„Gelogene Lügen?“, fragt verdutzt der Medien-Fachdienst turi2.de – ob der Chuzpe des langjährigen Spiegel-Redakteurs Claas Relotius, der einen bekannten Medien-Anwalt beauftragt hat, eine juristisch angelegte Offensive gegen den „Enthüller“ (Bild) Juan Moreno zu starten. Nun schlägt der überführte Betrüger also offensichtlich zurück.
Im Zuge seiner Retourkutsche will Relotius offenbar erreichen, dass dem Spiegel-Reporter Moreno gerichtlich verboten wird, in seinem neuen Buch („Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“) 22 Passagen nicht mehr zu verbreiten. Weil sie angeblich nicht der Wahrheit entsprechen. Spöttisch könnte man vorab fragen: Gibt es keine weiteren angeblichen Fehler? Lässt sich auf den anderen 263 Seiten des Buches rein gar nichts finden?
Nicht wenige linke Medienmacher würden dem Scharlatan, der sich Journalist nennt, wohl nur allzu gerne – wieder – glauben, wenn er mit steilen Behauptungen versucht, den „Whistleblower“ Moreno so zu diskreditieren, dass dessen Glaubwürdigkeit und damit auch seine wirtschaftliche Existenz womöglich auf Dauer erschüttert oder gar vernichtet werden.
Juan Morenos Buch: Von den Medien in höchsten Tönen gelobt
Dieses Buch, das als Paperback am 17. September 2019 erschienen ist und Ende September auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste landete, beschreibt die Geschichte einer „beispiellosen Fälschung“ („Rowohlt Verlag“). „Jahrelang lieferte ein Reporter des ‚Spiegel’ Reportagen und Interviews, die – ganz oder zum Teil – erfunden waren.“
Einige der gänzlich oder teils von Relotius ausgedachten Storys sind freilich auch in anderen Medien abgedruckt worden, so bei der Nachrichtenagentur „dpa“, der „FAS“, der „NZZ“, der „SZ“, der „taz“, der „Zeit“ oder beim „Cicero“. Für seine Märchen, die Relotius über etliche Jahre verbreiten konnte, hat der einzigartige Story-Teller viele renommierte Journalisten-Preise erhalten. Hochrangige Juroren – von Claus Kleber bis Ines Pohl – waren dem Hochstapler immer wieder auf den Leim gegangen.
Eine der zweifelhaften Auszeichnungen war der „CNN-Journalistenpreis“ („Journalist of the Year“) im Jahre 2014 – also just in dem Jahr, als in Deutschland der Begriff „Lügenpresse“ zum „Unwort des Jahres“ gekürt wurde. Inzwischen ist der Name „Relotius“ – zumindest in liberalen oder konservativen Medien – zu einem Synonym für das Wort „Lügenpresse“ geworden.
Im September waren die Medien voll des Lobes über das Enthüllungsbuch Morenos, der auch schon die Biographie „Uli Hoeneß. Alles auf Rot“ geschrieben hat. Die Augsburger Allgemeine etwa lobte: „Es sind vor allem die Auszüge aus Mails, die Wiedergabe von Telefonaten und von Treffen der Beteiligten in Morenos Buch ‚Tausend Zeilen Lüge’, die in einen Abgrund blicken lassen.“
Die Süddeutsche Zeitung meinte, das Werk sei „spannend, aber nicht voyeuristisch, klug, aber nicht besserwisserisch“. Die Welt am Sonntag rezensierte, Morenos Buch sei „keine Anklage, sondern ein journalistischer Krimi und eine kluge Reflexion über den Journalismus“. Und selbst die taz gab sich schier euphorisch. Der Autor sei „gegen den Strom geschwommen – und macht Hoffnung.“ Weiter hieß es dort: „Juan Moreno, ‚Spiegel’-Reporter und Whistleblower im eigenen Haus, hat einen der größten Skandale in der Geschichte des deutschen Journalismus aufgedeckt.“
Nun klagt der Fälscher gegen den ehemaligen Kollegen, der ihn enttarnte
Kein Scherz: Jetzt hat ein Medienanwalt namens Schertz – der bereits den umstrittenen Skandal-Satiriker Jan Böhmermann vertreten hat und wegen seiner „fortschrittlichen“ gesellschaftspolitischen Verdienste auch schon kooptiertes Mitglied im grünrot positionierten Präsidium des „Evangelischen Kirchentages“ geworden ist – von Relotius den Auftrag bekommen, den Reporter Moreno in die Bredouille zu bringen.
