Wer sich noch die sogenannten Talkshows in den Öffentlich-Rechtlichen antut, ist selbst schuld, wenn er die hierfür vertane Zeit nicht für was Sinnvolleres nutzt: zum Beispiel für anregende Lektüre oder für aktiven Sport. Denn der Verlauf dieser mainstreamwoken Quasselrunden ist wie ein festgemauertes Drehbuch prognostizierbar, sobald die Teilnehmer aufgelistet sind. Schließlich sind es zu 90 Prozent die immer gleichen zweibeinigen Wanderpokale der immer gleichen Parteien, Redaktionen und NGOs, die sich hier tummeln.
Nur gelegentlich und nur phasenweise wird es spannend – für etwa viermal drei bis fünf Minuten. So geschehen bei ZDF-Mann Markus Lanz, der am 15. Oktober geladen hatte: SPD-Mann Michael Roth, Eva Quadbeck vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit der SPD als dessen größter Kommanditistin, Militärexperte Christian Mölling von der Bertelsmann Stiftung – und eben Boris Palmer, ab 2007 „grüner“, seit 2023 parteiloser Oberbürgermeister von Tübingen.
Palmer zeichnete bei Lanz ein düsteres Bild von der aktuellen wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Mit scharfer Kritik an der Politik des amtierenden Bundeskanzlers erinnerte Palmer an die Reformen von Gerhard Schröder und dessen Agenda 2010, die Deutschland „aus einer tiefen wirtschaftlichen Depression“ herausgeführt habe. Schröder habe mit der Agenda „dem Leistungsprinzip wieder Geltung verschafft“ und den Grundstein für „mindestens 15 Jahre Prosperität“ gelegt. Doch jetzt, so Palmer, stehe Deutschland vor einem beispiellosen wirtschaftlichen Niedergang, auf den die aktuelle Regierung und dieser Bundeskanzler schlicht keine adäquaten Antworten liefere.
„Die letzten zwei Monate waren noch viel schlimmer als vorher,“ sagte Palmer über die Entwicklung der Wirtschaft und wies darauf hin, dass die Dramatik der Situation „noch gar nicht wirklich bemerkt“ werde. Besonders in Baden-Württemberg, dem industriellen Herz Deutschlands, zeigten sich besorgniserregende Zeichen: „Wir sind jetzt bei minus 10, minus 15 Prozent bei vielen Betrieben“, so Palmer, der als Tübinger Oberbürgermeister eine starke Verbindung zu den Problemen der lokalen Wirtschaft hat. Die Automobilindustrie, Maschinenbau und Zuliefererketten befänden sich in einem „rasanten Absturz“, den er in dieser Form noch nie erlebt habe.
Doch Palmer beschränkte seine Kritik nicht nur auf die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, sondern äußerte auch scharfe Bedenken bezüglich der finanziellen Situation der Städte und Gemeinden. „Wir haben durch ausufernde Sozialgesetzgebung […] eine Kostenexplosion, die wir auch noch nicht kannten“, sagte er in Bezug auf die wachsenden Belastungen durch Sozialgesetze und die steigenden Ausgaben für Flüchtlinge. Die steigenden Sozialkosten bei gleichzeitiger Stagnation der Einnahmen hätten viele Kommunen in eine finanzielle Schieflage gebracht: „Bis vor zwei Jahren waren wir eine prosperierende Stadt – von prosperierend zu Sanierungsfall.“
Die Konsequenzen dieser Entwicklung seien dramatisch, so Palmer. „Das Loch ist momentan 40 Millionen Euro“, schilderte er die angespannte Haushaltslage seiner Stadt und warnte vor den drastischen Maßnahmen, die notwendig wären, um dieses Defizit zu schließen. Um die Finanzlöcher zu stopfen, müsse man entweder die Grundsteuer verdoppeln, Busverbindungen drastisch kürzen, das Theater und ein Hallenbad schließen – Maßnahmen, die die Bevölkerung spürbar treffen würden. Palmer warnte eindringlich vor den politischen Folgen solcher Einschnitte: „Dagegen ist das Lüftchen, was wir mit AfD-Wahlen in Ostdeutschland hatten, bisher wahrscheinlich harmlos.“
Mit seinen Ausführungen machte Palmer deutlich, dass er die momentane Krisenbewältigung der Bundesregierung für unzureichend hält und vor massiven sozialen und politischen Spannungen warnt, sollten die derzeitigen Missstände nicht entschlossen angegangen werden.
