rechtlichen Vorwahlkampf-Auftrag nachkommen und zieht also die eingangs erwähnte Karte. Natürlich nicht, ohne darzulegen, dass das jetzt keine AfD-Sendung werden solle, jedenfalls gäbe es da einen von der AfD, der „ziemlich Unfassbares“ gesagt hätte. Aber kaum will Springer etwas dazu sagen, Plasberg hatte es ja angesprochen, will der das doch später besprechen und dann hängt es über Springer wie ein Schwert.
Katja Kipping will mehr Respekt für die Lebensleistung der Ostdeutschen. Für den „Wagemut“. Die Treuhand hätte fast alles an Westler verkauft, die Ostdeutschen hätten schlicht kein Geldpolster gehabt. Die Vermögensverteilung wäre heute noch ein Riss auf der Landkarte zum Nachteil des Ostens. Die Kollegen bei Bautzner Senf sollten doch endlich denselben Lohn bekommen wie die im Westen, wo es auch Produktionsstätten gäbe, führt Kipping beispielhaft an.
Spiegel, Bild, RTL, Plasberg nennt Blome „wechselfreudig“ wo er vielleicht lieber profillos oder gar entbehrlich sagen will, aber sich nicht traut. Der fragt dann Frau Kipping, ob ihr Parteifreund Bodo Ramelow denn nun ein Ossi oder ein Wessi sei, denn er käme ja aus dem Westen, sei aber nun schon dreißig Jahre im Osten unterwegs.
Die Vermessung der Kluft zwischen Ost und West
Natürlich gäbe es Biografien, die nicht klar zuzuordnen seien, findet Kipping. Und setzt gleich noch nach: Bodo Ramelow wäre ja ein „Ausnahmepolitiker“, weil ihn heute so viele als Stimme des Ostens verstehen würde. „Lassen sie uns die Bodo-Ramelow-Festspiele an der Stelle beenden“, fordert da schon Plasberg, „Na klar“, lenkt Kipping brav ein, ihre fünf Minuten Ruhm der Sendung sind noch nicht an der Reihe, kommen aber später, wenn es gegen den AfD-Mann geht, soviel sei verraten.
Hubertus Heil sieht im Osten eine „Generation auf dem Vormarsch“, die Hoffnung macht, dass sich an der immer noch geringen Quote von Ostdeutschen in Führungspositionen bald etwas ändert. Heil schätzt, dass man diese Frage wohl in fünfzehn Jahren gar nicht mehr stellen muss. Zu optimistisch?
Die Vermessung der Kluft zwischen Ost und West geht dann so weiter: Die Ostdeutschen würden seltener in Eigenheimen wohnen und viel weniger Vermögen besitzen. Das allerdings täuscht darüber hinweg, dass es quantitativ dennoch deutlich mehr Westler in Mietwohnungen und ohne Vermögen gibt als Ostdeutsche. Wer fragt diese sogar im vermeintlich goldenen Westen Gescheiterten eigentlich? Wem sollen diese Verlierer die Schuld an ihrem Schicksal geben? Der Wende geht ja schlecht.
René Springer vermisst nach wie vor die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl für den Osten versprochen hat. „Wenn 80 Prozent der Altenpfleger im Niedriglohnsektor arbeiten, dann kann man da nicht von blühenden Landschaften reden“, so der Bundestagsabgeordnete. „Vernünftige Qualifikation, vernünftige Bezahlung“, das würde immer noch fehlen.
Katja Kipping ist weiter merkwürdig flügellahm, schlechten Tag erwischt? Richtig wach wird sie dann erst gegen den AfD-Bundestagsabgeordneten, muss ihm das Abstimmungsverhalten der AfD in Fragen (welche die Menschen im Osten betreffen) allerdings vom Zettel ablesen.
Beinahe lustig dann Hubertus Heil, der zwischen Kipping und Springer sitzt, nach beiden Seiten austeilt und so tut, als wäre alleine die SPD der große Anpacker, wenn sie nur dürften. Aber wer verwehrt es ihnen eigentlich? Wo sind die großen Bemühungen der GroKo für den Osten, wo der Anteil der Sozialdemokratie?
Ost-Unternehmerin Angela Brockmann schaut sich das alles mehr oder weniger entspannt an. Sie musste neulich ein Angebot in Stuttgart abgeben, hat die normalen Preise angesagt, kein Dumping, und hatte nicht einmal Mitbewerber, so konkurrenzlos gut ist offensichtlich noch das Ost-West-Lohngefälle.
