Was für ein Titelbild: Ein übergroßer Christian Lindner mit Dreitagebart verdüstert die kleine Angela. Eine rote Abendsonne beleuchtet die rechte Wange des FDP-Vorsitzenden. Der Bundeskanzlerin strahlt noch das helle Sonnenlicht. Aber es ist schon eine kalte Sonne. Ihre letzten Strahlen machen eine aschfahle Haut. Merkels Haupt ruht auf der linken Hälfte ihrer zur Faust geballten Raute. Nachdenklich. Schon resigniert. Man weiß es nicht.
In Gedanken jedenfalls ganz weit weg. Vielleicht schon im beschaulichen Vorpommern. Dort ist ja alles gut. Nun ist es also doch Zeit geworden, zu verschwinden, mag sie denken. Die Scherben sind nicht mehr zu kitten. Immerhin, vom Herrn Sauer sind ja Enkelkinder da. Man könnte Tomaten anzüchten in Joghurtbechern auf der Fensterbank. Oder was man eben so macht. Ja, es gibt ein Leben nach dem Versagen.
Von Angela Merkels Boccia Titanium für bescheidene 89 Euro ist nur das Armband am linken Handgelenk zu sehen. Die Uhr wurde von ihr nach innen gedreht. Das erlaubt den diskreteren Blick, wenn die Zeit in den Sitzungen wieder zu lang wird. Wenn das Geschwätz der anderen wieder nicht enden will, obwohl am Ende doch immer gemacht wird, was die Kanzlerin will. Nicht nur hier, bis über die europäischen Außengrenzen hinaus leuchtete ihr Stern. Aber wo sind sie hin diese fetten Jahre? Was wird die Geschichte über Angela Merkel denken? Über ihre Rolle im Herbst 2015? So viele gedrechselte Halbwahrheiten und nie die rechte Gelegenheit, endlich Mal ihre Wahrheit zu erzählen. Verurteilt zur ewigen Raute. Nun sind ihr doch noch die Finger müde geworden.
„A horse, a horse, my kingdom for a horse!“
Ja doch, man könnte sich diese Fotocollage stundenlang anschauen und würde nicht fertig werden damit. „Stunde Null“ lautet die Headline. „Land ohne Richtung … Einigkeit … Kanzlerin?“ Nicht ganz korrekt, denn die „Stunde Null“ folgte ja auf den Untergang. Und das wäre dann doch zu viel William Shakespeare, too much Macbeth. Was wahr bleibt: Die letzten Tage der Angela Merkel sind wohl angebrochen. Draußen tobt der Mob. Und schuld daran ist sicher nicht der Herr Lindner im Hintergrund, wenn Millionen hereindrängeln, drücken und quengeln, um das Paradies zu fluten. „A horse, a horse, my kingdom for a horse!“ Zu spät Angela!
Also blättern wir nun mal hinter die Fassade dieses schwer zu verköstigenden Titels. Und siehe da: Schon die Hausmittteilung des Spiegel ätzt von der ersten Zeile an gegen Christian Lindner. Dessen Absage an Jamaika sei ein gut inszeniertes Schauspiel gewesen. Was glauben diese Hamburger Journalisten? Dass so wichtige Entscheidungen aus dem Bauch heraus gefällt werden müssen? Ist Angela Merkel wirklich schon so lange Kanzlerin?
Passend dazu übrigens ein Artikel weiter hinten (S.52) der fragt: „Kehrt die Klassengesellschaft zurück?“ Gut verdienende Deutsche würden mittlerweile ein Millionenheer von Helfern beschäftigen. Ja, lieber Spiegel, aber dieses Millionenheer wird sicher nicht das gleiche Millionenheer sein, an das ihr dabei denkt. Die sind bereits grundversorgt. Und werden vom Amt ganz sicher nicht auf die gleiche Weise genötigt, gefälligst etwas dazu zu verdienen, wie diejenigen, die schon über Generationen hier leben.
Schulz und Jamaika: zwei Spiegel-Niederlagen
Die Titelgeschichte heißt „Flucht aus der Karibik“. Und Brinkbäumers Redakteure haben es offensichtlich immer noch nicht verwunden, dass sie zum zweiten Mal tief ins Töpfchen gegriffen haben. Erst wollte man Ausgabe für Ausgabe Martin Schulz nach vorne peitschen, dann Jamaika. Beides ist Geschichte. Schulz hat jetzt einfach keine Kraft mehr, den sozialdemokratischen Stabilitätsanker zu geben, also uns den Phönix zu machen. Nein, etwas mehr als 20 Prozent für die SPD sind keine denkbare Ausgangslage.