Rekapitulieren wir weiter seine Kernaussagen zum „Sicherheitspaket“ der „Ampel“:
- Das „Ampel“-Sicherheitspaket, das am 18. Oktober eingebracht werden soll, irritiert Palmer. „Diese Entwicklung, die verblüfft mich (…), weil ich den Eindruck hatte, dass das kurz nach Solingen doch ziemlich weitgehend unbestritten war, dass das jetzt notwendige Maßnahmen sind. (…) Ich dachte, wir sind jetzt aus dem falschen Anlass auf dem richtigen Weg.“ Palmer weiter: „Dass man jetzt gewissermaßen wieder rückfällig wird und das alles infrage stellt, kann ich schwer verstehen.“
- Palmer haderte lange mit dem Zögern der SPD. Dass schärfere Asylmaßnahmen nun wieder infrage gestellt würden, sei für ihn „sehr schwer zu verstehen“. Die Inhalte des Sicherheitspakets nannte Palmer „vernünftig, pragmatisch, auch gerecht“. Die Regierung sei zuletzt „aus falschem Anlass auf dem richtigen Weg“ gewesen – nun drohe, befürchtet Palmer, ein Rückzieher.
- Über die Zögerlichkeit seiner früheren Partei sagte Palmer: „Die Risiken, die wurden zu lange ausgeblendet, weil man sie nicht wahrhaben wollte.“ Nun müsse „eine Enttäuschung verarbeitet werden, dass manches nicht so gut geworden ist, wie wir’s uns wahrscheinlich alle gewünscht hätten“.
- Palmer erkennt als Muster den „allein reisenden, männlichen Asylbewerber irgendwo zwischen Afghanistan und dem Maghreb … Man weiß, dass die schon oft kriminell geworden sind … Sie werden aber nicht gestoppt und irgendwann kommt das Messer und Menschen sind tot.“ Die Politik habe dies lange geleugnet.
Palmer zur AfD
Palmer argumentiert auch beherzt gegen die von den Parteien inkl. „Grünen“ und Medien hochgerühmte Brandmauer-Ideologie:
- Mit Blick auf die AfD, die in Thüringen mit über 30 Prozent als stärkste Kraft wurde, sinniert Palmer über eine mögliche Zusammenarbeit von CDU und AfD. Sehr zum Missfallen der anderen Gäste. Palmer wörtlich: „Wenn wir das schon seit ein paar Jahren so sagen würden, hätten wir die AfD niemals bei 30 Prozent.“
- Palmer fragt, ob es nicht sinnvoll wäre, „wenn die CDU unter einem Ministerpräsidenten Voigt in Thüringen der AfD Koalitionsgespräche anbieten würde“. RND-Quadbeck sieht umgehend die Demokratie in Gefahr und empfiehlt Palmer die Lektüre von Geschichtsbüchern. Palmer bleibt cool und antwortet, er habe sogar Geschichte studiert. Palmer gibt an Quadbeck zurück: „Ich finde den Vergleich völlig falsch!“ Laut Palmer sei es „ein unhistorischer Vergleich“, da wir „keine SA auf den Straßen“ und auch „keine Weltwirtschaftskrise mit umgerechnet 18 Millionen Arbeitslosen“ haben.
- Palmer weiter: „Es hat auch so was von Totschlagargument, als ob ich jetzt irgendwie den Faschisten den roten Teppich ausrollen wollte, dass die da die Macht übernehmen.“ Und: „Ich bin nicht der Meinung, dass man einfach sagen kann, das sind Nazis und damit hat sich’s … Wenn man die wirklich als Nazis begreift, muss man den Weg des Parteienverbots gehen.“ Wenn man die AfD jedoch nicht verbiete, könne „man nicht immer weiter zugucken, wie sie ein Drittel der Stimmen bekommen, (…) aber wir tun so, als wären sie Rechtsextreme. Das funktioniert doch nicht“.
Fazit: Ausgerechnet der vormalige Vorzeige-„Grüne“ Palmer hat seinen politischen Verstand nicht an der Garderobe eines ZDF-Studios angegeben. Er weiß sehr realistisch, dass die Brandmauer-Strategie das Gegenteil der Intention erreicht: Die „Brandmauer“ stigmatisiert Millionen von vormaligen Wählern von Altparteien zu „Nazis“. Das verfestigt deren Wahlentscheidungen und treibt der AfD weitere Wähler zu. Die „Bauermauer“ entpuppt sich damit als Brandbeschleuniger: Sie entflammt bei vielen Wählern, die sich um dieses Land sowie um bewährte Spielregeln sorgen und die deshalb nicht ausgegrenzt werden wollen, trotzig den Willen, doch AfD zu wählen.