Tichys Einblick
Erfrischende Debatte ohne Wahlkampfparolen

Bildungsmisere bei Lanz: TikTok statt Mathe

Kein Wahlkampfsprech, keine Parteiparolen. Bei Markus Lanz diskutieren Menschen aus der Praxis über die Misere des deutschen Bildungssystems. Das ist wohltuend und beängstigend zugleich. Denn die Misere ist groß – und sie hat System. Von Michael Plog

Screenprint: ZDF / Markus Lanz

Es ist schon harter Tobak, zu hören, in welch erbärmlichem Zustand sich das deutsche Bildungssystem befindet. Was normalerweise nur alle drei Jahre im Rahmen der Pisa-Studie kurz durch die Medien geistert, kommt an diesem Abend knüppeldicke. Die vielleicht erschreckendste Zahl nennt Olaf Köller gleich zu Beginn: Drei von zehn Jugendlichen können selbst im Alter von 15 Jahren nicht normal lesen und schreiben. Sie verstehen allerhöchstens primitive Sätze, etwa die Tagesschau in einfacher Sprache. Sie sind nicht über das Niveau eines Grundschülers hinausgekommen. „In absoluten Zahlen sind das 250.000“, sagt der Bildungsforscher der Uni Kiel.

Eine Viertelmillion Menschen also, die jedes Jahr komplett aus dem Bildungssystem herausfallen. Köller kennt den Grund: „40 Prozent am Gymnasium berichten uns, dass die Aufgaben, die bearbeitet werden, nichts mit der Lebenswelt der Schüler zu tun haben. Sie fühlen sich nicht unterstützt, sie fühlen sich nicht motiviert, überhaupt das Denken zu beginnen.“ Na hoppla, war der Film Idiocracy am Ende gar keine Komödie, sondern eine präemptive Dokumentation?

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Die fatale Lebenswelt ihrer Schüler beschreibt Silke Müller, Rektorin aus Niedersachsen. Der Postbank Jugend-Digitalstudie zufolge sei ein Schüler mittlerweile 71,5 Stunden pro Woche online, vor allem in sozialen Netzwerken und auf YouTube. „Das sind zehn Stunden pro Tag!“, stöhnt Lanz und sucht Hilfe bei Köller: „Halten Sie das für möglich?“ Der antwortet trocken: „Wenn man die Schulzeit mitzählt, warum nicht?“

Müller ist Leiterin der Waldschule Hatten und zugleich auch Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen. Sie hat noch mehr Zahlen parat, um den Wahnsinn greifbar zu machen: „Ein Fünftel aller Kinder leidet unter psychologischen Auffälligkeiten“ (Schulbarometer der Robert Bosch Stiftung). 21 Prozent seien einsam und je 30 Prozent hätten bereits belastende Inhalte auf Social Media gesehen oder gar sexuelle Belästigungen erfahren (Copsy-Studie). Das alles wohlgemerkt bis zum 15. Lebensjahr. Und wenn die ICILS-Studie jetzt zeige, „dass Kinder in der achten Klasse zu 40 Prozent nichts anderes können als Wischen auf den Tablets, dann wird mir echt schlecht. Dann frage ich mich, wie reagieren wir im Bildungssystem auf die Not dieser Kinder?“

Das Problem ist Jahrzehnte alt. Und es fällt uns gerade massiv auf die Füße. „Wir wussten, wir müssen mehr tun, und das haben wir versäumt“, sagt Köller. „Die Quittung haben wir mit Pisa 2022 bekommen.“ Aktuell seien die Lehrer „auf die heutige Schülerschaft nicht eingestellt“.

Bob Blume kann der Situation auch Positives abgewinnen. Nach dem staatlich verordneten Corona-Hausarrest etwa seien viele Schüler zurückgekommen und hätten plötzlich sogar besser Englisch gesprochen als ihre eigenen Lehrkräfte. Es gebe also durchaus „ein unheimliches Potenzial, was sich da verbirgt“. Um es zu heben, seien ungewöhnliche Maßnahmen erforderlich. Blume, selbst Lehrer und ARD-Podcaster („Die Schule brennt“), fordert, „dass Lehrkräfte zwei Wochen lang auf TikTok müssen“. Grund: „Wenn man die Lebenswelten verstehen möchte, muss man merken, wie dieser ungeheure Algorithmus einen reinzieht. Aber man kann auch nach einer Stunde schon bemerken, dass man auch Inhalte bekommt, die nicht nur unterhalten, sondern auch durchaus informativ sind.“ Das Schulsystem sei allerdings „nicht dafür ausgelegt, Motivation zu erzeugen“. Blume fragt: „Wie schaffen wir es, Räume zu schaffen, wo Kinder und Jugendliche in gemeinsamer Arbeit die Welt auf eine Weise entdecken, die sie wirklich mitreißt.“

