Am Sonntag diskutierten Journalisten im ARD-Presseclub unter der Moderation von WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn über die Frage: „Feindbild statt Volkspartei: Woher rührt die Wut auf die Grünen? Die Formulierung mutet schon auf den ersten Blick etwas merkwürdig an. Für den Status einer Volkspartei gelten üblicherweise zwei Kriterien, eine inhaltliche und eine quantitative. Zum einen gehören Parteien in diese Kategorie, die verschiedene Milieus in ihrer Mitgliedschaft vereinen, zum anderen beginnt eine Volkspartei nach landläufiger Vorstellung ab 20 Prozent Wählerzuspruch. Die Grünen erfüllen keine der beiden Merkmale, weder auf Bundesebene noch in Bayern und Hessen, den Ländern, in denen am kommenden Sonntag Landtagswahlen anstehen. Außerdem kann auch eine Volkspartei durchaus ein Feindbild für andere darstellen, genauso wie eine Nichtvolkspartei. Der Ankündigungstext der ARD führt Klage über die große Zahl von Attacken auf die Grünen; dabei bezieht sich der Sender auf das erste Halbjahr 2023.
„Auf keine andere Partei gab es in den ersten sechs Monaten des Jahres so viele Angriffe wie auf Vertreter der Grünen“ heißt es dort, wobei es bei dem, was der Sender unter „Angriff“ versteht, munter durcheinander geht. Der Beitrag auf der WDR-Webseite zählt folgendes auf:
„Das Grünenspitzenkandidatenduo Schulze und Hartmann wurde im bayrischen Wahlkampf mit einem Stein beworfen. Ähnlich erging es auch dem grünen Landwirtschaftsminister Özdemir. Der Protest artikulierte sich so lautstark, dass er erst zwei Stunden später im bayrischen Bierzelt auftreten konnte. Auf Videos ist zu sehen, wie die Bühne von Polizisten gesichert werden musste. Noch härter trifft es allerdings den grünen Wirtschaftsminister Habeck, der in den sozialen Netzwerken als ‚Kriegstreiber‘ und ‚Landesverräter‘ bezeichnet wird. In Wernigerode haben Bürger dagegen protestiert, dass sich Habeck ins goldene Buch der Stadt eintragen soll. ‚Verbrecher‘ hätten da nichts zu suchen. Ähnliche Anfeindungen bekam auch Katrin Göring-Eckhard auf ihrer Sommertour zu hören, als sie in Dessau als ‚grüner Müll‘ beschimpft wurde. Wie kommt es zu derartigen Entgleisungen? Welchen Einfluss hat es, wenn die Parteivorsitzenden der Union, Merz und Söder, die Grünen zu ihrem Hauptgegner in der Regierung erklären? Selbst der liberale Koalitionspartner FDP spart nicht mit Kritik und hat die Grünen wegen ihrer Haltung in der Migrationspolitik als ‚Sicherheitsrisiko‘ bezeichnet. Erklärt das die Eskalation oder haben sich die Grünen diese Anfeindungen selbst zuzuschreiben, weil sie gerade beim Heizungsgesetz bewiesen haben, dass sie viel zu wenig Rücksicht auf die Stimmungen und Ängste in der Bevölkerung nehmen? Inzwischen hat die Partei viele ihrer Kernforderungen geräumt, doch der Zorn bleibt. Welche Leistungsbilanz haben die Grünen in der Ampel vorzuweisen und was können sie politisch überhaupt noch bewirken?“
Der Steinwurf eines Alkoholisierten auf das bayerische Spitzenduo der Grünen bei einer Veranstaltung in Neu-Ulm am 20. September, der beide nicht traf und bei dem folglich niemand verletzt wurde, steht bei der ARD gleichrangig neben mitunter auch grober Kritik von Bürgern und verbalen Attacken politischer Konkurrenten, die umgekehrt natürlich auch von den Grünen ausgehen. Es handelt sich mithin um das bei den Öffentlich-Rechtlichen nicht seltene Eintopfgericht, bei dem es gerade nicht darum geht zu unterscheiden, sondern vielmehr alles und jedes in einem Kessel zu einer amorphen Masse zu verrühren.
Wobei: völlig amorph nun auch wieder nicht. Mit einem Einspieler, der Aussagen von Friedrich Merz und Markus Söder zeigt, erfolgt die entsprechende Rahmensetzung, neusprachlich Framing: Weil die Unionsparteien nicht mit den Grünen zusammenarbeiten möchten, tragen sie die Schuld daran, dass den Grünen zurzeit in bayerischen Bierzelten eine unfreundliche Stimmung entgegenschlägt: „Keine andere Partei war 2023 so häufig von Angriffen betroffen wie die Grünen. Welchen Einfluss hat es, wenn die Parteivorsitzenden der Union, Friedrich Merz und Markus Söder, die Grünen zu ihrem Gegner erklären und eine Zusammenarbeit mit ihnen ablehnen?“
Bei der ARD und einer ganzen Reihe verbündeter Medien kommt allerdings gar nicht erst die Frage auf, weshalb die Union eine Partei mit offenen Armen als potentielle Partner begrüßen sollten, die umgekehrt in den vergangenen Monaten kaum eine Gelegenheit ausließ, CDU und CSU als rechten und eigentlich nicht satisfaktionsfähigen Rand zu schmähen.
