Es ist wahrlich weder Anlass für Häme noch für Schadenfreude. Und erst recht nicht für ein markiges: Das habe ich schon immer gewusst. Mitten in die angeheizte Debatte über «Lügen-» und «Lückenpresse», über das Versagen der Leitmedien, deutsche Realitäten richtig abzubilden, zu analysieren und zu kommentieren – nicht zu denunzieren –, platzt ein vom «Spiegel» selbst eingeräumter und aufgedeckter Skandal.
Der 33-jährige «Spiegel»-Reporter Claas Relotius hat eingestanden, mindestens 14 seiner Reportagen gefälscht zu haben. Gespräche, Begegnungen, Personen erfunden zu haben. Oder tatsächliche Recherchen ausgeschmückt, aufgehübscht, mit Fiktion ergänzt und um im Internet gefundene Fakts ergänzt zu haben. 55 Storys von ihm veröffentlichte der «Spiegel», er schrieb für die taz, die FAS, Süddeutsche Zeitung, die Welt, Zeit Online, Zeit Wissen, den Cicero, dazu in der Schweiz noch diverse Zeitungen wie die «NZZam Sonntag» oder die «Weltwoche».
Seine letzte publizierte Reportage brach ihm dann das Genick. Sein Mitautor wurde misstrauisch und recherchierte auf eigene Faust nach, nachdem ihm vom «Spiegel» bedeutet worden war, dass er doch nicht mit unbewiesenen Behauptungen einen angesehenen Journalisten anschwärzen solle. Aber als sich dann die unwiderlegbaren Fakten häuften, kam es im «Spiegel» zum Showdown und zum Geständnis.
Ullrich Fichtner, die beste Edelfeder des Blatts, veröffentlichte eine schonungslose Abrechnung mit einem Mitarbeiter, der insgesamt 55 Reportagen und Storys im «Spiegel» publizierte. Der Reporter habe «mit Vorsatz, methodisch und mit hoher krimineller Energie getäuscht». Aber genauso schonungslos stellt Fichtner die Frage, wie es denn möglich war, dass alle Kontrollinstanzen, die berühmte Dokumentation und andere, über Jahre hinweg nichts Verdächtiges entdeckten. Obwohl doch einige Reportagen «eigentlich zu schön waren, um wahr zu sein».
Aber genau darin besteht das Problem aller Reportagen, wenn sie eine Haltung bestätigen und deshalb so schön erscheinen; wenn Fakten zu perfekt ins vorgefaßte Bild passen. Relotius hat perfekt geliefert, was verlangt wurde. Es fällt auf, dass die Aufdeckung genau in jenem Ton geschrieben und in jenem Stil verfaßt wurde, den Relotius so perfekt bediente. Geht es um die Recherche eines politischen oder wirtschaftlichen Skandals, sind ganze Teams im Einsatz, werden Dokumente akribisch gecheckt, Aussagen mit einer weiteren, unabhängigen Quelle verifiziert. Wenn aber der Reporter unterwegs ist, vielfach auch nicht von einem Fotografen begleitet, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, wenn er Begegnungen und Gespräche in Gegenden schildert, die nur sehr aufwendig oder überhaupt nicht zu verifizieren sind, dann gibt es nur eine einfache Gleichung: Berufsehre und Anstand gegen Vertrauen der Redaktion. Relotius hat bereits eingeräumt, dass diverse Exponenten seiner Reportagen nicht existieren, von ihm erfunden oder aus Versatzstücken aus anderen Reportagen zusammengesetzt wurden.
An dieser Sollbruchkante des seriösen Journalismus bricht immer wieder die Frage auf: Was ist denn eigentlich seriöser, korrekter, richtiger Journalismus? Was Fake News sind oder sein sollen, das ist klar: erfundene, gefälschte, manipulierte News. Also beispielsweise: Ein Reporter besucht ein kleines Kaff in den USA und fragt die Bewohner, ob sie Trump oder Clinton gewählt haben. Dann lässt er alle weg, die sich für Clinton entschieden hatten und behauptet: Dieses Kaff steht wie ein Mann hinter Trump.
Aber: Wie jeder weiss, im Wirtschaftsleben, in der Politik und auch im Journalismus: Lügen haben immer, fast immer, kein langes Leben. Wer lügt und anschliessend überführt wird, macht es um Potenzen schlimmer, als wenn er einfach nichts gesagt hätte oder etwas eingestanden. Das weiss eigentlich jeder Wirtschaftsführer, jeder Politiker und auch jeder Journalist. Warum lügen sie dann?
