Tichys Einblick
Anne Wills allerletzte Show

Habeck auf den Spuren der „Wirklichkeit“

Die allerletzte Sendung von Anne Will mit doch nur vier statt fünf Gästen. Einer von ihnen verbraucht dafür die doppelte Redezeit: Robert Habeck. Seine Einsichten über die „Wirklichkeit“ füllen die Sendung, ohne dass er selbst Einsichtsfähigkeit erkennen lassen würde. Er spielt mit Wörtern und nimmt das für die Lösung.

Screenprint: ARD / Anne Will

Gleich drei farbenfrohe Blumensträuße bekommt Anne Will am Ende ihrer allerletzten Sendung: Nach 16 Jahren und mehr als 530 Talkrunden hört Anne Will auf und übergibt ihren Sendeplatz an Caren Miosga. Viele Gäste scheint sie an diesem besonderen Abend allerdings nicht zusammenbekommen zu haben: Nur vier Personen sitzen im Studio, eine davon ist die Politikwissenschaftlerin Florence Gaub. Die kann man gar als Stammgast von Will bezeichnen, so oft wie sie auf Wills Sesseln saß. Entsprechend darf sie nicht in Wills letzter Sendung fehlen. Sie bekommt allerdings keine Blumen. Und auch nicht wirklich viel Redezeit. Denn Robert Habeck (Grüne) hat großen Redebedarf.

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Der Wirtschaftsklimaminister und Vizekanzler versucht allen zu verdeutlichen, dass „wir“ von der „Wirklichkeit“ umzingelt seien. Eine „wohlige Naivität“ dürften „wir“ uns nicht mehr leisten. Damit meint er aber nicht, dass zum Beispiel seine Wärmepumpen-Pläne nicht aufgehen können, sondern dass „wir“ uns darauf einstellen müssten, der Ukraine mehr zu helfen. Will versucht herauszufinden, wer dieses „Wir“ sei, aber das weiß Habeck anscheinend selbst nicht so genau: Die Meinungen in einer „offenen Gesellschaft“ unterscheiden sich natürlich, meint er. Dann probiert er es nochmal anders: Die Ukraine zu unterstützen, empfindet er als seine „persönliche Verpflichtung“.

Immerhin sitze er im „gut beheizten Studio“, während ukrainische Soldaten in kalten Schützengräben kämpfen müssen. Ein Glück, dass Wills Studio nicht mit einer Wärmepumpe beheizt wird: Dann hätte es Habeck wahrscheinlich nicht so gemütlich warm. Aber in dieser Wirklichkeit scheint er noch nicht angekommen zu sein.

Habeck gibt sogar selbst zu, dass er und seine Koalition die Wirklichkeit noch nicht voll in die politische Debatte integriert haben. Aber die letzten zwei Wochen hätten ihn seiner Aussage nach „aufgeweckt“. Und nun betont er: „Die Wirklichkeit ist eine andere geworden“. Zumindest auf EU-Ebene, auf der „fundamentale Annahmen“ nicht mehr stimmen, wie er es ausdrückt. Um seine Aussage zu übersetzen: Die Einzelstaaten der Europäischen Union machen alle ihr eigenes Ding und sind selten einer Meinung. Darum findet Habeck, dass die EU ihre Verfassung ändern muss. Diese pralle derzeit an der „Wirklichkeit“ ab: Dazu gehöre beispielsweise der Krieg in der Ukraine, mit dem sämtliche Einzelstaaten unterschiedlich umgingen.

