Es gibt auch in Braunschweig jetzt diese neue Mode, Sachen die man nicht mehr braucht, nicht einfach weg zu tun, sondern an die Straße zu stellen, in der Hoffnung, jemand anders hat noch Spaß an etwas, dessen man längst überdrüssig geworden ist. Entschuldigung, aber daran musste ich denken, als ich mich auf die Maischberger-Talkshow vorbereitete und hörte, dass Horst Seehofer zu Gast sein soll.
Als nächstes fiel mir ein, dass einige Bürger unseren Bundesinnenminister für einen zahnlosen Tiger halten. Ich war mal vor vielen Jahren in Berlin in einem Zoo, der wohl früher zur DDR gehört hatte. So freundlich weiträumig das Außengelände dort war, so traurig war dieses enge Raubtierhaus mit so dicken Stäben, das man die gittermüden Geschöpfe dahinter kaum sehen konnte. Aber auch dieses Bild missglückt hier, denn unser Bundesinnenminister hat selbstredend kein einziges echtes politisches Tiger-Gen. Hatte er übrigens nie. Da sitzt nunmehr ein trauriges weißes Kaninchen im Regierungskäfig und wartet auf die sedierenden Streicheleinheiten der Dompteuse im Hosenanzug. So geht Regierungspolitik in Deutschland 2020.
Ob nun Spezi von Seehofer oder nicht, Kohn jedenfalls ist Verfasser einer 83-seitigen Studie, die dem Bundesinnenminister nicht recht gefallen wollte, weil nicht sein kann, dass ein Experte in seinem Haus die Arbeit dieses Hauses und anderer Häuser der Bundesregierung in der Corona-Krise als Katastrophe schilderte und dringend angeraten hatte, die meisten der staatlichen Maßnahmen unverzüglich auszusetzen – TE hatte diese innerbetriebliche Dokumentation des Scheiterns der Bundesregierung quasi von den Pflastersteinen vor der Berliner Tür Alt-Moabit 140 aufgehoben, wo sie jemand abgelegt hatte, der eben befand, dass dieses Papier nicht einfach stillschweigend in den Reißwolf gehört, nur weil es Seehofer möglicherweise nicht gefallen hat, dass seine innenministeriale Arbeit als nicht weniger als ein menschengefährdendes Desaster bezeichnet wurde.
Neben dem Minister mit dabei der ehemalige Moderator Ulrich Wickert, die Ressortleiterin „Wissen“ bei der Welt, Pia Heinemann und der u.a. als Stimmenimitator von Gerhard Schröder – oder Willy Brandt? – bekannt gewordene Komiker Mathias Richling.
Und um das Maß voll zu machen, darf auch noch Annalena Baerbock – unter Robert Habeck zweiter Teil der Parteispitze der Grünen – ihren Senf dazu geben. Katrin Göring-Eckardt, Altgrüne und heimliche Souffleuse der Baerbock, hatte im Vorfeld der Welt ein Interview gegeben und für eine Beibehaltung der Einschränkungen geworben ebenso, wie sie eindringlich vor einer zweiten Corona-Welle warnte, die ihrer Auffassung nach schon bald kommen würde. Göring-Eckardt hat also die Linie vorgegeben in Sachen Corona – denn darüber wird natürlich bei Maischberger gesprochen wie zuvor in allen anderen Talkshows seit vielen Wochen. Covid-19 ist das Brandzeichen von Sendungen, zu denen der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag praktisch nicht mehr eingeladen wird. Die AfD darf nicht, dafür machen die Öffentlich-Rechtlichen Werbung für die sich im Sinkflug langsam wieder Richtung Einstelligkeit bewegenden Grünen.
Derweil probiert sich noch Caren Mioska als Komikerin, wenn sie erzählt, bei Maischberger wäre Seehofer zu Gast, „heute besonders spannend“. Ja, so kündigt vielleicht ein abgehalfterter Zirkus auf der Überlandtour seinen alternden Tiger an. Oder so zaubern dann eben die Tagesthemen das alte weiße Kaninchen aus dem Hut.
Wickert weiß nicht viel vom Heute, Heinemann weiß immerhin, was es heute zu wissen geben soll und was bloß nicht und Richling spielt überraschenderweise den Störer, den vermeintlichen Verschwörer. Das allerdings macht er recht eindrucksvoll, wenn er beispielsweise davon spricht, dass die Wirtschaft ermordet wird oder wenn er Gänsefüßchen setzt, wo es ihm um die vermeintliche Wissenschaftlichkeit des Robert-Koch-Instituts geht.
Horst Seehofer darf Platz nehmen, wo letzte Woche Kollege Altmaier sein Socken-Gate hatte, als man die Sitzprobe vor der Sendung vergessen hatte und bloße Beine blitzten.
„Ich würde daraus noch keine Gefahr für unsere demokratische Stabilität ableiten“, so der Bundesminister des Innern auf die Frage nach Radikalen auf den Demos. „Es ist unzweifelhaft ein gefährliches aggressives Virus“, fasst Horst Seehofer anschließend seinen aktuellen Wissenstand zusammen.