Die grünenunfreundliche Bürgerstimmung in Bayern könnte auch daran liegen, dass sich noch viele an den Satz der Spitzenkandidatin Katharina Schulze erinnern: „Der Handel muss für die Ungeimpften endlich geschlossen werden.“ Und natürlich auch an dem Heizgesetz. Beziehungsweise an der Rhetorik, mit der es die Grünen in einem Land mit vielen Hausbesitzern begründen. Auf die Frage, was er besonders älteren Eigentümern empfiehlt, die weder über ausreichend Rücklagen zum Einbau einer Wärmepumpe noch über Zugang zu Bankkrediten verfügen, fiel dem Landtagsfraktionschef der Grünen Ludwig Hartmann im Frühjahr nur ein: „Ich empfehle mit dem Kaminkehrer zu sprechen: Wie alt ist die Heizung? Wann muss man etwas tun?“
Die Geschichte von den hassbedrängten Grünen und der Schuld von Union und verhetzten Bürgern an diesem Zustand beschäftigte nicht nur den Presseclub der ARD, sondern auch andere Formate und Medien von Tagesschau bis Tagesspiegel in nahezu identischen Artikeln.
Wobei beim Tagesspiegel schon einmal aus dem einen Stein Richtung Grüne Spitzenkandidaten in Neu-Ulm „Steine“ werden. Auch Katharina Schulze bevorzugte bei einer Grünen-Veranstaltung am Wochenende den Plural: “Da können andere noch so viel Triller pfeifen, Steine werfen, uns mit Hass überschütten im Netz – wir weichen nicht”, sagte Schulze.
Körperliche Angriffe auf Politiker gehören selbstredend immer geächtet, egal, gegen wen sie sich richten und von wem sie kommen. Auf Nachfrage zu der Presseclub-Sendung beruft sich der WDR auf eine Polizeistatistik, die Beschädigungen von Wahlplakaten, Angriffe auf Parteieinrichtungen und Attacken auf Politiker aller Bundestagsparteien im ersten Halbjahr 2023 zusammenfasst. Allerdings vertiefte sich offenbar niemand im Sender tatsächlich in das Zahlenmaterial, das aus einer Anfrage von AfD-Bundestagsabgeordneten stammt. Denn die Auflistung aus den Staatsschutzstellen der Landeskriminalämter enthält eine Überraschung, die – sehr vorsichtig gesagt – nicht im Geringsten zur Rahmensetzung der Sendung passt. Auch nicht zur Ausrichtung der meisten wohlmeinenden anderen Beiträge über die bedrängten Grünen.
Was zunächst die Beschädigung von Plakaten angeht: Hier traf es auch im ersten Halbjahr 2023 nach wie vor am häufigsten die AfD (132 Fälle), danach die Grünen (121), die Union ((108), die SPD (98), die FDP (48) und zuletzt die Linkspartei (48). Bei Attacken gegen Parteirepräsentanten liegen tatsächlich die Grünen und SPD vorn (301 beziehungsweise 153 Fälle), ziemlich dicht dahinter die AfD mit 121. Gegen FDP-Politiker gab es laut Statistik 80 Angriffe, gegen Mitglieder der Unionsparteien 58, gegen Linksparteimitglieder 26.
In der Rubrik „Angriffe auf Büros und Geschäftsstellen“ stehen die Grünen wieder ganz oben mit 129 registrierten Fällen, am zweithäufigsten richtete sich Vandalismus gegen SPD-Einrichtungen (58), danach folgen Anschläge auf Büros der AfD (38), der Linken (30) und der Union (18).
Hier gibt es aber ein Phänomen, das weder der Presseclub noch Spiegel, Süddeutsche und andere auch nur streifen: Fast 90 Prozent der Attacken gegen grüne Einrichtungen, die sich politisch zuordnen lassen, kommen: von links. Nämlich exakt 50, während die Polizei nur 5 Beschädigungen grüner Büros dem rechten Spektrum zuschreibt. In 74 Fällen lassen sich die Verursacher nicht eindeutig ausmachen. (Im Fall der AfD kamen fast alle zuordenbaren Attacken von links, eine aus dem Feld „ausländische Ideologie“).