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Seiner Meinung nach braucht eine globale Welt klare Regeln statt Brutalität und Machtinteressen. Er fordert also Einigung auf EU-Ebene. Gleichzeitig ist er allerdings auf nationaler Ebene nicht sicher, dass er sich mit dem Rest der Regierung bezüglich des Haushalts einigen wird: Er betont zwar, dass er „optimistisch“ sei, dass es zu einer Einigung kommen werde, kann aber nicht ausschließen, dass es keine geben wird. Was fehlt bei soviel vorgespielter Einsichtsfähigkeit: Dass sich auch die Wirklichkeit geändert hat, in der er und seine Partei sich bewegen. Dass ökonomische Zwänge regieren und grüne Phantasien beschneiden. Dass die Energiewende ausgeträumt, gescheitert ist. Aber das wäre zu viel verlangt. Habecks Rezept lautet nur „mehr von demselben“, obwohl gerade das Rezept seine Unwirksamkeit bewiesen hat. Er fühle sich „umzingelt von Wirklichkeit“, sagt er. Ist er aus der Welt der Träume in der Realität gelandet?

Europäische Einigkeit fordert ebenso der Schriftsteller Navid Kermani: Seit der Finanzkrise funktioniere die EU nicht mehr, findet er. Darum plädiert er für ein „demokratisch legitimiertes Europa“ und meint, dass die EU „attraktiver“ werden müsse. Vor allem solle die EU eine eigenständige Position entwickeln, statt sich den Vereinigten Staaten oder China anzupassen: Auf die wirke der Krieg in der Ukraine „fundamental anders“ als auf Europa. Generell braucht es Kermanis Meinung nach ein Umdenken. Auch beim Nahost-Konflikt:

In Nahost muss laut Kermani an ein „Danach“ gedacht werden. Er meint, dass in Nahost seit 30 Jahren versäumt wurde, eine Lösung für den Konflikt zwischen Israel und Palästina zu finden. Dass aktuell weder Israelis noch Palästinenser die Perspektive der anderen Seite einnehmen können, kann Kermani nachvollziehen. Er findet jedoch, dass Außenstehende mit beiden Seiten empathisch umgehen und über Szenarien nachdenken sollten, die den Konflikt im Gaza-Streifen lösen könnten.

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Der Historiker Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum, stimmt Kermani zu: Auch er ist der Meinung, dass es vor Ort schwierig sei, Friedensoptionen zu sehen. Deswegen müsse aus der Entfernung nach Lösungen gesucht werden. Er hat allerdings den Eindruck, dass sich nur Wenige trauen, über Lösungen nachzudenken oder solche Ideen auszusprechen, weil das schnell Empörung auslöse.

Gaub lässt die Meinungen von Gross und Kermani nicht so stehen: „Den Konflikt müssen die beenden, die ihn selbst erleben“, meint sie. Sie glaubt, dass Israel und Palästina irgendwann fähig sein werden, den Krieg „ultimativ“ zu beenden. Das werde allerdings nicht in den nächsten Wochen geschehen. Eine große Chance sieht Gaub in einem Regierungswechsel in Palästina: Dann sei der Weg frei für Gespräche, meint sie.

Zu Wills Abschied am Ende der Sendung sagt Gaub dann aber nichts. Vielleicht ist sie ganz froh, dass sie ihre Sonntagabende nun auf ihrem eigenen Sofa verbringen kann statt auf Wills Sessel. Außer Caren Miosga, Wills Nachfolgerin, lädt Gaub auch ständig zu sich in die Sendung ein. Gross und Kermani waren das erste Mal als Gast bei Anne Will. Und entsprechend auch das letzte Mal. Trotzdem bedanken sie sich und bekunden ihren Respekt vor Will und ihrer Sendung. Auch Habeck bedankt sich für die „16 Jahre Aufklärung“ – die ihn der tatsächlichen Wirklichkeit noch nicht sehr viel näher gebracht zu haben scheinen.

Mit Will tritt eine Repräsentantin der Ära Angela Merkel ab. Diese Phase der Politik, für deren Höhepunkt und Ende gleichzeitig Robert Habeck statt,  muss jetzt mühsam weggeräumt, die Trümmer beseitigt, ein Neuanfang geschafft werden. Ob Karen Mioska dafür die Kraft hat oder nur mehr von gestern liefert?

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