Daran arbeitet auch Steffen Sibler, Leiter einer Grundschule im sozialen Brennpunkt Berlin-Kreuzberg. Eltern seien überfordert, die Nutzung digitaler Medien einzuschränken, sagt er. Und viele würden ihren Kindern auch keine Alternativen vorleben. „Da gibt es im Haushalt kein einziges Buch. Wir haben Kinder, die waren noch nie im Park, im Zoo oder auf dem Fernsehturm. Die können sich gar nicht vorstellen, was man da oben sieht.“ Er hat eine Klasse, die sich nicht einmal selbst zum Sportunterricht umziehen kann. Schon bei der Einschulung seien viele Kinder übergewichtig. „Sie können nicht rückwärts laufen, keinen Purzelbaum schlagen.“ In vielen Familien werde sehr wenig gesprochen, und das Leben der Kinder verlaufe digital. Sogar nachts um 3 Uhr würden unter der Bettdecke noch Nachrichten verschickt. Hinzu kommt: „95 Prozent meiner Schüler sprechen zu Hause eine andere Sprache als Deutsch.“

Es dauert exakt eine Stunde und eine Minute, bis in der Sendung das Thema Migration zur Sprache kommt. „Ehrlicherweise ist 2015 jetzt auch zehn Jahre her“, sagt Silke Müller. „Man hätte mit einer Langzeitprognose wissen müssen, dass viele, viele Kinder, die ins System kommen und möglicherweise auch mit der kulturellen Vielfalt bleiben, Unterstützung brauchen.“ Lanz spitzt es zu: „Wenn Du aus patriarchalen Strukturen kommst, wenn Du aus Familien kommst, in denen Gewalterfahrung, Schläge der Alltag sind – dann hat Schule plötzlich ein Thema, hat es aber nicht verursacht.“ Gewalt an Schulen sei allerdings kein besonders großes Problem, beschwichtigt Köller. „Wir haben 40.000 Schulen in Deutschland und 2000 gemeldete Gewaltfälle im Jahr. Wenn ich das dann hochrechne, dann sind das gar nicht so viele.“ Entscheidend sei zu erkennen: „Wo klumpen diese Probleme? Nicht jede Schule hat diese Herausforderungen. Wie kriegen wir das Personal, was dafür ausgebildet ist, an die Schulen, die es besonders nötig haben?“

Brandbrief als Hilferuf
Berliner Lehrer machen Angst vor Schülergewalt öffentlich
Bob Blume zählt vor: „Wir haben 50.000 Schüler im Jahr, die Schulen ohne Abschluss verlassen und ins Sozialsystem eingehen.“ Er findet es erschreckend, „dass verkannt wird, mit was für einem drastischen Problem wir es zu tun haben. Wir müssen gerade eine Propellermaschine umbauen in einen Düsenjet, während die Tragflächen brennen und die Piloten nichts verstehen. Die Frage ‚Wie wollen wir im 21. Jahrhundert lernen?‘, die findet einfach nicht statt.“

Was die Runde vermisst, ist Verlässlichkeit in der Bildungspolitik. Vielleicht müsse man das System sogar komplett entpolitisieren, überlegt Müller, es von den vier Jahren einer Legislaturperiode entkoppeln und auf eigene Füße stellen. Sibler stimmt mit ein: „Hier ist Kontinuität wichtig. Wir bauen immer wieder Sachen auf, stellen tolle Leute ein, entwickeln tolle Projekte. Die müssen dann aber eben auch erhalten bleiben und sollten nicht unter Finanzvorbehalt stehen.“

Verzicht auf Noten, ja selbst auf sportlichen Wettstreit wie die Bundesjugendspiele – das alles wird in der Sendung nicht angesprochen. Gleichwohl stellt die Runde fest, dass die Schüler auch deshalb weniger Leistung zeigen, weil sie niemand mehr einfordert. „Anstrengung scheint nicht mehr goutiert zu werden“, sagt Lanz. Die Schüler würden „erleben, dass sie mit weniger durchkommen“, stellt Forscher Köller fest. Dabei sei Schule doch „auch dazu da, Dinge zu tun, zu denen sie keine Lust haben“. Lanz: „Wir trauen ihnen nichts zu und wir muten ihnen nichts zu.“

Die Folgen beschreibt Forscher Köller sehr anschaulich: „Wofür ein Gymnasiast 2009 eine Vier bekommen hat, bekommt er heute eine Zwei.“

Um einen Spruch des großen Komikers Heinz Erhardt etwas abzuwandeln: Manche Menschen können glänzen, obwohl sie keinen Schimmer haben.

Anzeige

Die mobile Version verlassen