Lindner will aus der FDP eine politische Bewegung machen, schreibt der Spiegel. Nur was wäre konkret zu sagen gegen so eine Mischung aus Macron und Kurz? Wie viele Millionen gibt die CDU samt Kanzlerin für Marketing und Werbung aus? Und was kommt dabei heraus? Linder hätte einen Scherbenhaufen hinterlassen. Ehrlich, wer so etwas nach 2015 über politischen Gestaltungswillen schreibt, den muss man kaum mehr ernst nehmen. Nein, es war ganz sicher nicht die Absage an Jamaika, die „Deutschland in eine schwierige Lage“ brachte. Lindners Ausfallschritt nach rechts wäre sein Erfolg gewesen, miesepetert der Spiegel. Aber wohin soll man treten, wenn die Kanzlerin so schwer Schlagseite nach links hat?
Und als wäre das alles nicht genug Lindner-Bashing, darf dann der Feuilletonist Nils Minkmar noch ein bisschen knötern. Dafür nimmt er sich Lindners Buch „Schattenjahre“ zur Hand, geschrieben aus der Perspektive der FDP als außerparlamentarische Opposition. Das erbärmlich platte Fazit Minkmars übertrifft an Hilflosigkeit sogar noch die wurstige Titelgeschichte: „Nun, da er die Jamaikaverhandlungen hat platzen lassen, kann man sich noch weniger vorstellen, dass er wirklich dieses Land regieren will.“
Hatespeech by Spiegel
In Wahrheit ist es wohl so: Was hier passiert ist die kultivierte Form des Hate-Speech. Der Ätzfaktor bleibt letztlich der Gleiche. Mit einem Unterschied vielleicht: Diese Hatespeecher in den sozialen Medien kämen niemals auf die Idee, dass man sie als moralische Instanz verstehen soll.
Weiterblättern zu Sigmar Gabriel, der hat sich irgendwo da draußen in der Welt verirrt oder ist weggelaufen. So ganz ist das nicht geklärt. Jedenfalls bestäubt er diese Welt weiter munter mit der Euro-Puderdose, als wär er noch einmal hundert Jahre Außenminister. „Ich hoffe die scheitern.“, soll er gesagt haben. Na klar. Der einfache Bürger darf sich derweil die Frage stellen, ob sich denn niemand findet, der dem reiselustigen Goslarer mal den Flugplan verschlankt. Sigmar Gabriel als VW-Käfer der SPD: „Er läuft und läuft und läuft“, schreibt Christoph Schult. Nein, er fliegt und fliegt und fliegt. Und hoffentlich sehr bald aus diesem Amt, das an ihm hängt, wie ein zu groß gewordener Anzug – möchte man noch anfügen.
Weitergeblättert verhandelt der Spiegel noch Cyber-Attacken auf die Bundesrepublik, die ausgezehrten europäischen Streitkräfte und wirft einen Blick auf Olaf Scholz. Olaf wer? Genau, dieses vielleicht letzte Geschütz der SPD für den Fall von Neuwahlen. Ein Rohrkrepierer. Es mag despektierlich klingen, ist aber so gemeint: Die meisten Bürger kennen nur sein freundliches Gesicht irgendwo zwischen Lächeln und Grinsen tiefgefroren. Weniger als die Hälfte würde doch spontan den Namen nennen können, wenn man ihnen ein Foto vorhält. Und der Spiegel findet das auch: „Er kommt über den Verstand, er berührt nicht.“ Und wenn er eine Rede halten würde, klänge die immer so, als lese er den Text eines anderen. Nun gut.
Ein Bericht über Tesla-Chef Elon Musk sät Zweifel, ob der Elektromobilitäts-Guru hält, was sich die Welt von ihm verspricht. Der sei eigentlich nur ein schlauer Geschichtenerzähler, wenn es darum ginge, neue Investoren zu gewinnen. In den vergangenen Monaten hätte sich Tesla von mehreren hundert Mitarbeitern getrennt, darunter auch solchen aus der Batterieentwicklung. Doch noch Morgenluft für die deutsche Autoindustrie?