Dieser Rechtsbeistand behauptet, Morenos Buch vermittele „eine Authentizität des Berichts, die die Geschichte offenbar nicht hat“. Christian Schertz bezichtigt den Autor also zumindest teils der Lüge. Allerdings tut er das punktuell eher mit vorsichtigen, oft schwammig formulierten Worten, die bisweilen weit interpretierbar sind. Die Zeit hat diese Vorwürfe als erste Zeitung in einem groß aufgemachten Online-Artikel öffentlich gemacht.
Andere, zumeist links ausgerichtete, Blätter haben die Anschuldigungen sofort aufgegriffen. Die SZ etwa schreibt nun, dem Verlag Morenos – also dem Verlagshaus Rowohlt Berlin – sei ein „Abmahnschreiben“ zugegangen. Hier werde von Moreno gefordert, eine Unterlassungserklärung abzugeben. Man werde Klage einreichen, wenn dies nicht geschehe. Der Meldung der Zeit zufolge hat Claas Relotius großmundig erklärt, er müsse „keine (…) Falschbehauptungen hinnehmen“.
Der Kläger will also zunächst das Enthüllungsbuch in Misskredit bringen und dabei erreichen, dass es mindestens teilweise eingestampft wird. Schlimmer noch: Bei der Retourkutsche soll die Glaubwürdigkeit des Rechercheurs in Misskredit gebracht werden. Vertrauen aber ist das wichtigste Kapital besonders eines „Freien Journalisten“ – und genau das ist Juan Moreno –, den man jederzeit von seinen Aufgaben entbinden kann. Aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls wäre das ein harter Schlag für den Reporter, der als Sohn armer andalusischer Bauern geboren wurde.
Anders formuliert: Die wirtschaftliche Existenz des Enthüllungsjournalisten – der schon über weite Strecken seiner Recherchearbeiten immer wieder Gefahr lief, dass man dem Betrüger auf Dauer glauben würde und nicht dem nach Wahrheit strebenden Enthüller – steht auf dem Spiel.
Was soll man von Relotius’ aktuellen Vorwürfen halten?
Von den 22 inkriminierten Textstellen des Buches seien hier zunächst zwei exemplarisch vorgestellt:
- Relotius kritisiert zum Beispiel, dass Moreno schrieb, Relotius sei „jeden Tag“ mit Kollegen zum Mittagessen gegangen. In Wirklichkeit sei er aber auch manchmal alleine zum Essen gegangen. Eine seltsame Kritik. Wer die Kantinenkultur hierzulande kennt, weiß, dass selbst der Kollege mal allein in die Kantine eilt, der sonst grundsätzlich mit anderen Kollegen zum Mittagessen geht. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel?
- Laut Zeit positioniert sich Relotius aktuell so: „Ich muss keine unwahren Interpretationen und Falschbehauptungen von Juan Moreno hinnehmen. Ohne mich persönlich zu kennen oder mit Menschen aus meinem näheren Umfeld gesprochen zu haben, konstruiert Moreno eine Figur.“ Klingt noch seltsamer. Moreno beschreibt in seinem Buch völlig überzeugend, dass er mehr als hundert mal mit dem Scharlatan persönlich geredet, telefoniert sogar in einem Team zusammen gearbeitet hat. Da soll er ihn nicht „gekannt“ haben?
Ein drittes Beispiel
Besonderen Eindruck schinden will der Täter, der sich heute als Opfer ausgeben will, damit, dass er die Schlusspassage des Buches zu diskreditieren sucht. Hier geht es darum, dass Relotius, nachdem seine jahrelangen Fälschungen aufgeflogen waren, sich angeblich in eine Klinik in Süddeutschland begeben hat, um seine „Krankheit“ behandeln zu lassen.
