Tichys Einblick
Sommermärchen statt Sommerinterview

Das Fakten-Desaster des ZDF

Alice Weidel gibt dem Zweiten Deutschen Fernsehen ein „Sommerinterview“, das dem Sender wohl nicht gefällt. Deshalb schieben die Mainzelmännchen einen „Faktencheck“ hinterher. Aber der ist so falsch, dass der zuständige Redakteur panisch zwischenzeitlich seinen Internet-Auftritt löscht. Ein Drama in fünf Aufzügen.

IMAGO, Screenprint via X - Collage: TE

Prolog: Das Sommerloch ist der Feind des Journalisten. In der Zeit der „großen Ferien“ fahren nicht nur Eltern mit ihrem sonst schulpflichtigen, aber nun beschäftigungslosen Nachwuchs in den Urlaub. Auch der kinderlose Teil des Landes sucht buchstäblich das Weite, denn draußen ist es sonnig und warm, da hat man noch weniger Lust auf Arbeit als sonst.

Weil die Deutschen so gern ins Ausland reisen wie keine andere Nation, ist die Bundesrepublik im Sommer also weitgehend entvölkert. Leergefegt. Und wo weniger Leute sind, passieren auch weniger interessante Dinge. Statistik eben. Politiker wollen ebenfalls irgendwann mal frei machen. Da bietet es sich an, das dann zu tun, wenn sowieso kaum Publikum da ist, weil die Wähler gerade im Urlaub sind. Folglich passiert auch politisch in der heißen Jahresmitte viel weniger als sonst.

Aber in den – durch Werbeverträge oder Bürokratie oder beides – festgemauerten Sendeschemata der Fernsehanstalten können die Nachrichtensendungen nicht einfach mal um die Hälfte kürzer werden, nur weil gerade Sommer ist und es nur wenig Interessantes zu berichten gibt. Sendeplatz ist Sendeplatz, und Sendezeit ist Sendezeit. Die muss gefüllt werden.

So wurde das „Sommerinterview“ geboren.

Das ist ein Format, bei dem zwei der drei Beteiligten gewinnen. Die Sender: weil sie in der Saure-Gurken-Zeit preisgünstig Sendefläche mit etwas füllen können, was zumindest auf den ersten Blick so aussieht wie Nachrichten. Die Politiker: weil sie die Welt mit mehr von ihren vorbereiteten Botschaften in längeren Sätzen als sonst beglücken können.

Die Zuschauer gewinnen nicht zwangsläufig, wie wir gleich sehen werden.

Erster Akt

Am Sonntag lädt das Zweite Deutsche Fernsehen Alice Weidel ein. Also, eigentlich lädt das ZDF sie vor – jedenfalls wird die Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag und Bundessprecherin ihrer Partei so behandelt. Etwa 20 Minuten lang versucht die ZDF-Mitarbeiterin Shakuntala Banerjee, ihre Gesprächspartnerin zu entlarven: als Marionette von Wladimir Putin, als blinden Fan von Donald Trump und als menschenverachtende Rechtsradikale sowieso.

Das gelingt noch nicht einmal mittelgut, denn Alice Weidel ist vielleicht kein überschäumend sympathischer Mensch, aber sehr professionell. Und sie ist erkennbar mindestens so intelligent wie die Fragestellerin.

Deren offensichtliche Mission, die AfD-Frontfrau direkt in dem Interview bloßzustellen und zu spektakulären Fehlern zu verleiten, scheitert.

Zweiter Akt

Doch jeder hat eine zweite Chance verdient, auch das ZDF. Und für den ja leider nur allzu häufigen Fall, dass öffentlich-rechtliche Journalisten etwas im ersten Anlauf nicht gebacken bekommen, hat der liebe Gott ihnen vor einiger Zeit den sogenannten „Faktencheck“ geschenkt.

Mit dieser Spielart beschäftigen sich jene Mitarbeiter unseres Zwangsgebührensystems, die nicht gut verlieren können. Wenn nun ein Plan – wie der, Alice Weidel im Sommerinterview medial zu messern – nicht sofort aufgeht, dann wird die eigentliche Sendung nachträglich seziert. Dabei, so die Hoffnung, findet sich ja vielleicht doch noch etwas, was man gegen das auserkorene Ziel verwenden kann.

