Tichys Einblick
Nachrichten aus der Parallelwelt

Die Blase aus Politiker und Journalisten ist der Verlierer der Europawahl

Olaf Scholz, die Grünen oder die Linken. Die meisten Wahlverlierer sind benannt. Ein ganz großer Verlierer aber noch nicht. Dabei handelt es sich um ein ganzes Milieu: die Blase derer, die sich in großer Nähe zu Politikern und in Regierungsvierteln bewegen.

picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Es gäbe ein „Problem mit Friedrich Merz“. Die SPD ist erfrischend ehrlich und dem Bündnis Sahra Wagenknecht ist es nicht gelungen, ausreichend Wähler von der AfD fern zu halten. Die sei aber nicht so stark gewesen, wie sie sich erhofft habe. Das sind Teile des Fazits, das Mitarbeiter von Phoenix am Montag nach der Europawahl ziehen. Bestünde die Welt nur aus Phoenix, hätten die linken Parteien diese Wahl gewonnen und seien Wahlen auch nur mit linken Themen zu gewinnen.

Nun gibt es noch ein Deutschland, das Phoenix zum allergrößten Teil nicht erreicht. In diesem Deutschland war die Partei mit dem „Problem mit Friedrich Merz“ die mit Abstand stärkste Partei. Die Partei, die nicht genug gegen die AfD getan hat, hat den größten Zugewinn eingefahren. Und die Partei, die sich mehr erhofft hatte, war die zweitstärkste Partei – und lag zwei ganze Prozentpunkte vor der Kanzlerpartei und vier Prozentpunkte vor den Grünen, die aus der Sicht des Phoenix-Teams die richtigen Themen richtig vertreten.

Phoenix ist eine Parallelwelt, die aus einer Parallelwelt über eine Parallelwelt für eine Parallelwelt berichtet. Doch das ist kein einmaliger Konstruktionsfehler des öffentlich-rechtlichen Spartensenders. Das ist ein Problem des gesamten Milieus, das sich in Regierungsvierteln bildet. In denen Politiker, Journalisten und Lobbyisten gemeinsam arbeiten, sich zusammen engagieren und ihre Freizeit auch noch miteinander verbringen. Wodurch sich die besagte Parallelwelt bildet, in der die immer gleichen Gedanken untereinander ausgetauscht werden, ohne dass neue dazukommen. Was letztlich wie eine Käseglocke wirkt, in der stinkt und schwer verdaulich wird, was da allzu lange rumgammelt.

Ein mustergültiges Beispiel für eine Bewohnerin dieser Käseglocke ist Katarina Barley. Sie war Spitzenkandidatin der SPD bei der Europawahl 2019. Sie holte das schlechteste bundesweite Ergebnis der Partei in der Geschichte der Bundesrepublik. Dafür wurde sie mit dem Amt der Vizepräsidentin des Europaparlaments belohnt und durfte 2024 wieder Spitzenkandidatin der SPD sein – wobei sie erneut das schlechteste Ergebnis aller Zeiten holte. Noch schlechter als 2019. Dafür wird sie jetzt als Präsidentin des Europaparlaments gehandelt. Kein Witz.

Journalisten aus der Bundespressekonferenz wollen von Barley wissen, ob sie mit diesen beiden Niederlagen im Rücken wirklich die geeignete Kandidatin für eine solche Beförderung sei? Barley sagt, jetzt sei nicht die Zeit, das zu verhandeln. Das bedeutet nicht, dass sie nicht Präsidentin werden will. Sie will nur nicht direkt nach der Niederlage darüber sprechen – und schon gar nicht öffentlich. Barley will das im Hinterzimmer ausklüngeln. Ihrer eigentlichen Heimat. Dort werden Karrieren von Apparatschicks gemacht, die jedes Mal befördert werden, egal ob sie historische Niederlagen in Serie einfahren oder die Wähler sie im Wahlkreis ebenso in Serie ablehnen.

Barley sagt dann auch ganz offen, „Europa hat eigene Gesetze“. Also das heißt, sie sagt es so offen, wie eine Bewohnerin einer Käseglocke halt sein kann. Gemeint ist mit diesem Satz, dass nicht der Wähler darüber entscheidet, welche Ämter Barley bekommt. Du kannst der größte Verlierer sein, solange du dich beim Klüngeln im Hinterzimmer durchsetzt, bekommst du das Amt. Das ist das eigene Gesetz in Europa, das Barley meint.

Dem RBB24-Inforadio gibt Barley ein Interview, das einen schönen Blick darauf wirft, wie fortgeschritten mittlerweile die Isolation in der Käseglocke ist: Das Wahlergebnis passe nicht zu der optimistischen Stimmung, die im Wahlkampf geherrscht habe, sagt Barley. Und ihre Stimme drückt das Entsetzen darüber aus, wie schockiert die SPD-Spitzenverliererin darüber ist, dass die Welt außerhalb der eigenen Parallelwelt so anders ist – und so groß.

Vertreter der SPD, ihre Ministerien und ihre Verbände sperren mittlerweile in den sozialen Netzwerken jeden, der nicht ihr Lied singt. Seit Olaf Scholz und andere mit „Hau ab“-Rufen begrüßt werden, sperrt die SPD nicht angemeldete Besucher auf Wahlveranstaltungen aus. Und so kann dann Barley mit Sozialdemokraten an ihrer Seite zu Veranstaltungen ziehen, auf denen dann nur Sozialdemokraten auf sie warten. Plötzlich ist dann die Stimmung so optimistisch, dass eine Kandidatin sich gar nicht vorstellen kann, dass sie schon wieder auf das historisch schlechteste Ergebnis aller Zeiten zusteuert.

Die Lobbyisten holen die Politiker nicht aus der Parallelwelt heraus. Es ist ihr Job sie zu bestärken. Vor allem dann, wenn eine Regierung so großzügig wie die Ampel Steuergeld an mit ihr befreundete NGOs und Unternehmen verteilt. Und die Medien? ARD und ZDF befragen mittlerweile auf der Straße und bei Wahldiskussionen so oft „Bürger“, die sich später als Funktionäre von SPD oder Grünen herausstellen, dass ihre Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit oder gar Neutralität schon zu einem Witz verkommen sind. ARD, ZDF und viele Zeitungen sind nicht die Aufklärer über die Käseglocke. Sie sind die Spielmacher innerhalb der Käseglocke.

Die Abgeordneten wissen von der Käseglocke. Deswegen betonen sie gerne, was sie „in meinem Wahlkreis“ erleben. Nur sind das meist eben inszenierte Realitäten: Parteiveranstaltungen, auf denen Parteifunktionäre einfache Bürger spielen. Firmenbesuche, die nach einem festen Ritual arrangiert sind und in denen auch kritische Anmerkungen ritualisiert sind – den Sprachregelungen aus der Käseglocke angepasst werden.

Das Land tut sich keinen Gefallen damit, wenn es seinen Politikern vor Ort die Luft aus der jeweiligen Käseglocke imitiert – aus Angst die könnten sonst nicht mehr atmen. Der Bürger täte gut daran, den Politikern den ein oder anderen Realitätsschock zu verpassen. Für den Anfang den rund um die Uhr tätigen Fahrdienst in Berlin streichen. Wer einmal acht Stationen mit der U-Bahn hinter sich lässt, der bekommt Eindrücke, die er aus der Parallelwelt Regierungsviertel nicht kennt. Für gutwillige Politiker wäre das eine Sauerstoff-Injektion – für überforderte Politiker allerdings ein Sauerstoff-Schock.

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