Martin Walser und Jakob Augstein
Das Schönste soll nun zum Schluss kommen. Eine Geschichte, die auf ganz unterschiedlichen Wegen versöhnen könnte mit dieser verfrühten Ausgabe Nr. 48. Ein paar Seiten nach einem Artikel über das Ende der Wurst, wie wir sie kennen (die Erfindung einer Wurst, die gut für das Herz sein soll) nimmt uns Volker Weidermann mit zu einer Begegnung zwischen Vater und Sohn, zwischen Martin Walser und Jakob Augstein.
Die beiden haben ein Gesprächsbuch gemacht, dass sogar das Potenzial hätte, sich für den Moment mit dem SPON-Kolumnisten Augstein zu versöhnen. Gespräche zwischen altem Vater und nicht mehr ganz so jungem Sohn über das Leben an sich. Und wenn es einer schafft, uns hier mit zunehmen, dann ist das dieser so einfühlsame und warmherzige Feuilletonist Weidermann.
Augstein und Walser begegneten sich zum ersten Mal, da war der Vater 80 und der Sohn 40. Erst spät erfuhr Augstein überhaupt, wessen Sohn er ist. „Ich fand, dass du sehr groß bist“, erinnert sich der Sohn. „Und ich fand dich mir ähnlich“, der Vater. Was für eine Antwort. Walser ist im März neunzig geworden, Augstein hatte im Juli die schwere Hürde des Fünfzigjährigen genommen. Nun ist Neunzig beileibe kein Pappenstil und sicher nicht mehr jeden Tag das reinste Vergnügen. Wenn man also so ein Projekt machen will, dann wurde es allerhöchste Zeit.
Weidermann ist der Mann der großen einfachen Sätze: „Ein Sohn will wissen: Wo komme ich her? Was ist meine Geschichte? Was für ein gemeinsames Leben haben wir verpasst? (…) Martin Walser sitzt neben seiner Frau. Öfter fallen ihm im Gespräch Namen nicht ein, dann umfasst er mit der Hand den Unterarm seiner Frau und sagt: „Na, wie heißt der? Sag doch.“ (…) Walser sagt „Jakkopp“, weich und schnell. Er wird den Namen seines Sohnes heute im Verlauf des Tages noch sehr oft aussprechen, als ob ihm schon allein die Nennung Freude machte.“
Wie geht es so einem, der nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei Übervätern leben muss? Der Spiegel hat sogar noch Platz für ein ganzseitiges Foto von Vater und Sohn, das nicht hätte treffender ausfallen können: Walser auf einer Bank mit Blick auf den See und Augstein stehend zwischen Vater und See, fast so, als wolle er dessen Gedanken noch einmal einfangen, bevor sie über den stillen Wassern für immer entschwinden.
Der Kulturteil des Spiegel, hier wo auch ein Matthias Matussek so lange Jahre schrieb, bleib oft der einzige Grund, dieses Blatt noch zu lesen. Aber ein ausreichender war es alle Male. Volker Weidermann von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hier her zu bekommen, war ein Glanzstück der Blattmacher. Aber zurück zu Walser und Augstein und einem Buch, das auch als Autobiografie des Vaters durchgehen könnte, der selbst keine schreiben wollte. Im Gespräch lobt Walser den Sohn als echten Fleißarbeiter. Jakob hätte die Aufzeichnungen über diese Plauderei immer mitgenommen und zu Hause bearbeitet und mit Quellen versehen, wo welche nötig waren. Walser meint, er komme nicht einmal gut weg im letzten Teil, aber dagegen hätte er nichts. Es sei letztlich ein Buch geworden „(ü)ber das Schweigen der Elterngeneration, die Gleichgültigkeit und ‚das Aufräumen, das überlasst ihr den Kindern’.“
Zum Schluss der vielleicht vielsagendste Absatz dieses Artikels, mit dem wir diesen Spiegel nun zuklappen wollen: „Das Gespräch kommt dann wie von selbst auf Politik. Die Scham Martin Walsers beim Wiederlesen früher politischer Reden. Und die Begeisterung seines Sohnes beim Lesen dieser kapitalismuskritischen Frühschriften. Es ist, als hätte der linke Journalist Jakob Augstein hier den idealen Vater gefunden. (…) Zwei Männer, neunzig der eine, fünfzig der andere, haben den klassischen VaterSohn-Konflikt übersprungen, wie über ein Zeitvakuum hinweg unterhalten sie sich jetzt als zwei, die sich neu kennenlernen. (…) Ich hab nur gemerkt, dass diese Besuchsvaterschaft ein Immer-zu-wenig war“, sagt Martin Walser noch.