Tichys Einblick
Bewertung von Zielgruppen

Neuausrichtung: RTL wird das zweite ZDF

Die TV-Branche streitet über die Frage, welche Zielgruppe erstrebenswert sei. Dahinter steckt eine Kapitulation: Eigentlich haben die Fernsehsender die jüngeren Zuschauer aufgegeben. Allen voran RTL.

IMAGO / Marc John

Wer von RTL dessen Einschaltquoten erfahren will, wird auf der Internetseite des Kommunikations-Giganten nicht fündig: In der Führungsleiste bietet ihm der Sender Neues zu Corona an. In der Unterrubrik über den eigenen Konzern stehen Nachrichten wie „Der Stern verstärkt sich an vier wichtigen Positionen“ oder „Spannungsfeld Leben – das Dilemma der jungen Generation“. Viel leichter finden sich die Einschaltquoten von RTL in deren Videotext-Angebot. Was passt. Denn genau wie das lineare Fernsehen scheint Videotext ein überholtes Format zu sein – funktioniert aber noch, was sich über die digitale Transformation nur bedingt sagen lässt.

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Die Einschaltquoten sind ein gutes Beispiel dafür. Im alten, linearen Fernsehen funktionieren sie. Sie stellen Durchschnittswerte dar, wie viele Zuschauer eine Sendung dauerhaft verfolgt haben. Zahlen mit Aussagekraft. Im Internet zählen die Sender indes jeden Klick. Auch wenn sich nur ein Nutzer versehentlich für zwei Sekunden in eine Sendung verirrt hat. So sagen die veröffentlichten Daten zu 21 Minuten langen Sendungen, 90 Minuten langen Filme oder 3 Stunden langen Sportübertragungen nur wenig darüber aus, auf wie viel Interesse diese tatsächlich gestoßen sind. Ob gewollt oder nicht: Die von den Sendern veröffentlichten Daten zum Internetzugriff vernebeln eher deren tatsächliche Reichweite, als sie darzustellen.

Doch an diese Daten gehen die Sender nicht ran. Sie wollen die Darstellung der TV-Quoten verändern. Nicht zum ersten Mal. In den Anfangstagen des Privatfernsehens hatten ARD und ZDF zigmal so viele Zuschauer wie RTL, doch dafür hatten die Luxemburger einen Schlag bei den jungen Menschen. Also erfand dessen Ur-Vater Helmut Thoma die Legende, für die Werbewirtschaft relevant seien nur die Zuschauer zwischen 14 und 49 Jahren. Genau jene Gruppe, in der RTL stark war. Und stark ist. In diesem Segment bleibt RTL vorerst Marktführer.

Der Haken ist nur: Durch den demografischen Wandel schrumpft diese Gruppe. Laut Fachportal Meedia.de stellt sie nur noch 22 Prozent der gesamten Fernsehzuschauer. Theoretisch. Denn eigentlich interessiert sich diese Generation nicht mehr fürs Fernsehen. So schafft es kaum eine Sendung in dieser Gruppe noch auf über eine Million Zuschauer. Meist gelingt das nur der Tagesschau. Aber nur selten dem Marktführer RTL. Und ein Marktführer mit 800.000 Zuschauern als Spitzenwert macht auf die werbetreibende Wirtschaft immer weniger Eindruck.

Also hat RTL zum Jahresbeginn die Devise ausgegeben, ab jetzt sei die Zielgruppe zwischen 14 und 59 Jahren der heilige Gral der TV-Landschaft. An diesem wolle der nun in Köln sitzende Sender gemessen werden. Die Absicht dahinter ist leicht zu erkennen: Diese Zielgruppe stellt 45 Prozent der gesamten Zuschauerschaft, damit verdoppeln sich die Gesamtzahlen automatisch, wie Meedia.de vorrechnet. In dieser Gruppe schafft es gut ein Dutzend Sendungen täglich, die Marke von einer Million Zuschauern zu knacken.

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Doch auch hier gibt es Probleme. Zum einen ist in der erweiterten relevanten Zielgruppe RTL nicht mehr Marktführer. Denn im linearen Fernsehen gilt die Faustregel: Je älter die Zuschauer sind, desto eher bleiben sie vor der ARD und vor allem vorm ZDF hängen, dem Bällebad für Senioren. Zum anderen macht die Pro-Sieben-Sat1-Gruppe bei dem Wechsel nicht mit. Die sind auf die Fixierung auf eine möglichst junge Zielgruppe angewiesen. Denn vor allem Pro Sieben ist in der Gruppe „alle Zuschauer“ längst zum Spartensender geschrumpft. Am Montag brauchte eine Sendung 1,82 Million Zuschauer, um in die Liste der 25 meist gesehenen Sendungen zu kommen. Weder Sat1 noch Pro Sieben waren auch nur einmal in diesem Ranking vertreten – RTL immerhin sechs Mal.

Die Kölner haben bereits angefangen, ihr Programm auf ein älteres Publikum umzustellen: mehr Günther Jauch und Thomas Gottschalk, mehr Krimis und tagsüber Gerichtsshows mit dem Rentner als Zielgruppe, der zwischen dem Anzeigen von Falschparkern ein wenig nach ihn ansprechender Zerstreuung sucht. In der politischen Berichterstattung ist der Sender aus der Bertelsmann-Gruppe längst mindestens so regierungsfromm wie ARD und ZDF. Sodass die Heimat von Tutti Frutti und dem Dschungelcamp immer mehr zu einer Art öffentlich-rechtlichem Fernsehen mit Werbeblöcken verkommt.

Diese Werbeblöcke sind ein weiterer Grund für RTL, die Jungen aufzugeben. Das Internet hat deren Sehgewohnheiten verändert. Sich sieben, acht oder gar zwölf Minuten am Stück Spots anzusehen, ist für diese Generation kaum noch vorstellbar. Deswegen flüchtet RTL zu den älteren Generationen mit mehr Frustrationstoleranz. Damit hat der Sender dann allerdings interessante Karten, wenn er zu potenziellen Kunden geht: Wir sind RTL, ein Kommunikationsgigant. Wir erreichen Menschen mit einem trägen Konsumverhalten. 3 Millionen davon, wenn’s gut läuft. Und ein Großteil von ihnen sind Jugendliche im Alter von 58 Jahren.

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