Tichys Einblick
Das Grundgesetz ist zum Austricksen da

Palmer bei Maischberger: Egal, ob das Verfassungsgericht die Impfpflicht kippt – bis zum Urteil wären eh alle geimpft

Bei Maischberger startet man voll durch ins neue Jahr: Von Djokovic bis zu den Spaziergängern – der Zuschauer erfährt, wen er doof zu finden hat. Dann gibt's da noch die Sache mit dem Grundgesetz – aber Boris Palmer klärt auch hier auf.

Screenshot ARD: Maischberger

Die Redaktion von Maischberger hat ihre Winterpause offensichtlich genutzt, um sich auszuruhen und nun fit und munter ins Geschäft zu starten. Die gestrige Sendung war eine gute – zumindest geschickt eingefädelt. Alles hätte super laufen können, wenn die Trottel vor der Kamera sich an das Skript gehalten hätten, aber dazu später. Im Fokus der gestrigen Sendung stand natürlich Corona: mit einer Impfpflicht-Debatte ins neue Jahr. Ein super Timing eigentlich: Spätestens jetzt haben doch die allermeisten schon ihre Neujahrsvorsätze gebrochen und werden – ganz schuldbewusst – noch viel empfänglicher für Moralpredigten.

Gleich zu Anfang hat Maischberger Kollegen aus der Journalistenzunft bei sich. Die zerreißen sich den Mund über den ungeimpften Tennisspieler Djokovic und darüber, weshalb er und sein verrückter Vater, der seinen Sohn mit Jesus vergleicht, die Verlierer der Woche seien.

Ein wunderbarer Einstieg, um auf die böse neue Variante zu sprechen zu kommen, die Maischberger immer wieder „Ommokron“ nennt. Helene Bubrowski von der FAZ ist sichtlich beunruhigt. Ihr sind Fälle bekannt, bei denen Infizierte (halten Sie sich bitte fest oder setzen Sie sich hin, die Schilderungen sind furchtbar) „zwei, drei Wochen im Bett liegen“! Und das waren, so betont sie, „gesunde, junge Menschen“. Nicht nur, was die neue Variante angeht, wird den Zuschauern für 2022 der Kopf gerade gerückt, bevor sie wegschalten. Auch was gewisse Spaziergänge angeht: So wird man aufgeklärt, was man von Leuten zu halten hat, die „mit Nazis laufen“ – nämlich gar nichts.

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Nach diesem Einstand wird zum nächsten Tagesordnungspunkt übergeleitet: der wissenschaftlichen Perspektive. Und da die Wissenschaft mit ihren Zahlen und alternativlosen Fakten ja immer nur eine Wahrheit zulässt, wurde hierfür auch nur eine Vertreterin eingeladen: die Virologin Prof. Helga Rübsamen-Schaeff. Sie gibt die meiste Zeit genau die Antworten, die man hören will; der Wortwechsel verläuft schnell, so als wären beide darauf vorbereitet worden. An einer Stelle erklärt sie, dass die Technologie zwar vor der Verimpfung noch nicht an einer breiten Masse, dafür aber an Krebspatienten getestet wurde. So, als könnte man es vergleichen, ob man schwerkranke Menschen behandelt oder gesunde Menschen präventiv den gleichen Dingen aussetzt. Die Forderung nach der Impfpflicht befürwortet sie, allerdings betont sie dabei, dass sie die Impfung kaum als Mittel gegen Infektionen sieht. Aber: „Schützt vor schwerer Krankheit, schützt vor Tod.“  – Also im Prinzip nur reiner Selbstschutz. Und warum dann eine Pflicht? Egal.

Nun kommt der Höhepunkt der Sendung: die Diskussion zwischen Linda Teuteberg, (FDP-Bundestagsabgeordnete) und Boris Palmer (Grüner Oberbürgermeister von Tübingen). Frau Teuteberg darf als erste, sie sagt: „Ich bin selbst dreimal geimpft, aber das hat mir nicht den Sinn für Verhältnismäßigkeit und unser Grundgesetz verstellt.“ Sie betont, dass man „nicht alles, was man für sich selbst als vernünftig, als erstrebenswert ansieht, auch insbesondere mit einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, anderen vorschreiben kann.“

