Walter Sittler ist sowas wie die Zweitbesetzung für Hannes Jaenicke. Er bedient das gleiche Fach im Talkshow-Business: ein Schauspieler, der sich gerne international gibt, obwohl es in Hollywood nur zu Nebenrollen in Schrottfilmen wie Eurotrip gereicht hat. Ansonsten dreht Sittler Meterware für die Öffentlich-Rechtlichen und weil es zu deren Bekehrungstrip passt, betont auch er sein soziales Engagement.
Für Sittler sind die neuen Zeiten schlechte Zeiten. Sein bisheriges Konzept lebte im Wesentlichen von Haltung und Gratismut. Doch der Ukraine-Krieg hat in Deutschland die Fronten verändert. Neue Koalitionen sind entstanden. Auch wenn es (noch) kein Sozialdemokrat zugeben würde, ist ihr Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner zögerlichen Unterstützung der Ukraine näher am Russland-Appeasement der AfD und der Linken, als an seinem grünen Koalitionspartner. Die sind mittlerweile mehr Atlantiker, als es die CDU unter Helmut Kohl je war.
Ansonsten stellt sich schon die Frage, warum sich irgendeiner die Welt von einem Schnulzendarsteller erklären lassen sollte. Allerdings hat Sandra Maischberger auch richtig interessante Gäste eingeladen. Zum Beispiel Jagoda Marinić. Sittler hat gerade gesagt, Deutschland müsse auf die Befindlichkeiten Russlands Rücksicht nehmen. Das Publikum hat applaudiert. Für einen warmen Moment wähnten sich die Zuschauer im sicheren Hafen einer Menge, in der jeder weiß, welche Meinung er zu haben hat.
Doch Marinić zerstört diesen Moment sogleich: „Kann man auch zu schwach sein“, fragt die freie Journalistin. Es gäbe auch eine Eskalation der Rücksichtnahme. Wer sich alles gefallen lasse, der wirke für einen Diktator wie Wladimir Putin schwach – und ermutige ihn dadurch, einen Schritt weiterzugehen, weil es ja keine Gegenwehr gebe. Markus Preiß unterstützt sie. Vor einem Jahr hätte er das Argument der Rücksichtnahme noch gelten lassen, sagt der Leiter des ARD-Studios in Brüssel. Doch mit dem Krieg habe Putin das Argument, den Krieg zu vermeiden, ad absurdum geführt. Sittler darf den Block abbinden und erhält noch eine Chance, den Weisheiten-Onkel zu geben: „Wir wollen doch nichts anderes, als in Frieden zu leben.“ Na ja, für die ARD reicht’s.
Wenigstens zum Thema Corona kann sich Sittler auf eine Einheitsmeinung verlassen. Denkt er zumindest. Wir seien das Land der Rechthaber, sagt der politisierende Schmonzetten-Darsteller und fordert die Maskenpflicht: „Lasst uns doch einfach das mit den Masken machen!“ Einfach. Machen. Nicht nachfragen. Alle sind einer Meinung und er spricht die aus. Lasst doch einfach einem Schauspieler, der sich mit wenig Talent 35 Jahre im Geschäft gehalten hat, sein Geschäftsmodell.
Im Maischberger-Studio ist das anders. Da sitzt das Volk in der schwarzen Einheitsmaske und muss zuhören, wie die Einheitsmeinung allmählich bröckelt: „Die Maskenpflicht hat einen extrem hohen Symbolwert“, sagt Andreas Gassen. Im Sommer Maske zu tragen, verändere weder das Infektionsgeschehen und schon gar nicht die Krankheitsverläufe, findet der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
Dem widerspricht Christina Berndt: „Eins ist klar, die Maske hat geholfen.“ Gerade noch hat sie Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) verteidigt. Es sei aufwendig, die Wirksamkeit der Maßnahmen zu beweisen. Das sei in der Kürze der Zeit nicht möglich. Aber die Maske, die ist wirksam. Warum? Das löst Berndt nicht auf. Sie hat Bio-Chemie studiert, ist die wissenschaftliche Journalistin der Süddeutschen Zeitung und sitzt im Fernsehen. Das muss genügen. An die Wirksamkeit der Maske könne man glauben und sie deshalb einfach tragen. Die Wissenschaft und der Sexklamotten-Nebendarsteller sind sich da bei Maischberger einig. Die neue Zeit bringt neue Koalitionen mit sich.
