Beispiel gefällig? Am 22. Februar 2018 veröffentlichte die „Süddeutsche“ ein Interview unter dem Titel „Generisches Maskulinum – Liebe Leser, das folgende Interview ist auch für Frauen gedacht.“ Interviewpartner war Anatol Stefanowitsch. Er ist seit 2012 Professor für Sprachwissenschaft am Institut für Englische Philologie der Freien Universität Berlin.
In diesem Interview verteidigt Stefanowitsch die Auffassung, dass mit der üblichen deutschen Pluralform Frauen ausgeschlossen seien. Also etwa mit „die Bürger“ die Bürgerinnen nicht mitgemeint seien. Wörtlich sagte der Linguist: „Lange existierte gar keine feminine Form, die von einer maskulinen abgeleitet werden konnte.“ Aber das stimmt nicht, Herr Professor, denn das Deutsche verfügt seit althochdeutscher Zeit, also seit etwa 750 n. Chr., über die Endsilbe -in, im Genitiv -inna (mittelhochdeutsch –în, im Genitiv -inne); im Gotischen (etwa 2. Jahrhundert n. Chr.) ist -î/-ini belegt.
Stefanowitsch zum dritten: Seine Unterstellung von „rassistischen oder behindertenfeindlichen Wörtern“ ist nicht fassbar, denn es gibt keine wissenschaftlichen Kriterien, solche Wörter zu identifizieren. Wer hätte die Legitimation, solches zu definieren? „Rassistisch“ etwa ist im heutigen linken Sprachgebrauch ein gewöhnliches Schimpfwort ohne analytische Tiefe.
Viertens liegt Stefanowitsch mit der Aussage vom „Rückzugsgefecht bislang privilegierter Gruppen“ daneben. Diese Aussage ist sprachwissenschaftlich nicht begründbar, sondern entspringt allenfalls einem sozialpädagogischen Märchen.
Fünftens ist die Aussage des „Sprachwissenschaftlers“ A.S. falsch, heutige Textverarbeitungsprogramme könnten automatisch „gendern“. Nein, diese Programme scheitern bereits bei zusammengesetzten Substantiven, deren Erstglied eine Personenbezeichnung ist (Bäckermeister), oder bei Adjektivableitungen, deren Stamm eine Personenbezeichnung ist (ärztlich, gärtnerisch).
Sechstens stimmt die Aussage nicht, „gegenderte“ Personenbezeichnungen störten den Lesefluss nicht. Die Studien, die das behaupten, sind methodisch anfechtbar. Es geht hier in der Tat offenbar um Sprachverbote bzw. Vorschriften für den Sprachgebrauch. Damit sind wir bei der alten Frage, wem die Sprache gehört und wer die Lizenz hat, Sprachvorschriften und Sprachverbote auszusprechen. Die Nazis und die DDR-Kommunisten haben sie auf ihre Weise beantwortet. Eine Demokratie muss die Sprache (d.h. ihre Regeln) und den Sprachgebrauch der Leute, soweit er nicht vom Strafgesetzbuch beschränkt ist, in Ruhe lassen. Ein Sprachwissenschaftler muss ideologische motivierten Übergriffen auf die Sprache und ihren Gebrauch entgegentreten – ebenso laienhaften, pseudowissenschaftlichen Instrumentalisierungen von Sprache für politische Zwecke. Andernfalls verletzt er das Ethos wissenschaftlicher Forschung und der Verpflichtung zur redlichen Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse in die Gesellschaft. Beidem hat der Berliner Professor der (englischen) Philologie Vorschub geleistet.
Mit diesen sechs Widersprüchen und grammatischen Nachhilfen hat der Bamberger Germanistikprofessor Helmut Glück Stefanowitsch konfrontiert. Eine Antwort hat Glück von ihm nicht bekommen. Reagiert hat nur eine Süddeutsche-Redakteurin. Sie hat Glücks fundierte Argumente zu „Ansichten“ eines Mannes heruntergestuft, der sich für den „brillantesten Linguisten auf diesem Planeten hält“ und ihm unterstellt, er sei beleidigt, dass man nicht ihn, Glück, als Interviewpartner gewählt habe. Auch Glücks Hinweis, dass das generische, also beide Geschlechter umfassende, Maskulinum ebenso ein grammatischer Sachverhalt sei wie das generische Femininum, vermochte die Süddeutsche nicht zu erfassen. Apropos generisches Femininum: Mit den grammatisch femininen Wörtern bzw. deren Mehrzahlform (Person, Waise, Geisel) oder auch mit bestimmten Schimpfwörtern (Pfeife, Flasche, Drecksau) können selbstredend Männer immer mitgemeint sein. Aber darüber hat sich noch kein Genderist aufgeregt.
Merke: Nicht jeder Berliner Professor der Linguistik und nicht jede(r) Süddeutsche-Redakteur*in, Redakteur/in, Redakteur_in, RedakteurIn versteht etwas von Grammatik. Die ewigmorgige Süddeutsche bedauerte es ja auch, dass der Bundesgerichtshof die Klage einer 80-jährigen Rentnerin, auf Formularen der Sparkasse als Kunde und nicht als Kundin angesprochen zu werden, abgewiesen hatte. Die Süddeutsche kommentierte dies am 13. März 2018 mit der Überschrift: “Der BGH verpasst eine Chance auf Fortschritt.“
Stefanowitsch bleibt Süddeutsche-Dauerinterviewgast. Am 3. März wusste er über die SZ zu vermelden: „Die Flüchtlinge sind nicht schuld am Unglück der Dresdner Mittelschicht.“ Und auch sonst tingelt er schreibend durch die politisch korrekte Landschaft. Soeben ist aus seiner Feder ein 64-seitiges Bändchen erschienen: „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“. Bei Duden! Nun, dort befindet sich Stefanowitsch ja in richtiger Genoss*_/Innenschaft, hat Duden doch erst kürzlich einen ähnlichen Band aufgelegt: „Richtig gendern – Wie Sie angemessen und verständlich schreiben“.