Der Fälscher hatte vorher behauptet, seine vielfältig-bunten Märchen seien darauf zurückzuführen, dass er „krank“ gewesen sei. Diese letzten Absätze lauten in Morenos Buch wörtlich (mit den Absätzen) so:
„Ein Kollege im ‚Spiegel’ erreichte Relotius einige Monate nach Ende des Skandals. Relotius behauptete, dass er gerade in einer Klinik in Süddeutschland sei. In Behandlung. Ihm werde da geholfen. Die Ärzte würden Fortschritte sehen. Es sei ihm immer nur darum gegangen, die Kollegen, seine Freunde, nicht zu enttäuschen. Das sei das Wichtigste überhaupt.
Tags darauf traf dieser Kollege eine ‚Spiegel’-Sekretärin. Die Frau hatte Relotius gerade auf dem Fahrrad gesehen.
In Hamburg.“
Zu diesen Schlussabsätzen sagt der Anklage-Jurist einen Satz, der verschiedene Interpretationen zulässt: „Die Szene hat es so nie gegeben.“ Die Szene hat es „so“ nicht gegeben? Doch grundsätzlich gab es diese „Szene“ doch? Hier kommen neue Zweifel auf.
Hat Relotius vielleicht gar nicht auf dem Fahrrad gesessen? Hat er den Drahtesel nur geschoben? Ob der „Kranke“ nun mit oder ohne Bike in Hamburg gewesen ist – wie konnte er gleichzeitig in einer süddeutschen Klinik kuren? Werden hier schon wieder ganz neue Märchen erzählt?
Den entscheidenden – und vielfach sorgfältig belegten – Vorwurf Morenos („Relotius hat alle belogen. Immer und immer wieder“) bestreiten Relotius und sein Rechtsvertreter dagegen nicht. Das spricht Bände.
Juan Moreno selbst hat in einer Stellungnahme gegenüber der Zeit dem Verdacht, nicht sauber gearbeitet zu haben, klar widersprochen. Und der Rowohlt Verlag steht hinter seinem Autor Moreno. Das Berliner Verlagshaus hat eine Anwältin eingeschaltet: Das Vorgehen Relotius’ sei ein „Versuch, mit Randfragen und Nebenschauplätzen den Reporter Moreno zu diskreditieren“, heißt es dort.
Thilo Sarrazin lässt grüßen
Die Angriffe auf Juan Moreno erinnern an die Attacken, die seinerzeit gegen den Autor Thilo Sarrazin gefahren wurden, als er beispielsweise seinen Bestseller „Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ veröffentlicht hatte. Tichys Einblick hat ausführlich darüber berichtet.
Sarrazin konnten keine gravierenden – inhaltlichen – Fehler nachgewiesen werden. Wohl aber eine Handvoll Druckfehler, die der Lektor anscheinend übersehen hatte. Doch alle Kenner wissen: In fast jeder Ausgabe einer Zeitung oder eines Buches lassen sich leider ein paar Druckfehler finden. Den Druckfehlerteufel hält niemand dauerhaft in Schach.
Der „Dank“ des Spiegels hält sich in engen Grenzen
Auf welche Weise belohnte der Spiegel-Verlag den Reporter Moreno, der in den Augen der FAZ den Spiegel gerade noch rechtzeitig vor einer noch viel größeren Katastrophe „gerettet“ hat? Nun ja, der langjährige freie Mitarbeiter ist immer noch nur „fester Freier“ beim angeblichen „Sturmgeschütz der Demokratie“ (Rudolf Augstein). Eine Redakteursanstellung wird ihm weiterhin verwehrt.
Darüber, auf welche Art Moreno für seine Enthüllungen (nicht) belohnt wurde, hat sich auch die FAZ Gedanken gemacht. Auf der Frankfurter Buchmesse hat die Tageszeitung Moreno gefragt, ob ihm der Spiegel nach der Enthüllung des Skandals eine Festanstellung angeboten habe. Die Antwort des Reporters: „Nein“. „Er hätte, sagte Moreno, ein solches Angebot vermutlich angenommen“ (FAZ). Manchmal sagt man mit wenigen Worten viel.