Im Journalismus gibt es dafür wohl keine allgemeine Erklärung. STERN-Reporter Gerd Heidemann war verblendet von seinen vorherigen Scoops und Opfer seiner Faszination von Nazi-Memorabila. Daraus entstanden die «Hitler-Tagebücher». Tom Kummer ist geldgierig, narzisstisch und hat sich eine Amateur-Theorie über die Realität und unser Verhältnis zu ihr gebastelt und in der Süddeutschen Zeitung wurden sie gerne gedruckt. Wie andere auch, räumt er ein, dass er Zitate, ganze Interviews frei erfunden hat. Aber besteht darauf, dass das die Interviewten sozusagen auf einer höheren Wahrheitsebene durchaus hätten gesagt haben können. Und Relotius war wohl von aussen und von innen zu immer neuen Höchstleistungen getrieben, denn wie sagte Heidemann so grossartig: «Jeder Reporter ist immer nur so gut wie seine letzte Geschichte.»
Aber was ist nun korrekter Journalismus, was unterscheidet ihn von Fake News, «Lückenpresse» usw.? Es gibt keine objektive Darstellung der Realität, wer das behauptet, lügt bereits. Wer über etwas schreibt, sei das ein Mensch, eine Begebenheit, eine Situation, ein Ort, der sollte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, das Objekt seiner Beschreibung zu verstehen. Umso präziser, umso besser. «Grölender Neonazi» mag als Etikettierung möglicherweise für viele Medien ausreichen, weil das Böse diesen Namen trägt und die eigene „Haltung“, auf die es ja neuerdings ankommt, daran deutlich wird. Aber wer ist dieser Mensch, wieso verhält er sich so, was sind seine Umstände, das erklärt mehr und besser als es Haltungsjournalismus kann .
Der beste Journalist bringt eine unvoreingenommene Neugier mit, der schlechteste Journalist sucht nach Bestätigungen seiner vorgefassten Meinung. Beides merkt man jedem Artikel an, das merkt auch der Leser. Jeder Journalist muss aus einer Vielzahl von Eindrücken, Gesprächen, Beobachtungen, Recherchen, Fakten, Zahlen einen komprimierten Text kondensieren. Ausser vielleicht bei James Joyce ist es nie möglich, die erlebte Realität eins zu eins in ein Schriftstück zu übertragen. Also zeichnet sich der gute Journalist hier damit aus, dass er gerecht, anständig, dem Objekt entsprechend verdichtet. Und vor allem ohne Arroganz. Nichts einfacher, als ein angetrunkenes Prekariatsmitglied mit feinen Worten lächerlich, peinlich, armselig zu machen. Wer das tut, hat seinen Beruf als Journalist verfehlt.
Und schliesslich, der Journalist darf sich weder gemein machen noch eingreifen. Denn damit verändert der Beobachter das beobachtete Objekt, die Reportage nähert sich nicht mehr so eng wie möglich an das, was wir etwas unscharf Wirklichkeit nennen. Deshalb hat der «Spiegel»-Reporter die einzig unverzeihliche Todsünde im Journalismus begangen: Er hat das Vertrauen des Lesers und das Vertrauen seiner Redaktion missbraucht. Übel missbraucht. Dass seine eigene Karriere wohl am Ende ist, ist wohlverdiente Strafe. Dass der «Spiegel» einen Reputationsschaden erlitten hat, ist bedauerlich. Welche unablässigen Anstrengungen wird es brauchen, um den Satz wegzukriegen: Ach, diese «Spiegel»-Reportage soll ich glauben? Woher weiss ich denn, dass sie nicht von einem noch unentdeckten Fälscher erfunden wurde?
Relotius ist weg und muss sich wohl einen neuen Beruf suchen. Oder er macht den Kummer und probiert es einfach nochmal. Aber die Schäden, die er an der Reputation des «Spiegel» angerichtet hat, die werden ihn und seine Reportagen noch um Jahre überdauern. Und das gilt auch für jenes halbe Dutzend Journalistenpreise, mit denen er ausgezeichnet wurde; allein vier Mal mit dem „Reporterpreis“. Das beschädigt auch diese Jurys meist hochangesehener Kollegen. In der nach ihm benannten SPIEGEL-Affäre hat das Blatt Mängel der deutschen Verteidigung aufgedeckt und leitende Redakteure wanderten für kurze Zeit ins Gefängnis. Jetzt wurde der SPIEGEL selbst Gegenstand der Aufdeckung.