Der AfD-Showdown zum Schluss
Und dann kommt Plasberg dahin, wo man den eigentlichen Zweck dieser Sendung vermuten muss. Denn natürlich geht es hier nicht um Mitgefühl für die Deutschen da drüben oder noch besser: füreinander. Der Vorwahlkampf läuft, es geht darum, die AfD einzuhegen. Katja Kipping wird exakt dort wach, wo es darum geht, die starke AfD im Osten zu erklären, die Sendung wird insgesamt an der Stelle erst richtig wach.
Für René Springer sind die falschen Versprechungen ein Grund erst für die Politikverdrossenheit und dann für eine Hinwendung zur AfD gewesen. „35 Prozent der Menschen verdienen heute so wenig, dass sie auf die Grundsicherung im Alter setzen müssen“, weiß Springer, aber es gäbe noch viele andere Probleme, beispielsweise die Russlandsanktionen, die im Osten für „massive Einbußen“ gesorgt hätten.
Plasberg nennt die AfD dann ausländerfeindlich, Springer will sofort wissen, ob er wirklich die AfD meint, der Moderator wischt es aber weg und sagt sarkastisch: „Nein, überhaupt nicht, ich weiß gar nicht, wie ich darauf jetzt komme.“
Es kommt nichts Neues dazu: Angela Brockmann findet ebenfalls, dass die Unzufriedenheit der Nährboden für die AfD sei. Und nun? Die möglicherweise bessere Lösung könnte ja hier sein, die Unzufriedenheit zu bekämpfen über alle Willensbekundungen à la Hubertus Heil hinaus.
Und dann, fünfzehn Minuten vor Sendeschluss, ist AfD-Showdown. Frank Plasberg zieht das dunkelbraune Kaninchen aus dem Hut, Christian Lüth ist an der Reihe und der ist wirklich unerträglich. Erschießen oder vergasen könne man die Ausländer nachher ja immer noch, sagte Lüth gegenüber einer Rechtsradikalen noch als Pressesprecher der AfD. Gestern wurde ihm fristlos gekündigt.
Springer versucht irgendwie zu retten, was definitiv an der Stelle nicht mehr zu retten ist über diesen entsetzlichen Ausfall eines aus der Partei entlassenen, mit seinen Aussagen kriminell gewordenen offensichtlich Rechtsextremen. In der AfD habe Springer unglaublich viele Menschen kennengelernt, die viel getan hätten, um dem Land eine Zukunft zu geben. Es gäbe ein für ihn überzeugendes Parteiprogramm, das offensichtlich auch Menschen überzeugen würde. „Ja, es gibt offenbar Irrläufer wie Christian Lüth und auch andere.“ Das Tribunal fragt weiter: „Wie lange kennen sie Christian Lüth?“
Und hier passiert dann etwas Bemerkenswertes, es ist das erste Mal, dass man als Zuschauer für den Moment ein Gefühl hat, dieses Tribunal wäre in Teilen berechtigt. Aber dann würgt der Küchenpsychologe Frank Plasberg gleich wieder mit einer echten Anmaßung von Westmoderator rüber zum Ostpolitiker ab: „Sie sind ein gerader Charakter, so wie ich Sie heute kennengelernt habe.“
Plasberg spricht gegenüber Springer von einem regelmäßigen Rhythmus, in dem die Einzel(aus)fälle der AfD kämen. Blome behauptet, er kenne Lüth schon länger, und ihn würde das nicht so sehr überraschen. Worauf er das stützt, mag er nicht näher sagen. Aber dann ist es in dem Moment für den Zuschauer nichts wert. Und Hubertus Heil fügt den „Fliegenschiss der deutschen Geschichte“ von Gauland an.
Springer erwähnt an der Stelle, dass die AfD als Oppositionsführer das erste Mal in diesem Jahr überhaupt bei Plasberg eingeladen ist. Und irgendwann nachdem Hubertus Heil die AfD in Grund und Boden reden konnte auf Basis der Steilvorlage von Lüth, aber ohne Unterbrechung von Plasberg, scheint der Moderator seinen öffentlich-rechtlichen Auftrag erfüllt zu sehen und wendet sich wieder dem Thema der Sendung und den Menschen im Osten zu. Selten noch war es so offensichtlich wie in diesem Moment. Das Licht geht wieder an.
Ein lustiger Moment noch zum Schluss: „Herr Blome wird im Fernsehen dafür bezahlt auf Knopfdruck zu funktionieren.“, sagt ausgerechnet Frank Plasberg, der in den vergangenen fünf Jahren auf eine Weise funktioniert hat, die sicherlich ebenfalls einiges zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen haben dürfte.