Im vorliegenden Fall stürzt sich ZDF-„Faktenchecker“ Oliver Klein auf eine Aussage von Alice Weidel zur zunehmenden Gewalt in Deutschland: „Wir haben eine explodierende Kriminalstatistik. Wir haben eine explodierende Ausländerkriminalität, Jugendkriminalität, migrantische Gewalt. (…) Messerdelikte hoch: 15.000 an der Zahl, im letzten Jahr.“

Das nimmt der ÖRR-Mann zum Anlass für einen Text, dem er den Titel gibt: „Wie Weidel bei der Kriminalität übertreibt“. Die AfD-Chefin nenne im „Sommerinterview“ total falsche, nämlich viel zu hohe Fallzahlen. Tatsächlich gebe es in Deutschland viel weniger Messerdelikte, als von Weidel behauptet.

Die Botschaft des Textes ist klar: Die sachkundigen, akribischen und wahrheitsliebenden „Faktenchecker“ des ZDF überführen die Parteivorsitzende der Alternative für Deutschland der Lüge. In Wahrheit ist alles ganz anders.

Das Problem ist nur: In Wahrheit ist es genau so.

Denn ZDF-Mann Klein hat sich verzählt. Nicht ein bisschen, sondern in Größenordnungen: um etwa ein Viertel. Der sachkundige, akribische und wahrheitsliebende „Faktenchecker“ berücksichtigt zwar die Messerangriffe im Zusammenhang mit gefährlicher und schwerer Körperverletzung: Das waren 8.951 im Jahr 2023. Dazu kamen aber auch noch 4.893 Raubdelikte, bei denen ein Messer benutzt wurde. Die hat Kollege Klein – ja, was eigentlich? Übersehen? Vergessen? Oder wissentlich weggelassen?

Jedenfalls gab es nach offiziellen Zahlen des Bundeskriminalamts BKA im vergangenen Jahr 13.844 Messerdelikte. Das sind für jeden normalen Menschen knapp 15.000.

Und das ist die Zahl, die Alice Weidel im „Sommerinterview“ nennt.

Dritter Akt

Nun rudert das ZDF zurück. Die schlicht falsche Passage mit den Messerdelikten wird umgeschrieben (die falsche Überschrift übrigens nicht). Dazu stellt der Sender eine Erklärung, dass das BKA erst seit wenigen Jahren Messerangriffe als eigenständige Delikte erfasst.

Die Erklärung schafft mehr Verwirrung als Klarheit. Soll das heißen, dass „Faktenchecker“ Klein die Entwicklung der vergangenen Jahre nicht mitbekommen hat? Dass das ZDF seine „Faktenchecks“ mit veralteten Zahlen vornimmt? Oder will man es einfach nur mal gesagt haben?

Wir wissen es nicht.

Was wir aber wissen: Die Kritik an diesem „Faktencheck“, der aus dem ZDF-Sommerinterview nachträglich und ohne Not ein Sommermärchen macht, überflutet die sozialen Medien. Und der Verantwortliche, Oliver Klein, ergreift die Flucht: Er löscht sein Konto und verlässt X (das früher Twitter hieß).

Allerdings nicht für lange. Denn der Mann, der sich offensichtlich nicht mit lästiger Kritik an seiner stümperhaften Arbeit auseinandersetzen will, richtet einfach unter einem anderen Namen und mit einem anderen Profilbild ein neues Konto ein. Das versieht er jetzt aber mit einem elektronischen Schloss, sodass nur noch von ihm persönlich Auserwählte dort Kommentare hinterlegen können.

Man will halt unter sich bleiben.

Epilog

So unglaublich es auch klingen mag: Oliver Klein bildet andere Journalisten aus und fort. Bei der Medienakademie von ARD und ZDF bietet er das Seminar an: „Recherchieren wie ein Ermittler“. Und man hofft inständig, dass echte Ermittler nicht so recherchieren wie er.

Denn sonst wären unsere Gefängnisse überfüllt mit Unschuldigen.

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