Tichys Einblick
Zeitenwende in den USA

Der Machtverlust der Meinungsjournalisten

Eine der treusten Zeitungen an der Seite der US-Democrats wird völlig überraschend nicht zur Wahl von Kamala Harris aufrufen. Das ist viel mehr als eine inneramerikanische Anekdote. Es illustriert den Niedergang einer einst mächtigen Kaste: Die Medien-Kommentatoren werden nicht mehr gebraucht.

picture alliance / Sipa USA | SOPA Images

Entzug tut immer weh. Jeder Drogenabhängige weiß das (und jeder Angehörige eines Drogenabhängigen auch). Dabei spielt die Droge selbst so gut wie keine Rolle. Ob Zigaretten oder Alkohol, ob Kokain oder Heroin, ob Sex oder Schokolade, ob Fernsehen oder Videospiele: Der Schmerz beim Entzug entsteht durch die Abhängigkeit.

Das gilt auch für Macht und Einfluss.

In den USA kann das staunende Publikum in diesen Tagen die Entzugserscheinungen einer besonderen Sorte von Süchtigen beobachten. Das ist auch für Europa und hier besonders für Deutschland interessant: Weil es bei uns ebenfalls sehr viele Süchtige dieser Sorte gibt – und weil absehbar ist, dass denen auch früher oder später die Droge weggenommen wird. Wahrscheinlich eher früher.

In den USA lässt sich nun gerade in Echtzeit beobachten, wie diese Gruppe auf den „kalten“, also plötzlichen Entzug reagiert. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie hier anders reagieren würde. Genau deshalb ist es spannend, einen Blick über den Großen Teich zu werfen. Robert Kagan ist Mitglied der Chefredaktion der altehrwürdigen „Washington Post“. Das heißt: Er war Mitglied der Chefredaktion, bis er am Freitag zurücktrat. Der 66-Jährige warf hin, weil sein Arbeitgeber eine seit 1976 fortgeführte Tradition nicht fortsetzen wollte: die offizielle Unterstützung eines Kandidaten in der US-Präsidentschaftswahl.

Wir kommen gleich auf ihn zurück.

Was nach unseren europäischen und deutschen Vorstellungen von journalistischer Neutralität wie eine recht eigenartige Übung für ein Medienhaus aussieht, hat in den USA eine lange Geschichte. Dort riefen wichtige Zeitungen ihre Leser regelmäßig dazu auf, jemanden zu wählen. Zuletzt hat sich die linke „New York Times“ erwartungsgemäß für Kamala Harris ausgesprochen. Seit 1976 unterstützt die „Washington Post“ Kandidaten für das Weiße Haus.

Nur einmal, 1988, hat sie ausgesetzt. Aber immer waren es Democrats, zu deren Wahl aufgerufen wurde. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die „Washington Post“ ist in ihrer politischen Ausrichtung sogar noch einseitiger als die „New York Times“. Das zeigt die sogenannte Watergate-Affäre Anfang der 1970er-Jahre.

Damals deckten die beiden Reporter Carl Bernstein und Bob Woodward in zweijährigen Recherchen eine Verschwörung auf, die letztlich zum Rücktritt des republikanischen Präsidenten Richard Nixon führte. Dessen Team hatte zahlreiche Straftaten begangen, unter anderem war ein Einbruch in die Parteizentrale der Democrats in Auftrag gegeben worden. Das Watergate-Gebäude, in dem das demokratische Hauptquartier seinen Sitz hatte, gab der Affäre den Namen. Trotz zahlreicher Zeugenaussagen und plausibler Indizien schon in den ersten Veröffentlichungen der beiden Reporter griff aber über Monate hinweg kein größeres Medienhaus in den USA den Skandal auf. Denn die „Washington Post“ war seinerzeit eine Art Parteiblatt der Democrats. Wenn dort etwas enthüllt wurde, was den Republicans schadete, galt es nicht unbedingt als glaubwürdig.

Umso wuchtiger wirkt jetzt der Schritt der Zeitung, nach fast 50 Jahren eben NICHT den aktuellen Kandidaten der Democrats für das US-Präsidentenamt offiziell zu unterstützen. Für die ohnehin notleidende Kampagne von Kamala Harris ist das ein weiterer veritabler Schlag ins Genick.

Und es ist ein noch viel härterer Schlag für die mächtigen Meinungsmacher der US-Medien.

Womit wir wieder zurück bei Robert Kagan wären. Der Mann ist zwar formal Journalist. Doch sein ganzes Berufsleben hindurch hat er nicht davon gelebt, seinen Lesern die Welt zu beschreiben; sondern davon, seine Leser darüber zu belehren, wie sie die Welt nach seiner Meinung zu sehen haben. Seit acht Jahren sollen die Amerikaner nach Kagans Meinung vor allem Donald Trump hassen. Er nennt den Ex-Präsidenten einen Faschisten und machte – Journalismus hin, Neutralität her – in seinen Kolumnen in der „Washington Post“ Wahlwerbung für Hillary Clinton. Und später für Joe Biden. Und jetzt für Kamala Harris.

Halt, Stopp, Pause: nicht für Kamala Harris. Denn Will Lewis, der Herausgeber der Zeitung, hat nun eben die 50-jährige Tradition der öffentlichen Unterstützung für Präsidentschaftskandidaten beendet. „Wir kehren zurück zu unseren Wurzeln, nicht zur Wahl eines Präsidentschaftskandidaten aufzurufen“, erklärt er. Die „Washington Post“ will ihren Lesern künftig grundsätzlich keine Kandidaten mehr zur Wahl empfehlen.

