Tichys Einblick
Trend zur „News Avoidance“

Bitte bloß keine Nachrichten

Die wichtigste internationale Studie zur News-Welt hat für die klassischen Marken keine guten Neuigkeiten: Sie entfernen sich immer weiter von ihrem Publikum. Immer mehr Menschen sind sogar so genervt, dass sie den Konsum von Nachrichten einfach verweigern.

„Der große Graben“: Das ist der Titel des 25. Asterix-Buchs, erschienen 1980. So könnte aber auch heute, im Jahr 2024, die Nachrichtenagentur Reuters ihre traditionelle Bestandsaufnahme zum Zustand der Medienwelt überschreiben.

Jedes Jahr veröffentlichen die Wissenschaftler des renommierten Reuters-Instituts an der Universität Oxford ihren sogenannten „Digital News Report“. Die Studie gilt seit langem als vielleicht wichtigste internationale Untersuchung der Nachrichten-Branche. Auch in der aktuellen 13. Ausgabe haben die Forscher wieder eine Unmenge an Daten aus 47 Ländern auf sechs Kontinenten gesammelt und ausgewertet.

Der Bericht konstatiert eine beachtliche Kluft zwischen dem, was das Publikum von Nachrichten erwartet – und dem, was die Nachrichten anbieten. Dieses Missverhältnis hat eine ganze Reihe von Folgen. Die sind zumeist recht unschön, vor allem für die traditionellen, sozusagen „klassischen“ News-Marken.

News-Müdigkeit

Überall beklagen Mediennutzer, dass der schier endlose Strom von immer neuen Nachrichten rund um die Uhr und an jedem Tag des Jahres sie zunehmend erschöpft. Der Anteil dieser News-Müden ist erheblich gestiegen: von weltweit 28 Prozent im Jahr 2019 auf aktuell 39 Prozent.

Bei uns in Deutschland ist das Phänomen besonders stark: plus 15 Prozentpunkte. Etwas weniger ausgeprägt, aber immer noch bedeutend ist der Anstieg in Frankreich (+ 9 Prozentpunkte), in Großbritannien (+ 8 Prozentpunkte) und in den USA (+ 3 Prozentpunkte). Hierbei gibt es keine signifikanten Unterschiede nach Alter oder Bildungsgrad.

Zwar ist es für das Publikum weltweit und quer durch alle demografischen Gruppen hindurch übereinstimmend die wichtigste Aufgabe von Nachrichten, die Menschen auf dem Laufenden zu halten. Aber ebenso übereinstimmend finden die Leser, Zuhörer und Zuschauer weltweit, dass Nachrichten diese Aufgabe schon jetzt eher übererfüllen.

Weit weniger zufrieden ist das Publikum, wenn es um seine anderen wichtigen Bedürfnisse geht: Vor allem die Erwartung nach „mehr Kontext“, nach „ausführlicher Einordnung“ und nach einem „breiten Meinungsspektrum“ wird enttäuscht. Die Reuters-Forscher schreiben dazu:

„Eindeutig würden die Konsumenten es vorziehen, wenn die Nachrichten deutlich weniger häufig aktualisiert – und dafür mehr Kontext und ein breiteres Meinungsspektrum geliefert würden.“

Weil das nicht geschieht, empfinden immer mehr Menschen die Nachrichten als eine Abfolge von Wiederholungen – und langweilen sich dabei.

Zweifel an Unvoreingenommenheit

Die als einseitig empfundene Perspektive führt dazu, dass inzwischen weniger als die Hälfte der Menschen in Europa den Nachrichten in den klassischen Medien vertraut. In Deutschland sind es nur noch 43 Prozent.

In anderen westlichen Ländern ist es ähnlich (Irland, 46 Prozent) oder auch noch schlimmer: Großbritannien (36 Prozent), Österreich (35 Prozent), Frankreich (31 Prozent). Lediglich in den skandinavischen Ländern, in den Niederlanden und in Portugal hat noch eine Mehrheit Vertrauen in die Nachrichten. Doch auch dort sinken die Zahlen.

Vor allem zweifelt das Publikum an der Unvoreingenommenheit der Journalisten. Die aber ist für die überwältigende Mehrheit der Mediennutzer absolut elementar: Nachrichten sollen richtig sein – und ansonsten vor allem fair, offen für alle Themen und unvoreingenommen. Diese Erwartung gibt es bei beiden Geschlechtern und über alle sozialen Schichten und Altersgruppen hinweg.

Die eine Folge dieses galoppierenden Vertrauensschwunds der „klassischen Medien“ ist, dass die Menschen zu anderen Nachrichtenquellen überlaufen, denen sie mehr vertrauen. Besonders die Sozialen Medien werden für das breite Meinungsspektrum und viele verschiedene Sichtweisen gelobt.

Selbst populäre Mode-Influencer oder die Ehefrauen mancher Fußballstars sind vor allem für unzählige junge Leute heute glaubwürdiger als die meisten traditionellen Zeitungsverlage und TV-Sender.