Auch was aus der Nachricht wird, die Berndt bei Maischberger verkündet: „Die WHO hat sich verrechnet.“ Dabei bezieht sie sich auf eine Geschichte der eigenen Zeitung. Die Süddeutsche hat gemeldet, dass sich die Weltgesundheitsorganisation demnächst korrigieren werde. Die hatte letzte Woche Schweden bestätigt, mit einer niedrigen Übersterblichkeit durch die Pandemie gekommen zu sein und Deutschland mit einer eher schlechten. Doch ausgerechnet bei Schweden soll sich die WHO nach unten und bei Deutschland nach oben verrechnet haben. Die Quelle nennen weder die Süddeutsche in dem Artikel noch Berndt bei Maischberger.
Dann erlebt Maischberger noch den Auftritt eines Nachwuchstalentes: den 79 Jahre alten Wolfgang Schäuble, der sich um die Rolle des weisen alten Staatsmannes bewirbt. Meisterhaft dargestellt wurde diese zuletzt von Altkanzler Helmut Schmidt – gerade in interessanten Gesprächen mit Sandra Maischberger. Sternstunden des deutschen Talk-Business.
Einen Ausschnitt aus diesen Gesprächen zeigt Maischberger. Helmut Schmidt, der 2015 gesagt hat, dass es „Blödsinn“ sei, die Europäische Union auf die Ukraine ausweiten zu wollen. Schäuble sagt, man müsse jedem Land die Entscheidung zugestehen, nach welchen Werten es leben wolle. Hätte er es dabei belassen … Doch das ist Konjunktiv, so wie es die Kanzlerschaft und das Präsidentenamt in Schäubles Biographie geblieben sind.
Schäubles Reaktion auf den Einspieler eines großen Staatsmannes und eines Toten ist reichlich hässlich: Da sei Helmut Schmidt schon sehr alt gewesen, sagt Schäuble, und Schmidt hätte solche Interviews besser gelassen. Von solchen Einschätzungen trennen den 79-Jährigen noch 16 Jahre. Altersdiskriminierung ist immer dumm – sie kann aber auch dümmer sein.
Vor allem aber ist Wolfgang Schäuble tatsächlich noch zu sehr verhaftet in der Politik, um den alten Staatsmann mit Überblick geben zu können. Schmidt hatte gelebt, bevor er diese Rolle ausübte, hatte sich unter anderem bei der „Zeit“ probiert. Als er Maischberger die spannenden Interviews gab, hatte er Distanz zur Politik und konnte sie entsprechend gut bewerten. Auch war er bereit – wenn auch ungern –, eigene Fehler einzuräumen.
Nun ist Schäuble fraglos ein kluger Kopf. Aber von der Russland-Politik bis zu den Corona-Maßnahmen gibt es kein Thema, an dem er keine Verantwortung trägt. Dass Angela Merkel die CDU entkernen und das Land in eine historische Krise führen konnte, war auch möglich, weil er geholfen hat, die Partei hinter ihr auf Kurs zu halten. Er wolle in der Opposition die Lösung dieser Probleme kritisch begleiten, sagt Schäuble und nicht darüber reden, wie es so weit gekommen ist. Das lässt sich als bequem betrachten, weil es Schäuble erspart, Verantwortung für Fehler zu übernehmen. Er sagt, es wäre Rechthaberei, über Fehler zu sprechen. Da ist er dann ganz bei Walter Sittler. Die Zeit bringt merkwürdige Koalitionen mit sich.