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Dann darf Palmer ran. Er ist völlig anderer Meinung: „Wir haben alles getan“; wenn Argumente nicht mehr ziehen würden, müssen Maßnahmen ergriffen werden. Damit hat er scheinbar auch gar kein Problem, denn: „Für mich sind Pflichten etwas Positives.“ Er gibt sich differenziert – immerhin will er die Impfpflicht ja auch nur für die Risikogruppe ab 60. Und eine Perfektion in der Quote strebt er gar nicht an. Maischberger deutet an, dass das Bundesverfassungsgericht die Impfpflicht direkt wieder kassieren könnte, darauf erwidert Palmer völlig abgebrüht: „Wenn es das in einem halben Jahr täte, wären alle geimpft, hätte ich als Praktiker auch kein Problem.“ Ein grandioses Argument: verfassungswidrige Maßnahmen? Völlig egal, solange die Richter beim Urteil bummeln. Hinterher ist ja eh egal.

Auch das Argument, die Impfpflicht belaste zuerst die, die sich die Bußgelder nicht leisten können, lässt er nicht zu sich durchdringen: „Wenn die Leute wüssten, das kostet 5000 Euro, ungeimpft zu sein, dann hätten wir 98 Prozent Impfquote, und die übrigen 2 Prozent können wir uns in Ruhe drum kümmern.“

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Und was ist mit dem Vertrauensverlust bei den Bürgern, der entsteht, wenn die Politiker nach der Wahl nicht halten, was sie vor der Wahl versprochen haben? Palmer zitiert Adenauer: „Was geht mich mein Geschwätz von gestern an?“ Doch selbst die halb belustigte, halb geschockte Reaktion – nicht nur von Frau Teuteberg, sondern sogar auch von Frau Maischberger – halten ihn nicht auf. Er wiederholt das gleich mehrmals, vielleicht um zu betonen, dass er sich nicht versprochen hat. Er steht zu seinem Wort, dass Politiker nicht zu ihrem Wort stehen, und das findet er nicht nur normal, sondern auch total super, wie es scheint. Und deshalb legt er noch eine Schippe drauf: „Wenn Sie Adenauer nicht überzeugt – Angela Merkel, die wir jetzt alle hoch ehren, hat ’nen Wahlkampf gemacht, wo sie sagt: niemals die Mehrwertsteuer erhöhen, und der Kompromiss zwischen 16 und 17 war dann 19 Prozent. Ist ja auch nicht ganz vergessen. Das passiert doch so oft in der Politik, dass man Auffassungen ändern muss, und die Leute wissen das auch.“

Tja, klar wissen die Leute das auch – und dann stellen sich die Herrschaften aus der Politik hin und können sich nicht erklären, weshalb so viele Leute das Vertrauen verlieren und auf die Straße gehen. Aber hey: Wenn man die Leute austrickst, die das wissen und trotzdem drauf reinfallen, sind sie doch selbst schuld, oder? Wozu noch ehrlich sein und seine Pflicht tun? Pflichten sind zum Verhängen da, und Ehrlichkeit macht so blöd berechenbar. Wer seinen Blinker benutzt, verrät doch nur seinem Konkurrenten, wo man als Nächstes hinfährt.

Ich finde es zwar in erster Linie immer beängstigend, wenn Politiker sich so selbstverständlich derartige Ausfälle leisten, aber mittlerweile finde ich, dass man dem auch zumindest eine positive Sache abgewinnen kann. Palmer war noch vor einem Jahr ganz ruhig in Interviews. Und auch Söder hatte mal bessere Jahre, Herr Tschentscher hatte bestimmt auch mal Haare, und von einem Wüst hatte ich bis vor Kurzem noch nie etwas gehört. Das ist neu.

Doch auf was weist die demonstrative Aggressivität hin? Nehmen wir mal Kim Jong-un, nur mal hypothetisch, ohne dass ich mich eines streng verbotenen unangemessenen Vergleichs schuldig machen wollte: Aber strahlt Kim etwa Stärke aus, wenn er seinen Bürgern verbietet, von unvollendeten Gebäuden zu sprechen?
Menschen, die sich selbst nicht unter Kontrolle haben, verlieren sie auch ansonsten. Und ein Löwe muss seinen Untertanen nicht täglich klar machen, dass er ein Löwe ist.

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