Selbst die direkten Angriffe auf Politiker der Grünen und der SPD stammen nicht alle aus dem Gebiet mit der polizeiamtlichen Bezeichnung „rechts“: Gegen grüne Repräsentanten wurden linke Täter dreimal, gegen Vertreter der SPD zweimal handgreiflich. Dafür, dass Linksaußen-Täter bei politisch zuordnungsfähigen Angriffen auf grüne Parteibüros die übergroße Mehrheit stellen, lassen sich selbst bei der größten ideologischen Verrenkung nicht Merz, Söder und überhaupt rechte Kräfte zu Verantwortlichen stempeln. Gleichzeitig weisen diese Zahlen auf eine Erscheinung hin, die in der Berichterstattung so gut wie nie eine Rolle spielt: Vor allem die Grünen, aber auch die SPD fördern seit Jahren ein politisches Vorfeld, das sich in seiner zunehmenden Radikalität nicht nur gegen ihre erklärten Feinde, sondern zunehmend auch gegen ihre Gönner richtet. Denn bei „Letzter Generation“, „Extinction Rebellion“ und den verschiedenen Spielarten der Antifa gelten selbst kleinste Kompromisse als Verrat, etwa die grüne Zustimmung zur Abbaggerung in Lützerath, die vorsichtige Andeutung, beispielsweise Georgien als sicheres Herkunftsland einzuordnen, im Fall der SPD die Ankündigung, die Bundeswehr etwas besser auszustatten oder deren Entscheidung, in Berlin lieber mit der CDU als mit den Grünen zu regieren.
Im Januar 2023 etwa zog eine linksradikale sogenannte Spontandemo durch Leipzig, die Teilnehmer warfen die Scheibe eines grünen Büros ein, beschmierten ein anderes mit Graffiti und zwar, wie die Grünen selbst mitteilten, im Zusammenhang mit der Lützerath-Räumung. Bei einer anderen Sachbeschädigung an zwei Leipziger Grünen-Abgeordnetenbüros im Juli 2023 landete rote Farbe an den Scheiben und die Täter klebten Plakate mit der Aufschrift „Feministische Außenpolitik in Aktion“. Auch das sah nicht gerade nach einer Attacke von rechts aus. Der MDR berichtete deshalb von „Unbekannten“ als Täter. In Fällen wie diesen gibt es generell nur kleinere und gedämpfte Medienberichte ohne Verweis auf Hintermänner beziehungsweise -personen. Auch die Geschädigten selbst reagieren bemerkenswert milde, etwa der Leipziger SPD-Politiker Holger Mann, dessen Büro schon 2022 beschmiert wurde und zwar in Zusammenhang mit der Einrichtung des Bundeswehr-Sondervermögens.
Er antwortete in Ansehung der Richtung, aus der dieser Gruß kam, fast schon devot, indem er twitterte: „Statt Farbanschlägen auf Abgeordnetenbüro offene Gesprächsangebote nutzen!“
Die den Grünen wohlgesonnenen Medien sparen die Frage nach den Tätern auffallend oft aus oder bleiben vage, beispielsweise die Süddeutsche im August 2023 in einem Bericht über Anschläge auf Parteibüros in Berlin:
„Etwa jeden zweiten Tag wird in Berlin eine Attacke auf Politiker oder auf Parteibüros verübt. Das geht aus einer aktuellen Statistik der Polizei hervor. Demnach zählte Berlin im ersten Halbjahr 38 Angriffe auf Parteieinrichtungen – 20 mehr als im Vorjahreszeitraum (Gesamtjahr 2022: 61). Fast immer ging es um den Verdacht der Sachbeschädigung, am häufigsten traf es Büros der Grünen (18) und der SPD (9).“
Auch im Presseclub spielte es keine Rolle, unter welchem selbst geförderten Druck von Linksaußen sich die Grünen befinden. Jörg Schönenborn forderte dort Peter Müller von der Augsburger Allgemeinen auf, er sollte einmal „diese Bierzeltstimmung“ in Bayern beschreiben. Und Müller berichtete von der „Tonlage“ von „AfD, Freien Wählern und Söder“ gegen die Grünen. Damit werde „ein Umfeld geschaffen, dass ein Stein fliegt“.
Es gibt noch eine zweite Pointe in der Sendungs- und Berichtsserie über die Grünen als Opfer. In der Vergangenheit, beispielsweise in dem für den Vergleich hervorragend geeigneten ersten Halbjahr 2022 trafen sowohl Angriffe gegen Parteieinrichtungen und Übergriffe auf Politiker noch am häufigsten die AfD. Nur bei der Beschädigung von Plakaten lag sie auf Platz zwei – hinter der CDU. Einen Presseclub nach dem Muster „AfD – Feindbild statt Volkspartei“ gab es damals selbstredend nicht. Auch keine Beitragsserien quer durch die Presselandschaft über die AfD als Opfer samt Vermutungen über die Verantwortlichen im Hintergrund.
Im Gegenteil: Als 2019 nie gefasste Täter den AfD-Bundestagsabgeordneten Frank Magnitz krankenhausreif schlugen, überboten sich viele Medienschaffende darin, den Fall herunterzureden und behaupteten, der Politiker habe den Überfall dramatisiert. Das Foto von Magnitz mit Kopfwunde veröffentlichte so gut wie kein Medium.