Es gäbe ein eisernen Gesetz, so Seehofer weiter, das lautet: „Die Quelle identifizieren und die Infektionskette unterbrechen.“ Diese Strategie hätte in Deutschland zum großen Erfolg der Eindämmung geführt. „In einer Seuchenbekämpfung ist das ein Riesenerfolg.“
Das allerdings ist leider falsch. Denn zunächst einmal hat der Mitarbeiter doch wohl den Eindruck erweckt, dass er als Experte mehr weiß als der Minister und mit seiner Untersuchung dessen Arbeit maximal kritisiert.
Was muss man dazu mehr wissen, als nun die bei TE veröffentlichte Studie zu lesen, um sich selbst ein Bild zu machen? Seehofer betont, er vertrete die Position im Papier nicht. Aber das wäre auch ein Wunder, wenn er die vernichtende Kritik an seiner und der Arbeit der Bundesregierung teilen würde. Soviel Unterwürfigkeit wäre selbst dem Seehofer von 2020 kaum zuzutrauen.
Maischberger lässt zunächst nicht locker: „Muss man denn nicht wenigstens das Argument ernst nehmen?“ Antwort Seehofer: „Mein Arzt hat mir ganz am Anfang der Epidemie in Deutschland gesagt: Wir wissen noch zu wenig.“ Wie bitte? Was will uns der Bundesminister mit diesem Ausflug in sein Leibarzt-Wartezimmer sagen?
Seehofer betont dann seine Aufgabe als Verfassungsminister. Er wisse schon genau abzuwägen zwischen Beschränkung der Freiheitsrechte und Schutz der Bevölkerung. Aber möglicherweise auch viel zu viele Aufgaben für einen offensichtlich sehr Erschöpften? Maischberger erinnert ihn an das maximale Schreckensszenario aus seinem Haus, das vor nicht allzu langer Zeit von einer Million Toten gesprochen hätte. Die Moderatorin will nun wissen, ob er sich nicht doch an der maximal negativen Sicht orientiert hätte. Seehofer sagt, dass Experten der Meinung waren, dass ohne staatliches Handeln eine Million Menschen gestorben wären. Mathias Richling verzieht dazu das Gesicht. Mehr ist nicht drin, denn dazwischenrufen darf er hier nicht ins Einzelinterview und auch später nicht darüber reden, erklärt ihm Maischberger, das wäre eine Regel der Sendung. Wie bitte? Strukturelle Disput-Unterbindung?
Seehofer plaudert darüber, wie zufällig und von welchem Hüh und Hott eigentlich politisch so gravierende Entscheidungen begleitet wurden, wie die Schließung der Schulen und Kindergärten. Tatsächlich war es am Ende ein Anruf des Robert-Koch-Institutes bei einer Frau in einem Institut in den USA, wo neue Erkenntnisse dafür gesorgt hätten, nun doch Schulen und Kindergärten zu schließen, was eigentlich noch Stunden zuvor nicht getan werden sollte.
Und so ein Chaos will Seehofer tatsächlich der bei TE erstveröffentlichten Studie eines mittlerweile beurlaubten Experten für solche Studien aus seinem Hause entgegenhalten?
Es wird emotional: Und wir wollen es jetzt mit aller gebotenen Anteilnahme am Mitmenschen erzählen, wenn auch mit einiger Verwunderung: Die Augen Seehofers füllen sich nämlich sichtbar mit Tränen, als er von einer vor vielen Jahren knapp überlebten Virusinfektion erzählt. Also nach dem Besuch beim Hausarzt nun direkt ans Krankenbett Seehofers bis hin zu der Information, dass sein Herz nur noch eine Pumpleistung von sieben Prozent gehabt hätte.
OK, das mag für viele interessant sein, gehört aber viel eher in die Autobiografie des Ministers a. D. und hat hier in der aktuellen Stunde wirklich nichts verloren. Wenn diese persönliche Erfahrung Entscheidungen in Sachen Covid-19 beeinflusst haben, wie der Minister eingesteht (er sei deshalb für Strenge und Kompromisslosigkeit bei der Bekämpfung), dann ist das viel mehr verstörend als irgendwie hilfreich oder gar beruhigend.
Davor wollen wir uns wegducken und das noch ausstehende Gespräch mit Annalena Baerbock ebenso, wie die Nachlese der drei am Tresen einfach wegschalten. Fazit: Positiv überrascht hat der kritische Mathias Richling, ambivalent war es bei Maischberger, die sich zunächst journalistisch unsauber verhalten hat, als sie TE als Quelle vergaß, dann aber Seehofer drängend genug befragte und dabei noch charmant blieb. Sollte also von Frau Baerbock noch etwas Maßgebliches gekommen sein, mögen Sie das als Kommentar bitte gerne nachtragen. Danke.