Das polnische Verfassungsgericht hat entschieden, dass einige EU-Gesetze gegen die Verfassung des Landes verstoßen. „Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstößt gegen (…) die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt bleibt“, urteilten die Richter.
Dem Beschluss ging eine Initiative von Regierungschef Mateusz Morawiecki voraus, der das Verfassungsgericht gebeten hatte, ein Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu überprüfen. Das EuGH hatte festgestellt, dass EU-Recht Mitgliedsstaaten dazu zwingen könne, einzelne Vorschriften im nationalen Recht auszulassen – das gelte selbst für Verfassungsrecht.
Warschau betont damit seine eigene Souveränität gegenüber einer Brüsseler Administration. „Die Organe der EU handeln außerhalb der Grenzen der Kompetenz, die ihnen von Polen zuerkannt wird“, sagte die Vorsitzende des Gerichts, Julia Przylebska. Die EU-Kommission hatte in der Vergangenheit versucht, die Justizreform der nationalkonservativen PiS zurückzudrehen und mehrfach vor dem EuGH geklagt. Noch am 4. Oktober hatte das EuGH Polen wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz verurteilt.
Die Entscheidung rief in Deutschland medial wie politisch scharfe Reaktionen hervor. Florian Neuhann (ZDF) bezeichnete die Reform als „Katastrophe“. Es sei eine „rote Linie“ überschritten worden, die EU habe mit ihrem Rechtsstaat-Mechanismus viel zu lange gezögert. „Dass Polen nach diesem Urteil etwa Hilfen aus dem Wiederaufbau-Fonds erhält, ist schlicht nicht vorstellbar.“ Und: „Ein Polexit wäre eine Katastrophe für alle beteiligten Seiten. Leider muss er nach diesem Urteil als Option auf dem Tisch liegen.“
Ähnlich äußerte sich der Abgeordnete des EU-Parlamentes, Moritz Körner (FDP). „Polen schlafwandelt Richtung EU-Austritt. Der #Polexit ist nicht länger nur ein Hirngespinst der Rechtspopulisten in Polen, sondern leider reale Gefahr.“ Wer EU-Recht nur nach eigenem Gutdünken einhalten wolle, könne nicht Mitglied der EU bleiben. „Alle für Polen vorgesehenen EU-Mittel müssen mit sofortiger Wirkung eingefroren werden. Die nächste Wahl in #Polen wird nun zur Schicksalswahl darüber, ob Polen Mitglied der EU bleiben kann oder nicht.“ Katharina Barley (SPD), Vizepräsidentin des EU-Parlamentes, sagte, die EU-Kommission müsse jetzt „Konsequenzen ziehen“.
Auch die Wochenzeitung Zeit schoss gegen Warschau: „Juristisch, das zeigt das Urteil in all seiner Scheinhaftigkeit und Verdrehtheit, lässt sich dieser Streit nicht entscheiden. Er ist endgültig aus dem Raum des Rechts in die Sphäre der Macht hinübergetreten. Die EU wird mit Paragrafen nichts mehr ausrichten können. Sie muss jetzt auf Sanktionen setzen: Solange Polen nicht die Unabhängigkeit seiner Gerichte wiederherstellt, kann es nicht teilhaben an den Milliardenhilfen aus dem Corona-Fonds.“
Wenn Osteuropa nicht so spurt, wie Westeuropa es will, dann verlieren die Eliten in Brüssel und Berlin schnell ihr tolerantes Gesicht. Das Hashtag „Polexit“ dominiert seit gestern die Twitter-Trends. Die deutschen Äußerungen erinnern dabei frappierend an den Brexit. Dass nur die EU-Politik, sondern auch das deutsche Gebaren seinen Anteil am Austritt des Vereinigten Königreichs hatte, gehört zu den verdrängten Kapiteln der jüngeren Vergangenheit. Der polnische Nachbar ist dabei aufgrund historischer Erfahrungen deutlich empfindlicher, wenn es um den deutschen Imperialismus geht – und wenn dieser nur moralischer Natur ist. Der Ruf nach dem Polexit könnte noch zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Die Europäische Union begeht in ihrem Drang nach Einheit Selbstmord.