Chef-Meinungsmacher Kagan reagiert darauf mit Kündigung und mit wüsten Beschimpfungen an die Adresse sowohl des Herausgebers als auch des Eigentümers der Zeitung. Letzterer heißt Jeff Bezos, ist Milliardär und ansonsten Gründer von Amazon.

Bezos habe Angst vor Donald Trump und verhindere deshalb das „Endorsement“ für Harris, wütet Kagan im TV – lustigerweise bei CNN, das getrost als Haussender der Democrats bezeichnet werden darf und schon lange keine relevante journalistische Recherche vorweisen kann, dafür aber massig (linke) Meinung. Der Verzicht auf die Harris-Unterstützung bei der „Post“ sei ein beinahe krimineller Eingriff in die redaktionelle Integrität, ein Anschlag auf die Pressefreiheit. Also irgendwas kurz vor dem Ende der Welt.

Hier sollte nicht ganz unerwähnt bleiben, dass Bezos das Blatt 2013 durch den Kauf gerettet hat. Ohne den neuen Eigentümer wäre die „Post“ keine ehrwürdige, sondern eine ehemalige Zeitung. Deren überaus einseitiger, wenig an Fakten und viel an Meinungen orientierter „Journalismus“ hatte in nur 20 Jahren etwa neun von zehn Lesern vertrieben. Heute hat das US-weit vertriebene Blatt wochentags gerade noch eine Auflage von gut 250.000.

In den vergangenen elf Jahren als Besitzer hat sich Bezos aus dem redaktionellen Geschäft strikt herausgehalten. Die Zahlen wurden trotzdem nicht wirklich besser. Herausgeber Lewis versucht jetzt offenkundig den Schritt weg vom offen parteilichen Pseudo-Journalismus – und hin zu einem wieder mehr beobachtenden und beschreibenden Ansatz.

Das bringt die Kagan-Klasse in der US-Publizistik auf die Barrikaden. Sie lebt seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, nicht von ihrer Recherche, sondern allein von ihrer Meinung. Die hatte bisher durchaus einiges Gewicht. Man zitierte sich gegenseitig, man lud sich gegenseitig zu Interviews und Talkshows ein. Mit einiger Berechtigung benahm man sich sehr lange Zeit wie der Türsteher zur öffentlichen Debatte.

Doch dieser Job wird jetzt neu ausgeschrieben, vielleicht fällt er auch ganz weg.

Nicht nur die „Washington Post“ verabschiedet sich von der Unterstützung bestimmter Präsidentschaftskandidaten. Vor wenigen Tagen hatte schon der Eigentümer der Los Angeles Times, Patrick Soon-Shiong, einen geplanten Wahlaufruf seiner Redaktion für Kamala Harris blockiert. Auch andere große Zeitungsketten haben in den vergangenen ihre Unterstützungspraxis zurückgefahren. McClatchy und Alden Global Capital zum Beispiel, denen landesweit mehrere hundert Zeitungen gehören, lassen keinerlei „Endorsements“ mehr zu.

Die derart unter Druck geratenen Meinungsmacher spüren den Schmerz, der durch den Verlust von Ansehen und Bedeutung ausgelöst wird: Entzugserscheinungen eben. Und sie schlagen wild um sich.

Kagan beschimpft nun die Zeitung, an der er bis vor wenigen Tagen nichts auszusetzen hatte. Ein anderer Ex-Chefredakteur der „Post“, Marty Baron, bezeichnet den Verzicht auf eine Unterstützung von Kamala Harris als „Akt der Feigheit“. Und weiter: „Wenn ihre Philosophie darin besteht, dass die Leser sich ihre eigene Meinung zu den großen Themen bilden können, mit denen sie in dieser Demokratie konfrontiert sind, dann sollten sie keine Leitartikel veröffentlichen.“

Hier zeigt sich die wahre Angst: Weshalb sollte es feige sein, wenn Medien ihrem Publikum eigene Entscheidungen zutrauen? Die Frage wird von Kagan, Baron & Co. nicht beantwortet – weil es darauf keine Antwort gibt. Und das bedeutet, dass man Meinungsjournalisten überhaupt nicht braucht.

Das ist eine denkbar schlechte Nachricht für die Heerscharen von selbstgefälligen, selbstverliebten und selbstgerechten Top-Verdienern in den Funkhäusern und Redaktionen der sogenannten Leitmedien auch bei uns, seien sie nun privat oder über Zwangsgebühren finanziert.

Tatsächlich ist für den deutschen Normalbürger die Meinung von Melanie Amann („Spiegel“), Georg Restle (ARD), Nicole Diekmann (ZDF) und all den anderen Medien-Möchtegerns kein Mü relevanter als die Weltsicht von Schwager Kurt oder Oma Kasuppke. Und die abstürzenden Leser- und Zuschauerzahlen im etablierten Medienbetrieb in Deutschland deuten darauf hin, dass dem Publikum auch bei uns das allmählich klar wird.

Die Abstimmung am Kiosk und mit der Fernbedienung zeigt, dass das Geschäftsmodell der Meinungsjournalisten sich auch in Deutschland seinem Ende nähert. Wie lange das noch dauert, ist ungewiss. Aber dass es überhaupt passieren wird, ist ziemlich sicher.

Und das ist die gute Nachricht.

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