Vertrauen in Kommentatoren

Eine weitere, eher unerwartete Folge ist der Aufschwung von offen „parteiischen“ Kommentatoren. Vor allem im angelsächsischen Raum sind gleich eine ganze Reihe von prominenten politischen Journalisten vom klassischen Fernsehen auf andere Plattformen gewechselt. Dort verbreiten sie jetzt ihre ganz persönliche Weltsicht – ausdrücklich ohne Anspruch auf Neutralität.

Beispiele sind die auf verschiedenen Kanälen und Sozialen Medien inzwischen überaus populären und erfolgreichen Megyn Kelly, Piers Morgan und Tucker Carlson. Letzterer erreichte mit seinem Interview des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf X-früher-Twitter 200 Millionen Aufrufe und auf seinem eigenen YouTube-Kanal nochmal 34 Millionen.

Alle drei Journalisten waren übrigens zuvor von ihren TV-Anstalten gefeuert worden, was auch gewisse Rückschlüsse auf die Weitsicht der Senderverantwortlichen zulässt.

Besonders in den USA sind vor allem rechte Kommentatoren sehr populär: Glenn Beck, Alex Jones, Ben Shapiro und viele andere. Sie bilden ein offen konservatives Gegengewicht zu dem sonstigen, von vielen Menschen als nach außen angeblich neutrales, aber tatsächlich eben doch chronisch linkes Angebot der „klassischen“ Nachrichten-Marken. Die zehn meistgenannten Nachrichten-Persönlichkeiten in den USA sind durchweg Kommentatoren, die in ihren jeweiligen Sendungen klar politisch Position beziehen.

Die Skepsis gegenüber dem News-Geschäft machen sich zunehmend auch Politiker zunutze, indem sie eine Art politischen Direktvertrieb installieren. Um ihre Botschaften ans Volk zu bringen, nehmen sie nicht mehr den Umweg über die klassischen Medien und deren Nachrichtensendungen. Stattdessen bauen sie eine eigene Anhängerschaft in den Sozialen Medien auf. So haben sie jederzeit ungefilterten Zugang zu sehr, sehr vielen Wählern.

Dem TikTok-Kanal von Argentiniens neuem Präsidenten Javier Milei folgen sagenhafte 2,2 Millionen Menschen. Und Indonesiens frisch gewählter Staatschef Prabowo Subianto verdankte seinen Wahlsieg im vergangenen Februar maßgeblich einer Kampagne in den Sozialen Medien: Dort ließ sich der General, der vorher als Hardliner galt, als niedlicher, charmanter und tanzender Großpapa zeichnen – unter Zuhilfenahme von vielen Elementen, die mittels Künstlicher Intelligenz generiert worden waren.

„News Avoidance“

Die dritte und vielleicht wichtigste Folge des Vertrauensverlusts der traditionellen News-Marken ist: Immer mehr Menschen verweigern Nachrichten, teilweise oder auch komplett.

In allen westlichen Industriestaaten (außer Finnland) geht der langfristige Trend weg vom Nachrichten-Konsum. Ein besonders krasses Beispiel ist Großbritannien. In der Heimat der internationalen News-Ikone BBC hat sich das Interesse an Nachrichten von 70 Prozent im Jahr 2015 auf jetzt nur noch 38 Prozent halbiert. Vor allem Frauen und junge Menschen wenden sich immer öfter vom Nachrichtengeschehen ab.

Die Entwicklung bekommt durch die Reaktion der großen sozialen Netzwerke eine zusätzliche Dynamik. In Mark Zuckerbergs Meta-Konzern reihen die Algorithmen bei Facebook und Instagram News schon länger weiter hinten ein. Auch Posts und Kommentare zu politischen Themen werden geringer gewichtet und erscheinen deshalb seltener. Das Unternehmen kappt auch geschäftlich nach und nach die Bindungen zur News-Welt: Mehrere millionenschwere – und für die Branche sehr wichtige – Verträge ließ man auslaufen und hat sie nicht verlängert. In mehreren Ländern wurde auch der Tab „Nachrichten“ abgeschafft.

Publikumsvertreibung

Unterm Strich erfüllen die klassischen Nachrichten-Marken immer weniger die Erwartungen ihrer Kunden.

Vor nicht allzu langer Zeit hat ja der Blogger Tilo Jung auf dem Kongress „Republica“ in Berlin seine Lösung für dieses Problem vorgestellt: Er regte an, das Problem einfach nicht mehr als Problem zu definieren. Wörtlich sagte der 38-jährige Berufsjugendliche: „Journalisten sollen die Leute darüber informieren, was sie wissen sollen – nicht, was sie wissen wollen.“

Oder anders: Was eine relevante Nachricht ist, bestimmen immer noch wir.

Das ist eine denklogisch zumindest mögliche Antwort auf die Frage, wie die traditionellen Medien mit dem massiven Schwund an Lesern, Zuhörern und Zuschauern umgehen könnten. Sie hat freilich einen Nachteil:

Die Klasse der selbstgerechten und das Publikum verachtenden Journalisten, zu der Tilo Jung mit Aussagen wie diesen fraglos gehört, wird in nicht allzu ferner Zukunft kein anderes Publikum mehr haben als sich selbst.

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